104

»Weißt du, was das bedeutet, Lia?«, fragte Melissa besorgt.

»Du meinst, ich habe mit dem falschen Vampir begonnen? Glaubst du, ich hätte zuerst Adam aus dem Weg räumen sollen? Adam, der immer so harmlos wirkte und alle glauben ließ, er könne niemandem etwas antun. Nur, dass er meine Schwester umgebracht hat, das hat er vergessen zu erwähnen.«

»Nein, du begreifst nicht. Nicolas ist unschuldig. Und auch Adam wollte Claire nur helfen. Lia, Vampire sind keine Monster! Du hast dich getäuscht. Ich bin froh, dass du mir deine Geschichte erzählt hast, so kann ich endlich verstehen, wie du darauf gekommen bist. Aber nun wissen wir, was geschehen ist. Jetzt müssen wir Nicolas befreien. Bitte, bring mich zu ihm!«

Das Mädchen lachte laut, aber ohne jede Spur von Heiterkeit. »Du bist drollig. Du wirst nie den Glauben an das Gute in diesen Blutsaugern verlieren, oder? Adam hat meine Schwester getötet. Er hat sie wehrlos vorgefunden, und anstatt ihr zu helfen, hat er seine Chance genutzt und von ihr getrunken. So wie Nicolas es mit dir gemacht hat. Denn das ist es, was Vampire tun. Sie trinken unser Blut, bis wir sterben! Und bis dahin versuchen sie, uns in Sicherheit zu wiegen. Sag mir ehrlich, Melissa, hast du nie Angst gehabt vor Nicolas? Oder sogar vor Adam? Hat dich nie einer von ihnen bedroht oder gebissen, ohne dich vorher um Erlaubnis zu fragen? Niemals?«

Melissa schwieg. Sie konnte diese Frage nicht ehrlich beantworten und Lia gleichzeitig begreiflich mach, wie diese Situationen zustande gekommen waren. Dass die Vampire keine Schuld trugen.

»Dachte ich es mir.« Kein Triumph lag in Lias Stimme, nur Bitterkeit. »Und dennoch stehst du bedingungslos hinter ihnen. Du bist das beste Beispiel dafür, wie manipulativ sie sind. Melissa, geh' nach Hause. Du hast hier nichts mehr verloren. Seh' zu, dass du soviel Abstand zu diesen Monstern nimmst, wie es dir möglich ist.«

»LIA!«, schrie Melissa jetzt. »Sie sind unschuldig. Sie alle! Keiner von ihnen hat etwas getan. Du musst uns sagen, wo Nicolas ist.«

»Unschuldig? Es sind alles Monster, gefährliche Bestien, einer wie der andere. Ihre Natur macht sie dazu. Ich werde nicht zulassen, dass jemand Nicolas befreit. Im Gegenteil, ich werde auch die anderen unschädlich machen. Niemand soll jemals wieder das durchmachen müssen, was Claire erlebt hat.«

So lange hatte sie den Gedanken daran unterdrückt, was Nicolas in diesem Moment erleidete und wie stark er verletzt war, doch jetzt breitete sich Panik in Melissa aus. Lia hatte nie vorgehabt, ihr Nicolas' Versteck zu verraten. Das Mädchen war derart verblendet von ihrem Hass auf die Vampire, dass sie nicht mehr klar sehen konnte und die Tatsachen solange verdrehte, bis sie zu ihrem wirren Weltbild passten.

»Ich sehe nur ein Monster hier«, zischte Melissa ihre ehemalige Freundin an, »und das ist bereit, unschuldige Wesen zu quälen.«

»Du glaubst, ihm den Hals aufzuschlitzen ist eine ungerechtfertigte Maßnahme? Du hast keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn einem brutal jemand entrissen wird, den man liebt. Aber du hast recht. Es war ein Fehler, was ich mit Nicolas gemacht habe. Er lebt und es besteht jederzeit die Möglichkeit, ihn zurückzubringen. Ich hätte ihn gleich im Meer versenken sollen, damit er nie wieder gefunden wird.«

Melissa stockte der Atem. Das war es, was Lia am liebsten getan hätte? Ihre Beine wurden weich bei dem Gedanke daran, dass Lia diesen Plan tatsächlich hätte ausführen können.

