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Melissa hörte Adam hinter sich zischen. Der Vampir wurde ungeduldig und sie konnte es ihm nachempfinden. »Gibt es sonst noch etwas, von dem ich nicht gewusst habe?«, fragte sie unterkühlt.

Ein amüsiertes Grinsen breitete sich auf Lias Gesicht aus. »Das Beste.«

Verwirrt starrte Melissa ihre ehemalige Freundin an. Was meinte Lia und warum wirkte sie plötzlich so vergnügt? Fragend zog Melissa die Augenbrauen in die Höhe.

»Ich habe dir bereits erzählt, dass ich Marlon regelmäßig geholfen habe, seine Fähigkeiten zu trainieren, und wie das vonstattenging.« Melissa nickte abwartend. »Das war allerdings nicht alles. Was Marlon bis heute nicht begriffen hat, ist, dass ich ihn nicht nur unterstützt habe, seine Kräfte zu lenken. Irgendwann habe ich herausgefunden, wie ich diese abzweigen und ... speichern konnte.« Lia strahlte über das ganze Gesicht.

»Du hast was?« Melissa glaubte, sich verhört zu haben.

»Ich habe angefangen, Marlons magische Energie aufzubewahren. In kleinen handlichen Portionen, nur für mich.«

Kein Wort brachte Melissa nach dieser Offenbarung heraus, doch das war auch nicht nötig.

»Wie?«, knurrte jetzt Adam und Melissa kroch eine Gänsehaut beim Klang seiner bedrohlichen Stimme über den Rücken. Sie musste sich nicht zu ihm umdrehen, um zu wissen, dass seine Augen sich weiter verdunkelt hatten.

»Mit Steinen. Bevorzugt Edelsteine, aber zur Not funktionieren auch gewöhnliche Kiesel.« Triumphierend hob Lia einen Stein vom Boden und hielt ihn Melissa und Adam entgegen. »Es reichte, wenn ich beim Üben einen in der Tasche hatte und zwischendurch meine Hand auf diesen legte. Schon floss die Energie in den Stein. Beim ersten Mal war es bloßer Zufall. Wir waren am Strand, und Marlon hatte wieder einmal einen Zauber vergeigt. Entnervt brach ich die Übung ab und griff nach einem Kiesel, der vor mir lag. Da spürte ich die Energie, die noch immer in meinen Fingern kribbelte, in diesen hineinfließen und half mit ein wenig Willenskraft nach. Später, als ich alleine war, konnte ich mit dem Stein meine eigenen Zauber wirken. Es war so simple. Ab diesem Tag zweigte ich stets etwas Magie bei unserem Training ab, natürlich nur in unauffälligen Mengen, ich wollte ja keinen Verdacht erregen. Doch über die Monate legte ich mir eine großzügige Sammlung an und begann, eigenständig die Kontrolle über die gespeicherten Kräfte zu üben. Marlon ist mir nie auf die Schliche gekommen. Nicht einmal Josi hat begriffen, was ich da tat.« Stolz schob Lia ihr Kinn vor.

Melissa brach einen dünnen Ast vom Baumstamm, auf dem sie saß, ab, um etwas zu haben, das ihre Finger beschäftigte. Zu drängend war das Bedürfnis, ihre Hände ansonsten um Lias Kehle zu schlingen.

Und erneut fügte sich ein Puzzlestück an seinen Platz. »Das war es, was Marlon krank gemacht hat, nicht wahr? Du hast seine Energie gestohlen?«

»Marlon kann doch mit seinen Kräften ohnehin kaum umgehen. Welchen Sinn hat denn ein Zauberer, der nicht das Selbstbewusstsein besitzt, seine eigenen Energien zu befehligen?«

Melissa dachte an das Gespräch mit Josi zurück und wie besorgt diese wegen Marlons Zustand gewesen war. Inständig hoffte sie, die alte Frau würde ihrem Enkel helfen können, wenn diese erst einmal erfuhr, was Marlon zu schaffen machte.

