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»Irgendwann musste ich mit meinem Leben weiter machen, so gut es eben ging. Doch jeden einzelnen Tag dachte ich daran, dass Nicolas unschädlich gemacht werden musste. Eine echte Chance erkannte ich jedoch erst, als ich Marlon entdeckte. Er lief mir zufällig über den Weg und es geschahen merkwürdige Dinge in seiner Gegenwart, Kleinigkeiten, nichts Spektakuläres, ein paar Funken hier, ein wackelnder Gegenstand dort. Anderen Leuten fiel dies überhaupt nicht auf, sie nahmen nicht wahr, was sie nicht glauben wollten. Doch ich verschloss mich keinen Möglichkeiten mehr. Wenn es Vampire gab, warum dann nicht auch Magie? Ich musste herausfinden, was man mit dieser bewirken konnte und beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.«
Lia hob ein welkes Blatt vom Boden auf und spielte damit gedankenverloren, bevor sie wieder den Kopf hob und fortfuhr: »Ich folgte ihm bis zu seiner Bushaltestelle, sprach ihn an und fragte, ob er einen Kaffee mit mir trinken wolle. Ich war nicht darauf gefasst, wie einfach es tatsächlich werden würde. Marlon war die Gutgläubigkeit in Person und so sehr davon überwältigt, dass jemand Interesse für ihn zeigte, dass er nicht auf die Idee kam, ich könnte noch andere Absichten verfolgen. Sofort nahm er sich alle Zeit der Welt für mich. Von da an trafen wir uns immer häufiger, bis ich restlos sein Vertrauen besaß – und wir zusammenkamen. Natürlich brachte ich ihn dazu, mir von seinen Kräften zu erzählen.«
Adams Finger, die weiterhin auf Melissas Schulter lagen, verkrampften sich bei den letzten Sätzen und drückten fast schmerzhaft zu. Doch sie war sich sicher, dass der Vampir ihr nicht schaden wollte. Vermutlich war er sich gar nicht bewusst, wie angespannt er war. Melissa konnte ihm keinen Vorwurf machen, selbst sie ertrug kaum zu hören, wie Lia dem gutgläubigen Marlon etwas vorgespielt hatte. Wie musste es Adam erst ergehen, immerhin war der Zauberer sein bester Freund?
Lia blieb vollkommen gelassen und wirkte eher, als hätte sie von ihrem letzten Frühstück erzählt und nicht davon, wie sie Marlon hintergangen hatte. Mehr interessiert als ängstlich betrachtete das blonde Mädchen Adams verkniffenen Gesichtsausdruck. Ob sie davon ausging, ihn von ihrer Geschichte überzeugen zu können?
»Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass Marlons bester Freund, Adam, mit einem Vampir in Kontakt stand. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich damals nicht bemerkt habe, dass Adam selbst einer war. Aber als ich eines Tages Marlon zu ihm begleitete, und währenddessen Nicolas hereinplatzte, in diesem grässlichen Mantel ... ich wäre fast gestorben. Viel zu lange starrte ich ihn mit aufgerissenen Augen an, bis ich es schaffte, mich zu verabschieden. Ich gab vor, dass mir übel war. Das war nicht einmal gelogen, stand ich doch dem Wesen gegenüber, das meiner Schwester das Blut aus den Adern gesaugt hatte, bis sie starb. Ich flüchtete regelrecht aus dem Haus, fuhr heim und verschloss mich in meinem Zimmer. Erst als ich anfing, diesen Schock zu verarbeiten, wurde mir klar, wie sehr mir das Schicksal an dem Tag in die Karten gespielt hatte. Endlich hatte ich Claires Mörder gefunden.
