103
Sie wäre verantwortlich für den Tod seines nächsten Opfers.
In Melissas Ohren rauschte es und sie hatte Mühe, Luft in ihre Lungen zu bekommen. Sie hatte keinen Zweifel, dass sie Nicolas früher oder später finden würden. Sie würden seinen Aufenthaltsort aus Lia herausbringen oder notfalls solange das Gelände durchsuchen, bis sie ihn entdeckten. Zu schaffen machte Melissa die Tatsache, dass sie dem blonden Mädchen glaubte. Sie glaubte die gesamte Geschichte, von vorne bis hinten, all den Verrat, den Lia begangen hatte und sogar ihre subjektiv gesehenen guten Absichten.
Sie glaubte, dass Lia Zeugin wurde, wie Nicolas ihre Schwester tötete.
Doch Melissa sehnte sich so sehr nach Nicolas, dass sie bereit war, all dieses zu ignorieren. Sie wollte ausblenden, wie gefährlich ein Vampir sein konnte, wie unberechenbar.
Und das selbst dem besten von ihnen Unfälle passierten.
Dabei hatte sie es am eigenen Leib erfahren. Sie hatte Adams Biss nur knapp und mit viel Glück überlebt. Sie konnte nicht ignorieren, wie wahr Lias letzte Worte waren. Für den nächsten Unfall würde sie die Verantwortung tragen.
Könnte sie das ertragen? Könnte sie mit dem Wissen leben, dass Menschen starben, weil sie selbst nicht von Nicolas ablassen konnte? Aber was war die Alternative? Ein Leben ohne ihn? Ihn in völliger Einsamkeit zurückzulassen – wehrlos, bis in alle Ewigkeit? Zu wissen, sie könnte ihn befreien – ohne es zu tun? Es war unvorstellbar. Geradezu panisch presste sie sich die Hände auf die Ohren und kniff die Augen zusammen, als würde sie das vor ihren eigenen Gedanken retten. Sie wusste nicht, was sie denken oder wohin sie den nächsten Schritt setzen sollte. Taub und blind taumelte sie zurück und stolperte gegen einen harten Körper. Adam war von hinten an sie herangetreten. Behutsam legte er seine Hände auf ihre Finger und zog diese von ihren Ohren. Widerwillig öffnete sie die Augen und sah den Vampir, wie er ihren Blick suchte. Langsam schüttelte er mit dem Kopf.
»Tu das nicht. Verlier nicht dein Vertrauen in Nicolas. Er würde so etwas niemals tun.«
»Wie kannst du so sicher sein? Hast du das Kärtchen gesehen? Lia denkt sich die Geschichte nicht aus. Sie hätte sich selbst nicht so belastet, wenn sie lügen würde.«
Noch immer hielt Adam ihre Hände fest. »Du weißt, Nicolas würde das nicht tun.«
»Und wenn es ein Unfall war?«
»Nein. Er verliert nicht die Kontrolle.«
Melissa wünschte sich, sie hätte dieselbe Zuversicht, wie der junge Vampir vor ihr. »Das kannst du nicht wissen. Es macht alles Sinn. Alles, was sie erzählt hat.« Sie schüttelte Adams Hände ab, rieb sich über das Gesicht und presste dann überfordert die Handflächen zusammen, bevor sie anfing, ihre Finger zu kneten.
»Das will sie auch, aber es ist nicht wahr. Bitte beruhige dich.« Wieder griff er nach ihren Händen und zwang sie, ihn anzusehen. »Bist du noch dabei Nicolas zu befreien?«
»Ja. Ja, natürlich.« Sie senkte den Kopf. »Ich wünschte nur, ich hätte diese Sache nie erfahren.« Zitternd holte sie Luft, bevor sie Adam wieder in die Augen sah. Etwas Undefinierbares, fast Schmerzhaftes, lag in seinem dunklen Blick.