»Aber du kannst damit umgehen?« Die Frage war nicht zynisch gemeint. Sie wollte es wissen. Sie hatte selber die Energie gespürt, die Amias Bernstein beherbergte. Konnte es wahr sein, dass Lia sich an Marlons Kräften bediente und eigenständig Magie ausübte? – Ohne den Zauberer an ihrer Seite zu benötigen? Wenn das möglich war ... Melissa spürte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich.

»Natürlich musste ich erst lernen, die Kräfte ohne Unterstützung zu bändigen. Ein Unterfangen, das ich mir einfacher vorgestellt hatte. Ich begann mit Kleinigkeiten: Ich entfernte eine kleine Warze unter meiner Fußsohle und versuchte Federn schweben zu lassen. Also ganz ähnlich, wie ich es mit Marlon geübt hatte. Doch die Energien schienen sich gegen mich zu wehren, als wüssten sie, dass sie nicht zu mir gehörten. Dutzende Male verbrannte ich mir die Fingerspitzen und es war eine Herausforderung, dir immer neue, plausible Erklärungen für meine vermeintlichen Unfälle zu liefern. Doch trotz der vielen Brandblasen gab ich nicht auf und je entschlossener ich wurde, desto eher gehorchte mir die Magie. Zum Schluss versuchte ich es selbst mit dem Ortungszauber, um eine Person, egal an welchem Ort, ausfindig zu machen. Ich wollte jederzeit in der Lage sein, Nicolas aufzuspüren. Also übte ich.«

Melissa registrierte, wie Lia sie sorgfältig musterte. Was versprach sich das Mädchen von diesem Geständnis?

»Auch an dem Tag nach dem Herbstfest versuchte ich mich an dieser neuen Aufgabe. Ich wollte herauszufinden, ob Nicolas sich im Gästezimmer in Adams Haus aufhielt, doch ich konnte nichts erkennen. Also steigerte ich die Energie. Dass ich es übertrieb, bemerkte ich erst, als ich sein Bett sah – das in Flammen stand. Klassischer Fall von 'dumm gelaufen'. Ich hätte mich selbst Ohrfeigen können, insbesondere, als ich erfuhr, wie die Vampire auf dieses unbedeutende Ereignis reagierten.« Lia seufzte.

»DU hast das Feuer gelegt?« Der Ast in Melissas Hand brach mit einem Knacken. »Marlon hatte gesagt, man benötigte dafür starke Kräfte.«

»Wenn man es gezielt legt, dann vermutlich. Ich bezweifle, dass es mir absichtlich über die Entfernung gelungen wäre, aber es war ein Unfall ... die Magie kann verflixt störrisch sein. Zum Glück hatte ich noch weitere Energie gespeichert, mit der ich üben konnte. Gerade nachdem Karis Blutsauger Nicolas befreit hatten, nach dieser übereilten Entführungsgeschichte, wurde es umso wichtiger. Wir hatten keine Ahnung, wo Nicolas und der Rest von euch sich versteckten, also arbeitete ich quasi täglich mit meiner Steinsammlung an meinem Ortungszauber. Hat eine Weile gedauert, bis ich ihn beherrschte.«

Mit einem Zauber hatte Lia Nicolas ausfindig gemacht. Sie konnte Menschen – oder Vampire – mit Hilfe von Magie aufspüren. Und auf diese Weise musste das Mädchen auch herausgefunden haben, dass Melissa sich auf die Suche nach Nicolas begeben hatte. Fast war Melissa beeindruckt.

»Lass mich raten, besonders gut ließ sich mit Bernstein arbeiten.« Ein warmes Gefühl breitete sich bei ihren Worten, ausgehend von Amias Kettenanhänger, auf ihrer Brust aus, als würde dieser hören, was gesprochen wurde.

»Du weißt von dem Bernstein? Woher?« Endlich war die Überraschung auf Lias Seite. Doch lange dauerte es nicht bis zur Erkenntnis. »Hat Amia es dir verraten? Hat sie dir ihren Stein gezeigt und du durftest sein Pulsieren fühlen? Hat sie dir auch gebeichtet, wie sie an die Energie gekommen ist? – Die kleine Diebin?«

Nein, das hatte Amia nicht. Ob das Mädchen in der Lage war, Magie zu stehlen? Melissa traute dem Lockenkopf eine Menge zu, aber offenbar unterschätzte sie diesen dennoch. Doch entscheidend war im Moment, dass Lia von dem Zauber wusste, der in der Kette gespeichert war.