»Und das willst du alles anhand eines Kleidungsstücks erkannt haben?«
Ungerührt zuckte Lia die Schultern. »Was glaubst du, wie viele Leute in dieser Stadt laufen mit einem derart auffallenden Mantel herum? Es handelt sich unter Garantie um ein Einzelstück, nichts anderes würde Nicolas' aufgeblähten Ego gerecht werden.«
Melissa fluchte innerlich. Sie wusste, dass Lias Vermutung richtig war, Nicolas selbst hatte ihr erzählt, dass der Mantel ein Unikat war. Doch sie beherrschte sich, auf keinen Fall wollte sie das Mädchen bestätigen.
»Und wenn man es erst einmal weiß, dann ist es unverkennbar. Das zu perfekte Erscheinungsbild, die einnehmende Stimme und die unübertroffene Eleganz seiner Bewegungen, Nicolas war ein Vampir, es blieb kein Raum für Zweifel.«
Melissa verschränkte ihre Hände so fest ineinander, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie durfte nicht zulassen, dass sie die Kontrolle verlor. Solange Lia in Redelaune war, wollte sie diese nicht unterbrechen, zu groß war das Bedürfnis, endlich wirklich zu verstehen, was in den letzten Wochen geschehen war – und zu erfahren, wo sie Nicolas finden konnte. »Wie ging es weiter?«
»Nachdem Nicolas die Gruppe im Wald angegriffen hatte, nahm Sarah Kontakt zu mir auf. Sie wirkte völlig verstört und suchte nach Verbündeten.«
Irritiert kniff Melissa die Augen zusammen. »Und warum habt ihr ausgerechnet Lia angesprochen?«, fragte sie direkt an Sarah gewandt, die dicht hinter dem blonden Mädchen stand, als versprach sie sich Schutz von diesem.
Zögernd begann die junge Frau zu reden. »Ich bin Lia einmal auf einer Party begegnet. Damals hab ich sie als ein junges und sehr betrunkenes Mädchen wahrgenommen, das jeden mit ihrem Gerede über Vampire genervt hat. Sie hat mich nicht weiter interessiert.« Kurz überlegte sie. »Das dürfte nicht lange nach dem Tod von Claire gewesen sein. Schnell vergaß ich die Szene wieder. Doch nachdem ich und meine Freunde selbst Opfer eines Vampirs geworden waren, kam mir Lias Geschichte erneut in den Sinn. Ich begann darüber nachzugrübeln, ob an ihrem Erzählungen etwas Wahres dran sein könnte. Schließlich suchte ich Lia auf.«
»Nun, so ein Ausrutscher ist mir nie wieder passiert.« Wieder zuckte das blonde Mädchen mit den Schultern, als würde das alles keine große Rolle spielen. »Niemand nahm mich an dem Abend ernst, und die Menschen erinnerten sich bald nicht mehr an Geschichte. Zum Glück. So hing mir kein verräterischer Ruf nach, als ich Marlon kennenlernte. Und nach dem Nicolas die drei im Wald angegriffen hatte, fand ich plötzlich Verbündete und mein Ziel rückte ein großes Stück näher. Ich musste dafür nicht einmal einen Finger rühren – Nicolas hatte seine eigenen Feinde geschaffen.« Lia strahlte zufrieden. »Schnell fanden wir heraus, dass wir alle es höchstwahrscheinlich mit dem gleichen Vampir zu tun gehabt hatten und wir beschlossen, dass wir diesen auf keinen Fall ewig in unserer Stadt herumlaufen lassen durften.«
Dann wurde sie ernst und blickte Melissa direkt in die Augen. »Ich hatte gehofft, du würdest ebenfalls meine Verbündete werden. Wer, außer dir, hätte mehr daran liegen müssen, Nicolas loszuwerden? Du warst gezwungen, dich in seiner Nähe aufzuhalten, und das, obwohl er dich angegriffen und bedroht hatte. Mir war klar, dass er dich eines Tages töten würde, wenn du dortbliebest. Ob absichtlich oder als Unfall, welche Rolle spielte das? Doch es gelang mir nicht, dich von der Gefährlichkeit der Vampire zu überzeugen, und die Umstände wurden kompliziert, als klar wurde, welche Konsequenzen der Zauber hatte. Wir sahen ein, dass Nicolas nicht sterben, sondern nur außer Gefecht gesetzt werden durfte – um dich zu schützen.« Die letzten Worte schrie Lia fast.
