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Nur war dort keine Melissa.

Hektisch drehte er sich um seine eigene Achse. Wo war sie? Er hatte keinen Zweifel, dass er sich an der richtigen Stelle befand. Genau hier hatte er sie zurückgelassen. Die Angler waren an einem ganz anderen Ort aufgetaucht, es war unwahrscheinlich, dass sie Melissa über den Weg gelaufen waren. Hatte sie sich auf die Suche nach ihm gemacht? Aber in ihrem Zustand hätte es einiges an Motivation gebraucht, um sie zum Aufstehen zu bewegen.

Er schloss die Augen und lauschte. Das Feuer war weit genug entfernt, sodass es nicht mehr alle anderen Geräusche schluckte. Erst vernahm er nur Lias Herzschlag, der in der Brust des Mädchens wie ein wildgewordener Kolibri flatterte. Das aufdringliche Geräusch lenkte ihn ab, doch dann ...

Es waren nur wenige Schritte, bis er Melissa erreicht hatte, keine zwanzig Meter. Zusammengekauert lehnte sie an einem rauen Buchenstamm.

Er hielt die Luft an.

Das hätte nicht passieren dürfen. Er hätte es nicht riskieren dürfen. Er hätte Melissa nicht eine Sekunde aus den Augen lassen dürfen. – Doch er hatte es getan.

Sarah war nicht geflohen, sondern hatte sich nur versteckt. Dass die junge Frau Melissa gefunden hatte, konnte kaum mehr als unfassbares Pech gewesen sein.

Melissa hockte auf der feuchten Erde, die Augen geschlossen, als würde sie schlafen. Nur wenige flackernde Lichter des fernen Feuers erreichten ihr verschmiertes Gesicht, doch ihm entgingen nicht die Rinnsale, die sich durch Schmutz und verkrustetem Blut über ihr Kinn zogen.

Er ließ Lia achtlos zu Boden sinken und beugte sich über Melissa. Seine Hand ruhte sanft auf ihrer Wange, spürte ihre Wärme gegen seine Fingerspitzen.

Melissa riss erschrocken die Augen auf und starrte ihn mit flackernden Augen an.

»Ich ... es war ein Unfall«, flüsterte Melissa mit zitternder Stimme.

»Ich weiß«, antwortete er so ruhig es ihm möglich war. »Es ist okay. Du trägst keine Schuld.« Seine Worte vibrierten sanft und dunkel und er wusste nicht, ob er Melissa oder eher sich selbst beruhigen wollte.

»Ich ... es ist einfach passiert. Sie stand plötzlich vor mir und ...« Melissa musste den Satz nicht zu Ende sprechen, er wusste, was sie sagen wollte. Er kannte dieses Entsetzen. Er hatte es ebenfalls erlebt – vor langer Zeit.

Es würde vorübergehen.

Nicht eine Sekunde tat es Nicolas um Sarah leid, deren Körper leblos und bleich halb über Melissa lag, merkwürdig verdreht und mit dicken Kratzern über Gesicht und Hals. Er wünschte niemanden einen solchen Tod, und trotzdem empfand er Genugtuung. Melissa hatte keine Erfahrung im Jagen und musste verdammt hungrig gewesen sein. Sie hatte der Frau mehr Schmerzen beschert, als zur reinen Nahrungsaufnahme nötig gewesen wäre.

Mitleid hatte er mit Melissa, die versuchte zu begreifen, dass sie für den Tod eines Menschen verantwortlich war.

Er zog sie behutsam auf die Beine, weg von Sarahs Leiche, und legte seine Arme um ihren Körper. Jeden Zentimeter von ihr wollte er umschließen und beschützen, kein Stück sollte der Welt um sie herum ausgeliefert sein. Er wusste, dass es ein unmögliches Unterfangen war, aber für diesen Moment stellte er sich vor, dass er es fertig bringen würde. Später mussten sie sich der Realität stellen, aber nicht jetzt.

Er legte seinen Kopf auf ihre Haare ab und lauschte ihrem Atem, der vollkommen gleichmäßig ging. Kaum bewegte sie sich und wenn er nicht den leichten Druck gespürt hätte, mit dem sie sich an ihn presste, hätte er glauben können, sie wäre zu einer Statue verwandelt worden.

»Es ist okay«, murmelte er in ihr Haar. »Sie hatte es verdient. Wäre sie dir nicht begegnet, hätte ich sie getötet. Es hätte keinen Unterschied gemacht.« Das war doppelt gelogen. Es hätte alles geändert. Und er hätte Sarah nicht umgebracht, weil Melissa es von ihm verlangt hatte. Doch was sollte er anderes sagen? Es war kein unüblicher Start in das Leben eines Vampirs. Melissa war stark – sie würde es irgendwann verarbeiten, so wie die meisten.