»Nein, hat sie mir nichts gesagt. Klär' mich auf«, sagte Melissa.

»Ich weiß nicht, wer es dem Kind verraten hat, aber sie war sich völlig im Klaren darüber, dass sie, durch das pure Auflegen ihrer Hand auf meinen Bernstein, die Energie in den ihrigen leiten konnte, wenn sie diesen ebenfalls festhielt. Eine Lektion, die ich damals erst noch lernen musste. Zusätzlich kam die Aufgabe, dem kleinen Quälgeist auch weiterhin wohlwollend gegenüberzutreten.« Spöttisch stieß Lia die Luft aus. »Interessiert es dich nicht, woher Amia diese Dinge wusste? Glaubst du nicht, Nicolas hatte seine Hände im Spiel? Oder dein Freund Adam? Was denkst du, was diese Familie alles vor dir verheimlicht?«

Verdammt, die Frage war gut. Aber Melissa hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, zu sehr beunruhigte sie Adams zunehmende Anspannung. Merkte Lia nicht, wie sie den Vampir reizte? Melissa wollte sich zu gerne etwas anderes einreden, aber es war unbestreitbar, dass die Situation kritisch wurde.

»Hör nicht auf sie, sie will dich nur manipulieren«, knurrte Adam in ihr Ohr.

»Ich weiß. Aber selbst wenn ich ihr ihre Geschichte glaube, heißt dass nicht, dass ich ihr vertraue.«, wisperte Melissa so leise, dass es nur Vampirohren vernehmen konnten.

»Wie lange willst du dir diesen Schwachsinn noch anhören?«

»Noch einen kleinen Moment.« Bis Lia ihr verraten hatte, wo Nicolas war. »Geh, wenn es dir leichter fällt, und versuch dich zu beruhigen. Sie wird mir nichts tun.«

»Nein.« Adams Antwort war deutlich und duldete keinen Widerspruch. Und war für alle zu hören. Und Lia? Sie lächelte. Was glaubte das Mädchen, hatte Melissa zu ihm gesagt? Sie schloss eine Sekunde die Augen und hoffte das Beste.

»Wenn Amia diese Energie gestohlen hat, wie du behauptest, woher hattest du sie dann?« Noch immer war es Melissa ein Rätsel, was genau es mit dem Bernstein auf sich hatte. Der Kettenanhänger hatte ihr von dem Tag erzählt, an dem sie Nicolas zum ersten Mal begegnet war. Sie bezweifelte, dass die anderen Steine, die Lia zum Speichern nutzte, das Gleiche tun würden. Melissa wollte hören, was Lia darüber wusste.

»Als ich von Marlon angerufen wurde, um ihn mit einem Zauber zu helfen, der Nicolas retten sollte, hatte ich Hoffnung. Nicolas hatte sich selbst in eine aussichtslose Situation manövriert und fast wären alle meine Wünsche erfüllt und die Welt von diesem Monster befreit worden. Doch dann kam Marlon und rettete ihn. Ich hätte ihn am liebsten eigenständig erwürgt.« Grimmig verzog Lia das Gesicht. »Ich kam spät in Adams Haus an und Marlon hatte den Rettungszauber bereits gesprochen, doch ich versuchte mein Bestes, um die Magie noch zu stören. Ich ließ die gesamte Energie des Zaubers in den Bernstein fließen. Es raubte Marlon seine ganze Kraft, bis er zusammenbrach ... ich sah keinen anderen Ausweg. Aber es war zu spät. Du warst bereits im Wald aufgetaucht und hast verhindert, dass Nicolas in den Flammen verbrannte. Es war so knapp.« Lias Hände ballten sich zu Fäusten. »Doch ich habe dir nie einen Vorwurf dafür gemacht, Melissa, du wusstest es nicht besser. Du trägst keine Schuld daran, in welche Situation die Magie dich gebracht hat.«