Melissa presste so fest die Zähne zusammen, das sie es knirschen hörte. Dieses Mädchen hatte von Anfang an versucht, sie zu manipulieren. Doch sie zwang sich, Lia weiterreden zu lassen. Jetzt wollte sie alles wissen. »Und dann?«, presste sie knurrend heraus.
»Ich hatte Angst, du würdest den Kontakt zu mir abbrechen, wenn ich dir meine Einstellung den Vampiren gegenüber erzählen würde. Selbst als du noch eine Riesenangst vor Nicolas hattest, hatte Tara dich längst um den Finger gewickelt. Langsam verstand ich, welche Meister Vampire in Manipulation sind, also hielt ich den Ball flach und hab dir vorsichtshalber diesen Job bei Helena vermittelt, damit sie dich zusätzlich im Auge behalten konnte. Ich gab die Hoffnung nicht auf, dich noch aus deiner Verblendung befreien zu können und geholfen hast du uns ebenfalls, indem du mir zuverlässig über die neuesten Entwicklungen berichtet hast.«
Melissa stöhnte auf. Wie hatte sie so dumm sein können? Nicht ein einziges Mal hatte sie Lia misstraut. »Als wir nach dem Herbstfest die Stadt verlassen wollten, hab ich dir diese Neuigkeit brühwarm erzählt. Du hast mir sogar noch beim Packen geholfen.« Sie presste mit aller Kraft ihre Fingernägel in ihre Handflächen. »Und dann hast du mich eiskalt diesem Tom ausgeliefert.«
Die Erinnerung an die Panik und Verzweiflung, die sie in den Händen der Entführer durchlitten hatte, war sofort wieder da und sie fühlte, wie die kalte Angst ihr erneut die Wirbelsäule hinabkroch.
Bekümmert sah Lia sie an, bevor ihr Blick zu ihren Füßen glitt. »Ja, das war ein schwerer Fehler. Wir waren alle aufgeschreckt und dachten, Nicolas würde uns endgültig entwischen. Doch als du so aufgeregt nach diesem merkwürdigen Kuscheltier gesucht hast ... ich musste schnell handeln. Ich hätte das nicht tun dürfen. Wir hätten einen besseren Weg gefunden. Es tut mir undendlich leid.« Lias Füße scharrten auf dem Waldboden herum.
»Es tut dir leid?« Melissa schaffte es nicht weiter, die Person, die da vor ihr saß mit dem quirligen Mädchen in Zusammenhang zu bringen, das sie kennengelernt hatte. Das sie glaubte, kennengelernt zu haben.
Stockstarr saß sie auf dem Baumstamm, zu keiner Reaktion fähig, als sie Adam hinter sich flüstern hörte: »Bitte, sag, es ist okay, wenn ich ihr die Kehle aufreiße. Ich kann mir diese Scheiße nicht länger anhören.«
Melissa drehte sich um und betrachtete Adam mit angehaltenem Atem. Sein Körper war aufs Äußerste angespannt und die Dunkelheit in seinen Augen lag sicher nicht an der einsetzenden Dämmerung. Betont langsam schüttelte sie den Kopf. Adam war nicht hungrig. Er würde sich zusammenreißen.
Stumm betete sie, dass sie recht behalten würde.
