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Er konzentrierte all seine Wut und seinen Hass für die Suche und verbannte den quälenden Gedanken daran, dass Adam nur wenige Schritte vor ihm zu Asche zerfiel. Melissa würde ihn anflehen, diesen verfluchten Ort sofort zu verlassen, wenn sie könnte, dessen war er sich sicher. Doch er durfte Lia nicht entwischen lassen. Sie war eine zu große Bedrohung. Melissa hatte ihn gebeten, dem Mädchen nichts anzutun. Dieser Wunsch lastete schwer auf ihm, doch er schwor sich, ihn zu erfüllen.

Jetzt einfach über Lia herzufallen, wäre zu wenig - ein viel zu glimpfliches Schicksal. Er wollte, dass sie litt. Ob Melissa ihre Meinung ändern würde, wenn sie von Adams Ende erfuhr? Wenn sie in Amias Augen blicken und den Schmerz über den verlorenen Bruder darin sehen müsste?

Wieder näherte er sich den Flammen, doch diesmal hielt er einen angemessenen Sicherheitsabstand. Auch wühlte er nicht mehr wie ein Irrer den Waldboden auf und präsentierte sich als leichtes Ziel. Er hatte verdammtes Glück gehabt, dass es die Angler gewesen waren, die ihn gefunden hatten, und nicht Lia, die ihn ohne Zögern in eine vampirische Fackel verwandelt hätte. Diesmal war er wieder ganz der Jäger – und er war auf der Pirsch.

Bis vor wenigen Minuten hatte sich das Feuer noch kontinuierlich ausgebreitet, doch jetzt schien es keine weiteren Bäume zu verschlingen. Es wunderte Nicolas nicht – der Wald war zu feucht, um leicht entzündbar zu sein. Einzig die Magie konnte sich derart rasend durch Holz und modrige Laubschicht gefressen haben. Lia hatte eindeutig ihre Rolle als Feuerteufel beendet, aber weit fort konnte sie noch nicht gekommen sein. Das Mädchen wusste nicht, dass er wieder auf den Beinen war, eine gute Ausgangslage, um sie unerwartet zu ergreifen. Doch zuerst musste er sie finden. Weder seine Ohren noch sein Geruchssinn waren ihm eine Hilfe, denn Prasseln und Rauch überlagerten alle Eindrücke. Einzig auf seine Augen konnte er sich verlassen.

Es dauerte aufreibend lange, bis er abseits vom Waldbrand einen blonden Pferdeschwanz zwischen zwei Ästen wippen sah.

In einem weiten Bogen umrundete er Lia, schlich sie wie ein dunkler Schatten an sie heran und näherte sich ihr ungesehen von hinten. Sie stand, vornübergebeugt und an einen dünnen Baumstamm gelehnt, da und keuchte. Mit Genugtuung stellte Nicolas fest, dass Zauberei nicht nur für Marlon eine kräftezehrende Angelegenheit darstellte, aber er durfte sich nicht darauf verlassen, dass Lia die Energie ausgegangen war – noch immer umklammerte ihre Faust fest einen Gegenstand. Er hatte keine Zweifel, dass es einer der Steine war, die sie als Speicher für die gestohlene Magie benutzte. Sie selbst hatte es ihm ausführlich erklärt, als er wehrlos in der Höhle gesessen hatte und Lia sich ihres Sieges so sicher gewesen war. Solange sie ihre Finger nicht von diesem Stein nahm, war sie eine Gefahr für ihn, die er nie wieder unterschätzen würde.

Sein Plan war nicht als ausgegoren zu bezeichnen, doch auf die Schnelle fiel ihm kein anderer ein. Er bückte sich, um einen armdicken, meterlangen Ast aufzuheben. Der Überraschungseffekt würde sein Komplize sein.

»Lia!« Laut durchdrang seine Stimme den Wald und verbarg nichts von seinem Hass, den er dem Teufel in Mädchengestalt vor ihm entgegenbrachte.

Die Angesprochene wirbelte herum und starrte ihn wie eine Erscheinung an, als wäre ein Monster aus den Tiefen des Waldes gekommen, um sie zu holen. Ein Gedanke, der nahe an der Wahrheit lag. Bevor das Mädchen begreifen konnte, was sie sah, schleuderte Nicolas den Ast direkt auf ihren Kopf.

»Fang!«

Lia hatte keine Wahl, wenn sie nicht von einem schnöden Stück Holz ausgeknockt werden wollte. Sie riss die Arme hoch, wehrte den Ast ab – und öffnete dabei unwillkürlich die Faust, aber bevor der Ast ihren Kopf hätte erreichen können, flog sie bereits hart zur Seite und landete mit dem Gesicht voran auf dem Boden. Nicolas zog ihre Hände gewaltsam auf den Rücken und fixierte diese mit stahlhartem Griff. Die Schmerzensschreie ignorierte er. Lia konnte froh sein, dass er sie nicht geradewegs in die Flammen warf, wie sie es verdient hätte.