Er spürte, wie sie an seiner Brust nickte, doch dann wanderte ihr Blick zu Lia, die sich nicht vom Fleck bewegt hatte. »SIE hast du nicht getötet.«

»Nein ...« Er sagte nichts weiter. Melissa wusste, warum er das Mädchen verschont hatte.

»Danke«, hauchte Melissa an seine Brust.

»Du bedankst dich für Lias Leben?«

»Das sollte ich vermutlich.« Ihr Blick glitt weg von dem Mädchen, als hätte sie jedes Interesse an dieses verloren. »Aber nein. Dafür, dass du mich gerettet hast.«

Nicolas versteifte sich umgehend. »Das habe ich nicht. Mir blieb einfach keine andere Wahl. Ich ...« Doch sie hielt ihm den Mund zu.

»Du hast mich gerettet. Auf jede erdenkliche Art. Ich bin noch hier – wegen dir.«

Wieder lauschte er ihren ruhigen Atemzügen und ihrem gleichmäßigem Herzschlag. Es waren die schönsten Geräusche, die er jemals in seinem Leben vernommen hatte.

»Glaubst du, du kommst klar ... so ... wie du jetzt bist?«

»Hm ...« Sie seufzte. Fast klang es verträumt. Keine Spur mehr von dem Schock, der noch vor wenigen Minuten in ihr Gesicht geschrieben stand. »Es ist alles so ... anders.«

Fast hätte er aufgelacht, doch die Trauer in ihm ließ es nicht zu. »Anders. Ja, so kann man es ausdrücken.«

»Als könnte mir nichts mehr entgehen. Kein Laut, kein Geruch, kein zufällig vorbeihuschender Lichtstrahl. Als hätte die Welt einen Schieberegler für Intensität und jemand hat ihn auf tausend Prozent geschoben.«

»Das ist nicht die schlechteste Beschreibung, die ich bislang gehört habe. Hilft es dir, wenn ich dir sage, du gewöhnst dich daran?«

»Ja.« Sie lächelte. Sie LÄCHELTE. »Ich kann es mir nicht vorstellen, aber ich vertraue dir.«

Eine Wärme breitete sich in seinem Inneren aus, unerwartet und doch willkommen, wie ein Sonnenstrahl in einem düsteren Wald. Dieser Tag hatte ihn zerstört – mehrfach. Und dennoch stand er hier, lächelnd und mit Melissa in seinen Armen.

Tränen tropften auf ihre roten Haare.

»Du weinst?« Sie schaute zu ihm hoch. »Glaubst du, es war ein Fehler? Wäre es dir lieber, ich wäre nicht, was ich jetzt bin?« Ihm entging nicht, dass sie es nicht aussprach. Sie sagte nicht, dass sie ein Vampir war. Aber das war okay. Sie kam besser zurecht, als er vermutet hatte.

»Nein. Kein Fehler.« Jetzt könnte sie für immer bei ihm bleiben. Wie sollte er es als Fehler ansehen? Noch fester presste er sie an sich, stärker als jemals zuvor. Als Mensch hätte sie es nicht ertragen.

»Was dann?« Zögernd hob sie ihre Hand und strich über seine feuchten Wangen.

Er antwortete nicht. Doch die Tränen liefen weiter. Als hätte er erst jetzt begriffen, was wirklich geschehen, jetzt, wo er Zeit fand, zur Ruhe zu kommen. Und als würde ihre Nähe ihm die Erlaubnis geben, seine Gefühle zuzulassen.

»Wenn es nicht wegen mir ist, was ist es dann?« Plötzlich klang sie alarmiert, fast schrill. Panik in den Augen.

Es war nur ein Wort. Doch sie hatte ein Recht darauf, es zu erfahren. Sie hatte es ohnehin schon erraten. »Adam.«

Ihre Trauer verschwamm mit seinem Schmerz und er wusste nicht mehr, ob er sie oder sie ihn hielt. Als die ersten Sirenen sich ihnen näherten, erledigte er mit bleischweren Gliedern das Nötigste. Sarahs leblose Hülle übergab er den züngelnden Flammen, sauberer konnte er die Spuren nicht verwischen. Sie erreichten das Mietfahrzeug, mit dem Melissa – und Adam – hergekommen waren, innerhalb von Minuten. Lia, noch immer regungslos, stopfte er in den Kofferraum. Von Melissa kam nicht ein Wort des Protests.

Nie wieder würde er diesen Wald betreten.


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