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»Jetzt klär uns auf. Was rechtfertigt es, dass wir unbedingt herkommen mussten? Inwieweit soll das eine Chance für Marlon darstellen?«, verlor Josephina keine Sekunde. Marlon riss die Augen auf und sah zum ersten Mal wirklich wach aus. Er hatte noch weniger Ahnung davon, was vor sich ging, als seine Großmutter.

»Bitte setz' dich«, sagte Nicolas. Stur blieb Josephina neben Marlon stehen. Nicolas zuckte nur mit den Schultern. »Also dann ... besser, wir verlieren keine weitere Zeit. Wir haben euch einiges mitzuteilen. Darüber, was in der letzten Zeit vorgefallen ist – teilweise direkt vor eurer Nase. Und ohne eure Kenntnisnahme.«

Und dann näherte sich dieser wummernde Herzschlag wieder dem Raum. Diesmal war Melissa deutlich gesättigter, als bei ihrer Ankunft hier im Haus, und ertrug das Geräusch leichter. Doch die Abscheu, die sie umgehend verspürte, wurde sie nicht los.

Tara führte das blonde Mädchen die Treppe hinab, es war unverkennbar, dass diese lieber in jede andere Richtung davongerannt wäre. »Lia möchte euch etwas sagen.« Zuckersüß erklang Taras Stimme, mit einer Spur Gift, das sich beharrlich durch den Raum fraß.

Lia lief die Treppe hinab, als würde sie zu ihrer eigenen Hinrichtung geführt. Der alten Dame konnte sie nicht ins Gesicht sehen. Und in Marlons Richtung wendete sie nicht ein einziges Mal den Kopf.

Erst als Lia den Treppenabsatz erreicht hatte, musterte sie mit größtem Interesse Josephinas Schuhe und ließ widerwillig ihren Blick an der alten Frau hinaufwandern. Melissa hörte, wie sich das Wummern noch einmal schlagartig beschleunigte.

Nicolas hatte sich nicht geirrt. Lia und Josi bildeten kein Team.

»Bitte, ich habe ...« Lia machte einen Schritt auf Josi zu, doch Tara ließ das Mädchen nicht aussprechen, sondern schubste es unsanft auf einen der Küchenstühle. »Du sprichst, wenn du gefragt wirst. Und du bewegst dich nirgends ohne Aufforderung hin.« Protestlos senkte Lia den Kopf und schwieg.

»Was soll das?«, fragte Josephina harsch.

»Nur eine Sicherheitsmaßnahme. Erst zuhören, dann urteilen.« Nicolas Stimme klang härter, als Melissa erwartet hätte. Was plante er?

Mit einer schnellen Bewegung griff Nicolas in seine Hosentasche, zog seine Hand wieder hervor und ließ etwas auf den Couchtisch vor Marlon fallen. Alle Augen im Raum lagen auf den spitzkantigen Gegenständen. Abwartend sah Nicolas zwischen Josi und Marlon hin und her.

»Bersteinsplitter? Was willst du uns damit sagen?« Josis Ungeduld wuchs wahrnehmbar.

»Das sollte Lia euch erzählen.«

Irritiert sah Josi das blonde Mädchen an, die jedoch weiterhin den Kopf gesenkt hielt und die Lippen fest zusammenpresste.

»Hat auch keiner dran geglaubt.« Ein humorloses Lächeln verzog Nicolas Gesicht. »Dabei war sie sonst so gesprächig. Bleibt uns offenbar nichts anderes übrig, als diese Aufgabe zu übernehmen. Melissa, möchtest du erzählen, was Lia dir anvertraut hat?«

Melissa erstarrte. DAS hatte Nicolas vor? Das konnte nicht sein Ernst sein. Warum wollte er das Marlon antun? Der Zauberer hatte ihm nichts getan. Warum legte Nicolas plötzlich diese Grausamkeit an den Tag? Sie spürte, wie ihre Unterlippe bebte.

»Melissa!« Seine Stimme klang plötzlich sanft und vibrierte wohltuend in ihren Ohren. Sie stand komplett im Gegensatz zu dem, was er von ihr verlangte.

»Nein ...« Schmerzerfüllt sah sie auf Marlon, der wieder mit geschlossenen Augen auf dem Sofa hing und schleppend atmete.

»Melissa!«

Sie konnte es nicht tun. Fast lautlos, nur für Vampirohren bestimmt flüsterte sie: »Es wird ihn zerstören.« Sie wusste, es war nicht ihr Verschulden. Es war Lia, die Marlon schlimme Dinge angetan hatte. Und Lias Taten waren es, die ihm obendrauf das Herz brechen würden. Warum fühlte Melissa sich dann so schuldig? »Bitte, tu ihm das nicht an.«

Nicolas trat dicht an sie heran, sodass sie seine Brust an ihrer Schulter spürte. Leise flüsterte er in ihr Ohr: »Es wird ihm die Chance geben, zu heilen. Du musst es ihm sagen.« Noch einmal wanderte ihr Blick panisch zwischen Marlon, Josi und Lia hin und her. Dann nickte sie.