»Nur wegen Sarah ist er noch nicht bei den Fischen«, sprach Lia weiter. »Weil sie Angst hatte, ihre Mutter müsste dafür bezahlen, falls Helena noch lebt und herauskäme, dass wir Nicolas unwiederbringlich beseitigt hätten. Deswegen haben wir ihn hierher gebracht, in der Hoffnung, dass ihn niemand ausfindig macht und alle annehmen, er ist freiwillig untergetaucht. Ein Fehler, den ich korrigieren werde.«

Kurz blickte Melissa in die Dunkelheit hinter Lia, doch sie konnte nicht sagen, ob Sarah noch dort stand oder nicht. Zu dicht zeigte sich die Schwärze, die den Wald einhüllte. Verdammt – sie hätte sich nicht so lange mit Lia aufhalten sollen, so gelangten sie nicht zu Nicolas.

Sarah war die Schwachstelle in Lias Plan. Sarah würde ihr verraten, wo sie Nicolas finden konnte, wenn sie ihr Helena im Austausch versprach. Sie würde Kari schon dazu bringen, Helena laufen zu lassen. Und wenn nicht ... verflucht, dann bluffte sie eben. Sie würde jede nötige Geschichte erzählen, um Nicolas zu befreien.

Sie würde ihre Seele verkaufen.

»Adam,« flüsterte Melissa, »kannst du Sarah noch ausmachen?« In dieser Dunkelheit war sie auf die Sinne des Vampirs angewiesen. Doch dieser reagierte kaum auf ihre Frage. Stocksteif stand er neben ihr und starrte Lia an. Um seine Aufmerksamkeit zu erlangen, legte sie eine Hand auf seinen Arm und merkte erst jetzt, wie sein Körper vor Anspannung bebte.

»Vergiss Sarah«, knurrte er und schlug ihre Hand rücksichtslos weg. »Ich werde mir unsere Antwort holen.«

Und dann schoss der Vampir vorwärts, schneller als Melissa blinzeln konnte. Lia erstarrte, als Adam wie ein Blitz vor ihr stand und wich zurück, doch Adam war schneller. Seine Hand packte das Mädchen am Arm und seine Fingernägel gruben sich in ihr Fleisch. Melissa folgte dem Vampir einen Augenblick später und obwohl sie nun unmittelbar bei den beiden stand, konnte sie Lias Gesicht kaum noch erkennen. Täuschte sie sich, oder lächelte diese?

»Sag uns, wo Nicolas ist, oder du wirst unwiederbringlich beseitigt«, fauchte er, während er sie noch näher zog. Seine Stimme klang wie das Grollen eines gewaltigen Raubtiers, das zum Angriff bereit war. Eine Gänsehaut kroch Melissa die Wirbelsäule hinunter. Erst einmal hatte sie Adam derart außer sich erlebt.

»Nichts werde ich euch verraten.«, zischte Lia und versuchte ihren Arm, so gut es ging, aus dem Griff des Vampirs zu reißen. Doch er ließ nicht locker. »Nimm deine Hand weg.«

»Erst wenn du ...«

Adam kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen. Grelle Funken glühten auf und tauchte den Wald für den Bruchteil einer Sekunde in gelbes Licht – gleichzeitig flog er mehrere Meter rücklings und landete krachend auf dem Rücken. Keuchend kam er wieder auf die Füße und startete direkt einen erneuten Angriff, doch er schaffte es kaum, sich bis auf zwei Meter dem Mädchen zu nähern, als er gegen eine unsichtbare Wand prallte. Auch Melissa spürte, wie eine surrende Energie sie zurückdrängte und ihre Entfernung zu Lia vergrößerte. Wieder stoben Funken durch die Luft, und dieses Mal konnte Melissa ihren Ursprung erkennen: Lias Hand, welche in ihrer Jackentasche steckte. Ein schwaches Glimmen drang durch den Stoff.