»Das kann nicht euer verfluchter Ernst sein,« schrie Lia abrupt los. Geduldig hatte sie die Reaktion der beiden abgewartet, doch jetzt war es mit ihrer Selbstbeherrschung vorbei. Tränen quollen ihr aus den Augen. »Ihr wollt ihn wirklich befreien? Trotz allem? Er hat Claire getötet. Er ist der Grund, dass ich meine Schwester nie wieder sehen werde. Und deine Schwester,« Lia wendete sich jetzt direkt an Adam, »hat er bei dem Mord zusehen lassen. Ist es das, was du dir für Amia wünschst? Dass sie aufwächst mit Mord und Gewalt?« Verzweifelt wischte Lia sich die Tränen aus den Augen. »Aber euch ist egal, was Nicolas getan hat, oder? Ihr werdet immer auf seiner Seite stehen, und wenn er die Welt niederbrennt. Aber ich nicht. Ich werde alles tun, um zu verhindern, dass er noch einmal jemanden etwas antun kann.«
Die Luft schwirrte vor Anspannung und Melissa kroch eine Gänsehaut über den Körper, die nichts mit der sinkenden Temperatur seit Dämmerungsbeginn zu tun hatte. Die dunklen Schatten, die sich im Wald ausbreiteten, schienen bis in Melissas Inneres zu kriechen.
Einen Augenblick herrschte absolute Stille.
»Er war es nicht«, sagte Adam gepresst.
Bitter Lia lachte auf. »Natürlich nicht. Red dir das ruhig ein. War sicher ein anderer Vampir mit exakt dem gleichen Mantel.«
»Ja.«
»Natürlich. Laufen ja so viele davon herum. Wer genau soll das dann gewesen sein?«
Sekundenlang schwieg Adam. Dann holte er tief Luft. »Ich.«
Drei Augenpaare weiteten sich schockiert und starrten den jungen Vampir an. Lias Lippen bewegten sich, doch es kam kein Ton heraus. Sarah wurde noch blasser, als sie es ohnehin schon bei Adams Anblick war, und Melissa glaubte schlicht, sich verhört zu haben. „Du?", fragte sie fassungslos.
»Ja.« Adams Hände ballten sich zu Fäusten und ließen die Knöchel weiß hervortreten. »Aber die Situation war anders, als Lia sie erlebt hat.«
»Ich fass' es nicht,« keuchte Lia außer sich, »du würdest Nicolas nicht nur alles durchgehen lassen, nein, du lügst auch noch für ihn.« Wutschnaubend spukte sie dem Vampir vor die Füße. Dieser zuckte zusammen, riss eine Faust hoch und kurz sah es aus, als würde er zum Sprung ansetzen, doch sogleich ließ er die Hand wieder sinken. Zwischen zusammengepressten Zähnen knurrte er: »Ich lüge nicht.«
Melissa schaffte es kaum, ihre Gedanken zu sortieren. »Aber du hast noch nie von einem Menschen ....,« stammelte sie, »... also zumindest nicht, bevor ...« Ihr Mund war wie ausgetrocknet und kurz starrte sie Adam an, bevor sie ihn mit kratziger Stimme aufforderte: »Erzähl es mir.«
Es war völlig paradox, doch sie konnte es nicht leugnen: Sie hatte Mühe, nicht erleichtert zu klingen. Sie wünschte sich so dringend, dass Adam die Wahrheit sprach – das Nicolas unschuldig war. Und gleichzeitig betete sie in Gedanken darum, dass er diese Tat nicht begangen hatte. Konnte es wahr sein, dass dieser sanftmütige Vampir Claires Mörder war?
»Ja, erzähl' uns, wie die Situation angeblich war. Was soll ich an diesem Mord falsch verstanden haben?«, zischte Lia, war aber diesmal schlau genug, sich dem Vampir nicht erneut zu nähern. Nicht eine Sekunde nahm sie ihren Blick von Adam.