»Ja, es tut mir ehrlich leid. Es war ausgemacht, dass dir nichts geschehen wird. Ich habe erst später erfahren, was Tom für ein krankes Spiel gespielt hat. Glaub mir, hätten die Vampire dieser Kari ihn nicht umgebracht, dann hätte ich das übernommen.«
Verächtlich prustete Melissa die Luft aus. »Wie nobel von dir.«
»Ich verstehe, wenn du mir das nicht glauben kannst.« Lia zupfte geknickt an dem Blatt in ihren Händen, sprach dann aber fast ungerührt weiter. »Wie auch immer, kaum das wir Nicolas aus dem Verkehr gezogen hatten, war er auch schon wieder auf freiem Fuß und unsere kleine Gruppe ärgerlich geschrumpft. Es war mein Fehler. Ich hätte nicht davon ausgehen dürfen, dass Marlon zu keinem Zauber mehr fähig war. Ich war fest davon ausgegangen, dass er euch nicht mehr helfen könnte.«
Sarah, die die ganze Zeit reglos hinter Lia stand, holte plötzlich tief Luft und ein merkwürdiges Geräusch entschlüpfte ihr, das fast wie ein Wimmern klang. Ihr Kinn zitterte.
Melissa blickte verwirrt auf. Was ging in der jungen Frau vor?
Natürlich, was Lia so leichtfertig als geschrumpfte Gruppe bezeichnet hatte, war für Sarah der Verlust ihrer Mutter und ihres Freundes – und dennoch stand sie hier mit Lia und hatte dieser dabei geholfen, Nicolas zu verschleppen und zu quälen. Melissa kniff die Augen zusammen. Es wurde immer schwieriger, etwas im dunkelnden Wald zu erkennen. Glitzerten da Tränen in Sarahs Augen?
»Ich habe heute Vormittag mit Helena gesprochen.«, sagte Melissa und registrierte mit Genugtuung, wie Sarahs Hand zu ihrem Mund schnellte.
»Du hast gesagt, sie wäre tot«, schluchzte die junge Frau in Lias Richtung.
Bingo.
Lia zog scharf die Luft ein. Ganz offensichtlich passte diese Mitteilung nicht in ihren Plan. »Ich habe es nur vermutet. Vampire haben sie mitgenommen. Wie hätte ich ahnen können, dass man sie so lange am Leben lässt?« Unruhig zupfte sie an ihren Fingerspitzen, die wie üblich mit Pflasterstreifen bedeckt waren.
Melissa redete weiter: »Sie hat mir von deiner Mittäterschaft erzählt. Sie wollte dafür nur, dass wir Sarah in Ruhe lassen.«
Eine Millisekunde verengten sich Lias Augen gefährlich, doch dann sprach sie ruhig weiter. »Hat sie das? Und, hat sie irgendetwas erzählt, dass ich dir nicht freiwillig gesagt habe? Du hättest gleich mit mir reden sollen. Ach verdammt, ich hätte dir alles bereits gestern Abend sagen sollen, anstatt dich alleine zurückzulassen. Ein weiterer Fehler von mir. Melissa, ich will keine Geheimnisse mehr vor dir haben. Ich will, dass du die Chance hast, alles zu verstehen – damit du selbst entscheiden kannst, was du für richtig hälst.«
»Du warst leider nicht erreichbar«, antwortete Melissa trocken.
»Ja,« Lia seufzte, »das ist ein Problem hier im Wald. Kein Empfang.«
»Ihr sitzt hier seit Stunden rum?« Melissa überlegte, wie lange sie gebraucht hatten, diesen Ort ausfindig zu machen.
»Nach unserem missglückten Gespräch gestern Abend wollte ich nicht riskieren, dass du irgendwelche Dummheiten machst und womöglich diesen gefährlichen Blutsauger aus Unwissenheit wieder auf freien Fuß setzt. Natürlich hatte ich gehofft, du würdest erst gar nicht nach ihm suchen.
(Für alle, die es wissen wollen: mit diesem Kapitel wurde die 200.000 Wörter-Grenze überschritten. Vielen vielen Dank an alle, die bis hier mit Melissa und Nicolas mitgefiebert haben.❤️❤️❤️)
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