Sie wiederholte alles, was Lia im Wald preisgegeben hatte und ergänzte den Bericht mit ihren eigenen Erlebnissen. Marlon hörte schweigend zu. Zumindest hoffte Melissa das – immer wieder fielen dem Zauberer die Augen zu.

Doch Josi wurde immer blasser. »Ich hätte es wissen müssen.«, unterbrach die alte Dame erschüttert den Bericht. »Ich bin bereits davon ausgegangen, dass alles hat etwas mit seinen Kräften zu tun. Aber ich hätte nie geglaubt, dass Lia ...«

»Weil du es nicht sehen wolltest.«, sagte Nicolas kühl. Josi erwiderte nichts.

»Nicolas, bitte ...«, flehte Melissa. Es war nicht die richtige Zeit für Vorwürfe. Das sah auch Nicolas ein und schwieg.

Es fiel Melissa unendlich schwer, doch sie musste auch über Adams Schicksal aufklären und hierbei reagierte Marlon endlich deutlich. Er riss die Augen auf und starrte auf Lia. Melissas eigener Schmerz aufgrund von Lias Verrat war nichts im Vergleich zu dem in Marlons Augen. Lia hatte sie alle getäuscht, aber Marlon traf es am härtesten. Er ließ den Blick sinken und starrte apathisch auf den Tisch vor sich. Es gab nichts mehr, was Melissa ihrem Bericht hinzufügen konnte. Selbst Josi schwieg. Am liebsten hätte Melissa alles zurückgenommen, nur um Marlon diese Qual zu ersparen. Sie wusste, wie es sich anfühlte – am Tiefpunkt, – da wo alle geliebten Menschen einen verlassen hatten. Aber es war die Lüge gewesen, die Marlon an den Rand des Todes gebracht hatte, nicht die Wahrheit.

Kurz sah Melissa zu Lia, die noch immer teilnahmslos auf die Tischplatte vor sich starrte, ohne sich zu rühren. Kein Funken von Reue stand in ihrem Gesicht. In Melissa brodelte es. Wie konnte das Mädchen es wagen, so unschuldig dazusitzen und ... Melissa beugte sich vor, ihr ganzer Körper spannte sich an. Hass schnürte ihr die Kehle zu. Sie hatte kein Wort gesagt und dennoch huschten Lias Augen plötzlich in ihre Richtung, als hätte diese die Gefahr gespürt. Das Mädchen erbleichte. Melissa spürte kaum, wie sie einen Schritt vorwärts trat. Sie war nicht hungrig – nur unglaublich wütend.

Eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter. »Nein. Sie ist es nicht wert.« Liebevoll nahm Nicolas sie in die Arme und ihr Geist klärte sich. »Lia wird ihre Strafe bekommen. Jetzt müssen wir uns um Marlon kümmern.« Noch einige Male atmete Melissa tief ein, dann ließ Nicolas sie los.

»Seid ihr absolut sicher? Ich ... ich meine wegen A ...« Marlon schaffte es nicht, den Namen seines besten Freundes herauszubringen.

Nicolas nickte. »Ja. Da war nichts im weiten Umkreis, was nicht brannte. Ganz egal, wohin Melissa Adam auch gezogen hatte, der Ort stand in Flammen.«

Erst jetzt begannen die Tränen über Marlons Wangen zu rollen. Die Erkenntnis, was Lia mit ihm gemacht hatte, dass es für ihn selbst keine Hilfe mehr gab, hatte der Zauberer regungslos hingenommen. Aber Adams Tod ließ ihn zusammenbrechen.

»Könnt ihr sie fortbringen?« Merkwürdig rau und müde klang Marlons Stimme, als wenn ihn jetzt auch noch die letzte Kraft verließe. »Ich möchte sie nie wieder sehen.«

Wortlos ergriff Tara Lias Arm und brachte sie zurück in Richtung des Zimmers oberhalb der Treppe.

Der Zauberer sah derart gebrochen aus, dass Melissa nicht anders konnte. In einer fließenden Bewegung näherte sie sich ihm, ließ sich neben ihn auf die Couch sinken und zog ihn behutsam in die Arme. Er ließ es widerstandslos geschehen. Sie hoffte, er tat es nicht nur, weil er kaum noch Kraft hatte, sich selbst aufrecht zu halten.

»Danke«, hauchte Marlon, als Lia durch die Tür verschwand. »Ohne euch hätte ich nie herausgefunden, wer sie wirklich ist.«

Melissa schluckte, so schmerzhaft klangen seine Worte. Es fiel ihr schwer, selbst die Tränen zurückzuhalten. Als sie aus den Augenwinkel ein schwaches Glimmen wahrnah, wendete Melissa verwundert den Kopf. Immer heller wurde der Schein, bis es den gesamten Raum erleuchtete und alle Augen die strahlenden Bernsteinstücke, die vor Marlon auf dem Tisch lagen, bestaunten. Wie eine leuchtende Kugel umhüllte das Licht die Bruchstücke, gewann weiter an Kraft und pulsierte rhythmisch.