»Ich habe sie nicht ... ach verdammt, du würdest es ohnehin nicht glauben.«
Melissa legte sanft ihre Hand auf Adams Oberarm. »Ich würde dir glauben.« Sie versuchte ihn anzulächeln, aber sie spürte, dass es ein kläglicher Versuch war. »Bitte, sag mir, was an dem Tag passiert ist? Hast du von Claire getrunken? Hattest du Hunger oder aus anderen Gründen die Beherrschung verloren?« Er hätte den Angriff niemals absichtlich herbeigeführt. Melissa betete um eine verflucht gute Begründung für die Tat des Jungvampirs. Doch gleichzeitig konnte sie sich nichts vorstellen, was diese entschuldigen würde. »Und warum hattest du Nicolas' Mantel an?«
Adam seufzte kapitulierend. »Okay.« Dann nickte er. »Ich versuche es zu erklären. – Ich war erst seit einigen Wochen ein Vampir, als ich Amia mit ins Kino nahm. Ich glaube, es war das erste Mal, dass wir dort zusammen einen Film ansahen. Es hatte sich ... vorher einfach nicht ergeben. In unserem Leben war noch so viel in Chaos und ich kam erst nach und nach dazu, mich um Dinge zu kümmern, die ich vorher sträflich vernachlässigt hatte.« Beschämt verzog er das Gesicht. »Unter anderem fehlte es noch an den einfachsten Sachen, wie ausreichend Kleidung, passend zur Jahreszeit. Ich besaß damals nicht einmal eine ausreichend warme Jacke. Als Amia dann freudestrahlend vor mir stand und darauf wartete, dass wir losgingen, stellte ich erschrocken fest, dass es in Strömen regnete und ich völlig aufgeweicht im Kino eintreffen würde. Also nahm ich, ohne lange nachzudenken, den einzigen Mantel von der Garderobe, der dort hing.«
»Und das war Nicolas'«, stellte Melissa sachlich fest. »Hat er dir ihn tatsächlich bereitwillig geliehen?«
»Ich habe nicht gefragt. Erst bei meiner Rückkehr hatte er die Gelegenheit, klarzustellen, dass so etwas nie wieder vorkommen würde. Glaub' mir, da war er deutlich.« Kurz zuckten Melissas Mundwinkel. Sie hatte keinerlei Zweifel, was diesen Punkt betraf.
»Im Kino angekommen, hatten wir zunächst unseren Spaß. Amia strahlte wie eine kleine Prinzessin und hat Unmengen Popcorn verzehrt. Doch irgendwann wurde ihr der Film zu gruselig. Es handelte sich zwar um einen Kinderfilm, doch auch in solchen kann es ganz schön zur Sache gehen und Amia war nicht daran gewöhnt. Mitunter kann sie ziemlich empfindlich reagieren. Nun, an dem Tag ging es darum, dass sie Freude haben sollte, und als sie den Saal verlassen wollte, tat ich ihr den gefallen. Also machten wir uns auf den Rückweg zum Parkplatz. Amia sprang noch ganz aufgeregt vor mir hin und her, erzählte alles, an das sie sich aus dem Film erinnern konnte und stellte Mutmaßungen an, wie es enden könnte, als sie plötzlich loslief und sich wenige Meter weiter neben einer Gestalt auf den Boden kauerte. Erst da bemerkte ich die fremde Person, welche röchelnd vor meiner Schwester lag und um Luft kämpfte.« Melissa konnte ihm ansehen, dass ihm das Erzählen einige Überwindung kostete.
»Eine junge Frau mit blau verfärbtem Gesicht und weit aufgerissenem Mund. Ihre Hände umklammerten ihren Halsausschnitt und rissen daran, als wollte sie mit aller Gewalt etwas loswerden, dass sie am Atmen hinderte. Doch dort war nichts. Wie versteinert, nur mit bebendem Kinn, stand Amia neben mir und starrte auf die Frau. Schließlich drang ein klägliches Wimmern aus dem Mund meiner Schwester. In dem Moment verfluchte ich ihre Fähigkeit, stets Geschöpfe zu finden, die dringend Hilfe benötigten.« Adam wischte sich über die Augen und wich Melissas Blick aus. Er konnte nicht verheimlichen, dass Amia nicht die einzige war, die die Situation vollkommen überfordert hatte.
