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Fast hätte er das leise rhythmische Pochen, das keine zwei Meter hinter ihm erklang, überhört. Dann ein zweites – und ein drittes.

Er stieß ein stummes Dankgebet aus, etwas, das er nie zuvor getan hatte.

»Hey! Mann! Bleib stehen, hab ich gesagt! Warst du der Idiot, der das Feuer ...« Nicolas drehte sich um und die Stimme erstarb abrupt, als der Sprecher sein Gesicht erblickte.

»Oh, verdammt, geht es dir gut? Brauchst du Hilfe?« Mit weit aufgerissenen Augen musterte ihn der Fremde, der in dunkelgrünen Gummistiefel, grasbefleckter Hose und Outdoorweste vor ihm stand. Hinter ihm näherten sich zwei weitere Männer, ähnlich gekleidet, einer lang und hager, der andere klein und mit untersetztem Bauch. Der Fischgeruch, der von ihnen ausging, fand seinen Weg selbst durch den beißenden Rauch.

Nicolas konnte nur erahnen, wie erbärmlich er den Männern erscheinen musste – in seiner seit Tagen dahinrottenden Kleidung, leichenblass, von Dreck überkrustet, mit geröteten Augen und tiefen Ringen darunter. Nicht zu vergessen sein blutverschmierter Hals und das rostbraun durchtränkte Shirt. Zusammen mit seinem schwankendem Gang mussten die Fremden denken, dass er ...

»Ein Zombie!«, schrie einer der Männer entsetzt auf. »Oh Gott, Jack, pass auf, dass er dich nicht ...«

»Schwachsinn«, unterbrach der Mann, der Jack hieß. »Das ist kein Zombie, sondern ein Notfall.« Er wandte sich wieder an Nicolas: »Bist du verletzt? Ach, was frag ich, ich sehe es doch. Hast du den Rauch eingeatmet? Ist da noch jemand im Feuer? Warte ...«, Er stützte Nicolas, als diesem die Knie nachgaben. Nicolas ließ es widerstandslos geschehen. »Setz dich erstmal hin. Wir holen Hilfe und dann ...« Weiter kam er nicht.

Als der Fremde ihn auf den Boden hinabließ und sich über ihn beugte, griff Nicolas plötzlich nach seinem Hals und zog ihn näher zu sich heran. Mit stählernem Griff brachte er die Halsschlagader vor seinem Mund in Position und biss zu. Der Mann schrie auf und stemmte sich gegen Nicolas' unnachgiebige Brust, bis er erschlaffte.

Gierig saugte Nicolas das Blut in seine Kehle. Nie zuvor hatte er hektischer getrunken. Ausgedörrt, wie er war, hätte es das Köstlichste der Welt sein sollen, wenn die Trauer um Adam ihm nicht die Kehle zuschnüren würde. – Doch er musste trinken und seinen Körper mit genug Blut versorgen. Er durfte keine Sekunde verschwenden. Dann konnte er es schaffen und Melissa hatte noch eine Chance, wenn sie nicht ... Er wagte den Gedanken nicht zu Ende zu denken.

Die beiden anderen Männer brauchten nicht lange, um ihre Schockstarre zu überwinden und loszurennen, aber sie waren trotzdem zu langsam. Mit blitzschnellen Schritten erreichte Nicolas den kleineren. Endlich hatte er wieder Kraft in seinem Körper. Die fischig riechenden Angler kamen ihm vor wie rettende Engel, die ihm das Lebenselixier brachten.

Als er mit dem zweiten fertig war, näherte er sich dem dritten.

Panisch hob der Mann die Hände, als könnte er Nicolas so von sich fernhalten.

»Bitte ... Wir wollten doch nur nachsehen ... wegen des Feuers ... ob jemand Hilfe braucht ...« Mit rasendem Herzen stolperte der Mann rückwärts. An einem anderen Tag, unter anderen Umständen, hätte Nicolas Mitleid mit ihm gehabt.

»Entspann dich. Dann hast du es schnell hinter dir.« Kaum erkannte Nicolas seine eigene Stimme. Kurz atmete er durch. Er brauchte einige Sekunden Pause, um sich nach der übereilten Blutaufnahmen nicht ungewollt zu übergeben. – Etwas, das er nicht riskieren durfte. Sein Körper benötigte jeden Tropfen.

»Wir machen doch nur einen Angelausflug.«, flehte der Fremde weiter, doch da hatte Nicolas bereits nach seinen Schultern gegriffen und drückte ihm den Kopf unbarmherzig zur Seite.

Als er fertig war, wischte er sich den Mund ab, was kaum einen Unterschied machen würde, er war ohnehin über und über von seinem eigenen getrockneten Blut besudelt. Stöhnend lagen die Fremden auf dem Waldboden, der erste versuchte bereits, die Flucht aufzunehmen. Sie hatten Glück. Sie waren zu dritt. Auf diese Art hatte Nicolas die Mahlzeit aufteilen können und die Männer würden es alle überleben.

Ohne eine weitere Sekunde zu vergeuden, sprang Nicolas zurück in die kleine Höhle, in der er Melissa zurücklassen hatte müssen.