Die Energie aus dem Zauber – sie war nicht verschwunden.

Ein tiefes, kaum hörbares Brummen erfüllte die Luft und tanzende Strahlen breiteten sich von der Kugel aus. Von einem intensiven Orange durchzogen, fluteten sie durch den Raum und bewegten sich wie tastende Finger auf Marlon zu. Sie suchten, fanden ihn schließlich, umschmeichelten ihn, um ihn dann mit sanfter Kraft zu umhüllen. Die Strahlen hatten etwas Eigenes, fast Bewusstes an sich. Marlons Körper schien zu vibrieren, seine Muskeln spannten sich an, jede Zelle schien von der magischen Energie durchflutet zu werden, als ob er von innen heraus leuchtete. Seine Augen funkelten, seine Haltung wurde sicherer, seine Bewegungen kraftvoller. Die Strahlen zogen sich langsam zurück, doch ein schimmernder Schleier aus Licht legte sich um Marlon und sein Blick strahlte mit einer neuen Intensität. Als schließlich auch dieses Glimmen erlosch, war nichts mehr übrig von der kranken, kraftlosen Erscheinung, die der Zauberer zuvor abgegeben hatte. Und auf dem Tisch lag ein makelloser, faustgroßer Bernstein.

Jetzt war es Josi, die auf Marlon zustürmte und ihn in ihre Arme riss. Fest presste sie ihren Enkel an sich und ihre Erleichterung war ihr ins Gesicht geschrieben. Dicke Tränen kullerten über die Wangen der alten Dame. Melissa konnte ein kleines Grinsen nicht unterdrücken, als sie sah, wie der Zauberer errötete.

»Woher hast du es gewusst?«, rief Josi Nicolas entgegen, ihre Stimme irgendwo zwischen Fassungslosigkeit und schierer Euphorie – kein Quäntchen Hass, keine Verachtung, wie sonst, wenn sie mit den Vampiren sprach. Nur heillose Freude über Marlons Genesung.

»Sagen wir, ich hatte eine Menge Zeit zum Nachdenken in den letzten Tagen. Und schließlich waren es deine eigenen Worte, die mich auf die Spur gebracht hatten.«

Verständnislos zog Josephina die Augenbrauen in die Höhe.

»Du hast uns gesagt, der Zauber kann sich auf die Rettung von jedem Beteiligten beziehen. Melissa und ich, wir haben uns auf jede erdenkliche Art gerettet, mehr als es irgendeine Magie verlangen könnte. Doch niemand kam auf die Idee, dass Marlon derjenige sein könnte, der Rettung bedurfte. Er war genauso am Zauber beteiligt, wie wir beide. Er hat ihn gesprochen. Und er war es, der in Gefahr war, solange Lia an seiner Seite stand.« Nachdenklich nahm Nicolas den von der Magie zusammengefügten Bernstein in die Hand und betrachtete ihn aufmerksam. »Die Magie hat alles getan, um die Rettung zu vollenden. Sie hat mich und Melissa aneinandergebunden, solange es sein musste, und löste dieses Band, als es nicht mehr von Nöten war. Aber ihr Ziel blieb immer das Gleiche. Marlons Rettung.«

»Jetzt erklärt mir schon ein Blutsauger, wie die Magie funktioniert«, grummelte Josi, doch ihr Versuch, Nicolas böse anzustarren, scheiterte kläglich und ein breites Grinsen stahl sich auf ihre Miene. Kurz glaubte Melissa, die alte Dame würde dem großen Vampir jeden Moment um den Hals fallen.

Abrupt wendete Marlons Großmutter sich um und eilte in die Garderobe. Länger als es nötig gewesen wäre, schälte sie sich aus ihrer Jacke und Melissa grinste innerlich über Josephinas Verlegenheit. Als Josi zurückkehrte, hatte sie ihr Gesicht wieder unter Kontrolle. Weit streckte sie Nicolas die Hand entgegen. Der große Vampir griff nur zögernd danach, als hätte er bedenken, dass die alte Frau ihm die Finger abfackeln wollte.

»Ich muss mich bei dir ... bei euch ... entschuldigen. Ich habe euch zu unrecht angeklagt. Was ihr für Marlon getan habt, kann ich nie wieder gutmachen. Es tut mir leid – und danke.«

Melissa riss die Augenbrauen hoch. Sie hatte mit Vielem gerechnet. Sie war durch schlimmste Tiefen und größtes Glück gegangen. Und gerade eben war sie Zeugin eines Wunders geworden. Aber das hier ... vermutlich hatte sie niemals etwas mehr überrascht.

Nicolas schenkte Josi ein warmes Lächeln, das diese erwiderte.


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