»Ich griff sofort nach meinem Handy, um den Notruf zu wählen, doch Amia faste die Hand der Fremden und sah mich entsetzt an. ›Du musst machen, dass es aufhört‹, flehte sie. ›Bitte, der Arzt wird ihr nicht mehr helfen. Mach, dass es jetzt aufhört!‹. Fast kreischte sie. Ich kniete mich zu ihr hinab und da ergriff die junge Frau am Boden meine Hand und ihre Fingernägel gruben sich panisch in meine Haut. Sie fixierte mich mit weit aufgerissenen Augen und ich bin bis heute nicht sicher ... aber ich glaube, sie hat genickt, bevor sie begann, die Augen zu verdrehen und ihr Körper sich völlig verkrampfte. Das röchelnde Geräusch wurde schwächer und immer weniger Luft drang noch in die Lunge der Frau. Sie hatte im besten Fall noch wenige Minuten vor sich, doch diese würden grauenhaft werden.«
Adam wich ihrem Blick aus, bevor er weitersprach. »Ich vergrub meine Zähne in ihrem Hals und saugte ihr das Blut aus. Innerhalb von Sekunden entspannte sich ihr Körper und ich konnte hören, wie sich ihr wild hämmerndes Herz beruhigte, immer langsamer wurde und aufhörte zu schlagen. Sofort verließ ich mit Amia den Ort.«
Bilder blitzten vor Melissas inneren Auge auf. Eine verzweifelt wimmernde Amia am Strand mit einem verletzten Otter im Arm. Die kläglichen Laute des Tieres und Marlon, der es schlafen ließ, damit es nicht länger Schmerzen leiden musste. Und schließlich das grässliche Knacken, als Adam das Tier erlöste. Adam, der verhindern wollte, dass Amia jemals wieder jemanden so leiden sehen musste, wie die Geschwister es bei ihrer eigenen Mutter miterlebt hatten.
Sie schluckte. Adam hatte Claire getötet. Es war kein Angriff gewesen – nicht einmal ein Unfall. Die junge Frau war bereits fest in der Hand des Todes gewesen. Der Vampir hatte ihr erspart, kläglich zu ersticken. Er war es gewesen, den Lia über ihre Schwester gebeugt gesehen hatte, eingehüllt in Nicolas' Mantel. Seine ganze Aufmerksamkeit hatte damals Claire und Amia gegolten, sodass er Lia nicht bemerkte und keine Chance hatte, sich ihr zu erklären. Erst diese Verwirrungen hatten zu Lias falschem Verdacht und ihrem Hass Nicolas gegenüber geführt und letzten Endes zu allem, was Lia getan hatte. Lia hatte nicht gewusst, wen und was sie wirklich beobachtet hatte. Und Adam wiederum hatte nicht erkannt, dass es sich bei der sterbenden Frau von damals um Lias Schwester gehandelt hatte, sodass er Lia nie über die wahren Ursachen für den Tod ihrer Schwester aufklären konnte.
Doch endlich waren alle Ereignisse ans Licht gekommen. Endlich konnte Melissa das gesamte Bild klar vor sich sehen. Alles, was geschehen war. Und auch Lia wusste nun um ihren Irrtum. Plötzlich hatte Melissa Mitleid mit dem blonden Mädchen. Lia hatte einen schrecklichen Verlust erlitten und die Szene, die sie beim Sterben ihrer Schwester erblickt hatte, musste zutiefst verstörend gewesen sein. So grauenhaft falsch ihre Schlussfolgerungen auch waren, so verständlich waren sie doch auch.
Es fiel Melissa unendlich schwer, doch sie wollte Lia keine Vorwürfe machen für alles, was diese getan hatte. Aus Lias Sicht hatten ihre Taten Sinn ergeben: ihr Bestreben, Nicolas handlungsunfähig zu machen und gleichzeitig Melissa vor ihm zu schützen. Lia hatte nicht anders gekonnt, als Nicolas für ein gefährliches Monster zu halten. Doch jetzt klärte sich alles auf. Jetzt würden sie Nicolas holen und dafür sorgen, dass er sich erholte. Alles würde wieder gut sein.
Melissa hob den Blick und sah in Adams unsichere Augen direkt vor ihr. Sie wirkten, als wartete er auf ihr Urteil. Mit einem sanften Lächeln gab sie ihm die Vergebung, die er brauchte.
Als sie den Kopf wendete, um zu sehen, wie die beiden Frauen auf Adams Geständnis reagierten, stellte sie fest, dass die Dunkelheit dabei war, den Wald endgültig zu verschlingen. Sie konnte Sarah nicht mehr entdecken und machte nur noch Lias schemenhafte Gestalt und das weiße Glänzen ihrer Augen aus. Dennoch waren der Hass und die Verzweiflung des Mädchens unübersehbar.
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