Mit der freien Hand streifte Nicolas dem Mädchen den Ring ab und schmiss diesen weit von sich in das Laub. Zwar zerrte sie mit aller Kraft an seinem Griff, schrie und keuchte, doch er ließ ihr nicht einen Millimeter Bewegungsfreiheit. Er durchsuchte sämtliche Taschen, die er an ihrer Kleidung ausfindig machen konnte, brachte drei weitere Kiesel zum Vorschein, und schleuderte auch diese in hohem Bogen in die Tiefen des nächtlichen Waldes.

So nah vor ihm, dröhnte Lias galoppierender Herzschlag in seinen Ohren, pochte wild gegen sein Trommelfell und wurde nicht länger vom Zischen und Knistern der Flammen übertönt. Er versuchte den rasenden Rhythmus zu ignorieren und ihn nicht als Einladung zu betrachten. Gleichzeitig genoss er das Entsetzen des Mädchens, doch sie war auch eine Versuchung, der er nur schwer widerstand. Das Raubtier in ihm suhlte sich in seinem Hass und wollte nichts anderes, als seiner Natur zu folgen, aber Lias Blut enthielt noch immer das Gift. Das durfte er nicht vergessen.

Als er begann, sie akribisch abzutasten, hyperventilierte sie bereits und dennoch war er grober, als es nötig gewesen wäre. Dies war keine Sicherheitskontrolle für einen Urlaubsflug und Lias Angst war berechtigt. Sie hatte Adam bei lebendigem Leib verbrennen lassen. – Hätte Melissa ihn nicht gebeten, Lia zu verschonen, er würde in diesem Moment einen Scheiterhaufen errichten.

Er erinnerte sich an die erste Begegnung, die er mit dem blonden Mädchen gehabt hatte, als er Adam unangekündigt besuchte. Lia saß zusammen mit Marlon und Adam im Haus und selbst damals versuchte ihr Herzschlag, neue Rekorde aufzustellen. Jedoch deutete er ihren Blick, den sie sekundenlang nicht von seiner Erscheinung reißen konnte, vollkommen falsch. Verdammt, Lia war nicht das erste weibliche Wesen gewesen, das ihn fassungslos angestarrt hatte, und ein wenig Schrecken gehörte immer zur Faszination. Aber dass es sich um reine Panik gehandelt hatte – er hatte es nicht erkannt. Sonst wäre er der Sache auf den Grund gegangen.

Unsanft riss er Lia empor und stellte sie auf die Beine. Sie blieb aus eigener Kraft stehen. Na bitte, ging doch.

»Wo ist der Wagen?«

Sie deutete mit einer zitternden Hand in eine Richtung und sein Blick folgte der Geste. Nichts außer orangerot lodernde Flammen fanden seine Augen.

»Du hast ...« Es dämmerte ihm, dass der Audi unwiderruflich verloren war. »Wie zum Teufel hast du geplant hier wegzukommen?«

Lia klappte den Kiefer auf und zu, doch mehr als ein paar abgehackte Silben brachte sie nicht hervor. »Ich ... ich ... ich hab' ...« Hektisch schnappte das sonst so gesprächige Mädchen nach Luft, während sie die Arme schützend vor ihren Körper hielt. Als wenn ihr das nützen könnte, wenn er erst einmal die Kontrolle über seine Wut verlieren würde. Doch sie hatte bereits das Schlimmstmögliche getan, – ein Auto würde ihn jetzt nicht aus dem Konzept bringen. Obwohl Lia unbestreitbar Todesangst vor ihm hatte, dirigierte er sie rücksichtslos und mit groben Stößen vorwärts. Er musste Melissa holen und gleichzeitig Ausschau nach Sarah halten. Melissa hatte ihm in der Höhle erzählt, die Sarah hätte Reißaus genommen, doch man konnte nie wissen – nun, viel anstellen konnte sie heute nicht mehr.

Lia stolperte und die Beine knickten unter ihr weg. Verflucht, sie wollte doch jetzt nicht ernsthaft eine Panikattacke bekommen?

Als er sie erneut hochzog, hing sie schlaff in seinem Griff, unfähig, sich selbst aufrecht zu halten. Ihre Augen rollten eindrucksvoll nach hinten. Er gab dem Mädchen einige Klapse auf die Wangen, doch das half wenig. Alles in ihm sträubte sich, das Folgende zu tun, aber er musste vorwärtskommen, also packte er Lia und warf sie sich über die Schulter. Endlich konnte er sich mit gewohnter Geschwindigkeit bewegen und rannte in wenigen Sekunden zurück zu Melissa.

Nur war dort keine Melissa.

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