Er fand sie sofort, trotz des dichten Rauchs, der die Luft schwarz durchzog, und zog sie fest an sich. Mit seinem Ohr dicht an ihrem Mund lauschte er. Doch da war nichts. Kein Atemzug kam über ihre blauverfärbten Lippen.

Ein eisiger Griff legte sich um seinen Nacken, kroch unter seine Haut und seine Wirbelsäule hinunter. Das durfte nicht sein. Das Schicksal konnte ihm unmöglich diese Chance in die Arme gespielt haben, um ihn jetzt zu verhöhnen, weil er zu spät kam.

Er legte sein Ohr auf ihre Brust und horchte erneut. Tränen stiegen brennend in seine Augen. – Er war so nah dran gewesen.

Wenn er den dritten Mann nicht angefasst hätte, er wäre schneller zurück bei Melissa gewesen, aber er brauchte das Blut, sonst hätte es nicht funktionieren können. Warum hatte er nicht mehr von einem der anderen genommen? So hätte er rascher trinken können, als mit diesem Wechsel. Der Fremde wäre gestorben. – Doch wen interessierte das? Nicolas hätte Tausende von ihnen getötet, um Melissa zu retten. Er verfluchte sich, dass er es nicht getan hatte.

Ein leises Poch erklang unter seinem Ohr, hauchzart, kaum mehr als der Schlag eines Schmetterlings.

Ein zweites Poch.

Es war nicht zu spät. Sie war noch nicht fort.

Er bebte, als er Melissas Körper emporriss, sie mit dem Rücken an seine Brust presste und mit Gewalt seine Handgelenksarterien aufbiss. Diese drückte er gegen ihre geöffneten Lippen. Er ließ nicht zu, dass auch nur ein Tropfen daneben floss.

»Bitte bleib!« Es waren nur zwei erstickte Laute, die er ausstieß, dann hielt er die Luft an. Bis zu ihrem ersten tiefen Atemzug – und dann trank sie. Er hatte in seinem ganzen Leben keinen schöneren Ton gehört als ihre hauchfeinen Schluckgeräusche. Wie ein unschuldiges Kind hielt er sie, streichelte sanft über ihre Wange und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Sie würde bei ihm bleiben, nicht nur heute, nicht nur ein Menschenleben lang, – sondern für immer. Doch unschuldig würde sie nicht mehr sein.

Wie er ihre Nähe genoss, das Gefühl ihrer Haut unter seiner. Fest hielt er sie an sich gepresst und spürte, wie ihr eisiger Körper langsam erwärmte.

Als er sie von sich löste, verursachte es ihm fast körperliche Schmerzen, denn er bedauerte zutiefst, ihr sein Blut entziehen zu müssen. Er wusste, wie sehr sie jetzt danach verlangte. Doch sie würde den Durst ertragen müssen, mehr konnte er ihr nicht geben, denn er benötigte seine Kraft für eine dringendere Aufgabe. In den letzten Minuten schienen die Lichter der Flammen oberhalb der kleinen Höhle stetig heller geworden zu sein, der prasselnde Lärm machte ihn taub für alle anderen Geräusche und heißer Wind wehte zu ihm hinab. Ein Mensch wäre in diesem Loch in kürzester Zeit erstickt, doch es befand sich kein Mensch mehr hier untern.

Er warf sich Melissa über die Schulter, steckte die Bruchstücke des Bernsteins in seine Tasche und kletterte rasendschnell die senkrechte Höhlenwand empor. Oben sprang er auf den Waldboden. Noch bevor er sich umwandte, spürte er die Hitze und einzelne Flammenzungen, die nach ihm leckten. Geschockt wirbelte er herum und starrte in ein gleißendendes Inferno. Wo zuvor Dutzende Bäume in Flammen gestanden hatten, loderten nun Hunderte hell in den Nachthimmel und selbst der modrig feuchte Waldboden glich einem einzigen Flammenmeer.

Schnellstmöglich brachte er Melissa aus der Gefahrenzone, legte sie ab und einen Moment gestattete er sich, sie zu betrachten. Friedlich wirkte ihre schlafende Mine. Ihre milchweiße Haut schimmerte hell im Sternenlicht und ließ sie schmerzhaft unschuldig wirken, das Gesicht wirr eingerahmt von den roten Haaren. Wie oft hatte er sich sagen müssen, dass dieses blutrote Leuchten kein Versprechen für ihn darstellte, dass er nicht von ihr Trinken würde, dass er sie nicht haben konnte. Doch Schritt für Schritt hatte er jeden Vorsatz gebrochen und heute Nacht hatte sich das Versprechen erfüllt. Er wollte nichts sehnlicher, als sie in den Armen zu halten und zu wiegen, bis sie erwachte. Er wollte der Erste sein, den sie erblickte, wenn sie die Augen aufschlug, – wenn sie der Ewigkeit begegnete.

Doch er konnte nicht warten. Noch immer lag sie da wie tot, aber das würde nicht so bleiben. Er kannte den Ablauf.

Fast schaffte er es nicht, sich von Melissa zu lösen, doch sie musste alleine zurechtkommen, bis er den Feuerteufel ergriffen hatte. Lia würde bezahlen für das, was sie Adam angetan hatte.

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