Fassungslos starrte Melissa ihr Gegenüber an. Sie glaubte nicht, dass Lia log. Nein, diese war zutiefst überzeugt von der Richtigkeit ihres Vorgehens und hegte keine Zweifel oder Reue. Lia war der festen Überzeugung, für eine gute Sache zu kämpfen, und in ihrer verzerrten Realität schien es auch Sinn zu machen, dass sie Melissa beschützen wollte. Dass das Mädchen sogar darüber nachgedacht hatte, ob Melissa anzuklagen wäre, zeigte deutlich die verdrehte Sichtweise.

Jetzt fehlte nur noch ein letztes Puzzleteil.

»Wenn du die ganze Zeit gewusst hast, dass der Bernstein den Zauber beherbergt, warum hast du mich dann so lange im Unklaren darüber gelassen? Warum hast du mir nicht gesagt, dass nur dieser Stein zerstört werden muss, damit ich frei wäre? Ohne diese Bindung wäre ich doch gar nicht erst bei den Vampiren geblieben.«

Lia riss die Augen auf. »Wie kommst du auf diese Idee? Dass der Stein die Energie des Zaubers speichert, heißt doch nicht ...« Sie verstummte und Erkenntnis sickerte in ihren Blick.

Melissa hatte einen Fehler gemacht. Lia hatte keine Ahnung gehabt, wie der Zauber zu lösen war – bis jetzt. Wütend über sich selbst, biss Melissa die Zähne zusammen.

»Das hat dir das Kind gesagt, oder? Was ist sie? Eine Hexe? Stimmt es, was sie behauptet? Hast du es getestet?«

Nein, das hatte Melissa nicht. Und das würde sie auch nicht. Nicht, bevor sie Nicolas gefunden hatte. Langsam verlor sie die Geduld. »Jetzt sag mir endlich, wo Nicolas ist!«

»Du hast es nicht getestet«, beantwortete Lia sich nachdenklich ihre eigene Frage, als hätte sie Melissas Forderung überhaupt nicht mitbekommen. »Denn sonst hättet ihr nicht hierhergefunden.« Und plötzlich sprang Lia aufgeregt auf und gestikulierte wild mit den Händen, während die Worte nur so aus ihrem Mund purzelten. »Melissa, weißt du, was das bedeutet? Wir können dich von ihm befreien, du musst nicht enden wie Claire. Du wirst frei sein und wir können Nicolas endgültig beseitigen. Wir müssen nur diesen Stein finden und ...«

»Wo ist Nicolas?« Auch Melissa stand plötzlich auf ihren Beinen, ohne dass sie überhaupt bemerkt hatte, wie sie aufgesprungen war.

Erschrocken hielt Lia inne. »Du willst immer noch wissen, wo er ist? Nach allem, was du erfahren hast?« Das Mädchen kniff die Augen zusammen. »Du willst ihn noch immer zurückholen?«

»WO???« Melissa sprang ein Stück auf Lia zu. Nur mit Mühe konnte sie sich davon abhalten, die Antwort mit Gewalt aus dem Mädchen herauszuschütteln.

Kopfschüttelnd steckte Lia eine Hand in ihre Jackentasche und trat bedächtig einige Schritte vor. »Du würdest ihm selbst dann noch beistehen, wenn er die ganze Welt auslöschen würde, oder? Du weigerst dich zu sehen, was er für ein Monster ist. Du verschließt die Augen vor der Wahrheit. Melissa, Nicolas ist ein Mörder. Er hat meine Schwester getötet. Und sie war sicher nicht die Einzige. Es ist unausweichlich, dass er wieder töten wird. Ich bitte dich, geh nach Hause und vergiss ihn!« Lia überbrückte den letzten Meter zu Melissa. Ihr Blick verriet ein merkwürdiges Wechselspiel zwischen Verzweiflung und Abscheu. »Wenn du ihn befreist, bist du mitverantwortlich für den Tod seines nächsten Opfers.«

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