»Adam«, sagte Melissa entgeistert, »ihre Hand ... sie muss einen der Steine in ihrer Tasche haben.«

»Habt ihr geglaubt, ich würde mich euch vollkommen wehrlos ausliefern? Natürlich habe ich dafür gesorgt, dass ich mich verteidigen kann, als mir klar wurde, dass du Adam mitbringst. Ich wusste doch, was man von einem Vampir zu erwarten hat.« Hasserfüllt blitzte sie Adam an, während erneut Funken flogen, als dieser versuchte, die Barriere zu ihr zu durchdringen. »Und jetzt sorge ich dafür, dass auch er bekommt, was er verdient.«

Panik drohte Melissa zu überrollen, doch der Vampir schien gänzlich unbeeindruckt. »Du hast uns angegriffen und jetzt benutzt du Waffen gegen uns, die du unserem Freund gestohlen hast, ohne zu wissen, ob er sich von diesem Diebstahl erholen wird.« Adams Zähne knirschten bedrohlich.

Lia zog ihre Hand aus der Tasche, und das Glimmen schwoll an. Unruhige Lichter flackerten über ihr Gesicht und bedrohliche Schatten tanzten zwischen den Anwesenden.

»Das stimmt so nicht.« Ein eisiges Lächeln breitete sich auf Lias Gesicht aus. »Ich bin mir sicher, dass Marlon das nicht wird. Er war der Preis, den ich bereit sein musste zu bezahlen, um an eine wirkungsvolle Waffe gegen euch Blutsauger zu gelangen. Ein Opfer, um viele andere zu retten. Marlon hat zu viel Energie verloren, um noch neue bilden zu können. Hat sich herausgestellt, dass ich ihm eine gewisse Mindestmenge hätte übriglassen sollen. Ich hab es zu spät bemerkt. Ups.«

Melissa brauchte kein vampirisches Gehör, um zu registrieren, wie Adams Puls davonraste und Panik ihn überfiel. Ihr erging es kaum besser. Lia bluffte nicht. Ihr blieb kein Grund dazu. Josi hatte Melissa erzählt, wie schlecht es um den Zauberer stand und dass sein Zustand stetig bedrohlicher wurde. Jetzt hatten sie die Gewissheit. Marlon würde sich nicht erholen.

Ein tiefes, ersticktes Schluchzen erklang aus Adams Kehle, bevor er sich erneut auf Lia stürzte und abermals in einem Funkensturm zurückgeschleudert wurde. Keuchend landete der Vampir auf dem Rücken.

Und dann erlosch das Glimmen vollständig.

Der Wald lag für ein paar Sekunden in völliger Stille, als hielte er den Atem an.

»Oh«, seufzte das nun in kompletter Dunkelheit stehende Mädchen auf. »Wie blöd von mir, hab ich doch tatsächlich die ganze Magie verbraucht.«

Melissa vergaß zu atmen. Konnte es sein, dass Lia die Energie ausgegangen war? So bitternötig brauchten sie das Schicksal auf ihrer Seite, dass Melissa gewillt war, genau das zu glauben. Und dennoch: der unbeeindruckte Tonfall stand in zu großem Widerspruch zu der Bedeutung der Worte – irgendetwas stimmte nicht an dieser Situation. Aber bevor sie diesen Gedanken weiter verfolgen konnte, hörte sie Adam laut aufheulen und dann einen dumpfen Aufprall, als dieser Lias Körper traf.

Das grauenerregende Geräusch von zerreißender Haut drang durch den Wald und Lias entsetztes Aufkeuchen.

Und dann verstand Melissa, was die kleine Teufelin tat.

»ADAM, NEIN!«

Doch es war zu spät. Wieder einmal. Es war nicht nötig, die Dunkelheit mit ihren Blicken zu durchdringen, um zu wissen, was sich vor ihrer Nase abspielte. Die hektischen Schluckgeräusche waren unmissverständlich.

Erneut hinkte sie Lias Plänen einen Schritt hinterher.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top