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Am liebsten wäre Melissa auf Lia zugestürmt, um sie zu schütteln, bis diese ausspuckte, wo Nicolas sich befand. Sie wollte ihre Fingernägel tief in das Fleisch dieser hinterhältigen Person bohren und ihr die Haut in Streifen vom Körper ziehen, so wie sie Nicolas' Porträt in Streifen gerissen hatte. Nur wegen Lia hatte sie ihre Wut an dem Gemälde ausgelassen.
Lia war schuld an Nicolas' Verschwinden und hatte ihr gleichzeitig gesagt, Nicolas wäre es nicht wert um ihn zu weinen. Lia hatte ihr eingeredet, er hätte nur mit ihr gespielt, dabei hatte das blonde Mädchen die ganze Zeit lediglich vorgespielt, ihre Freundin zu sein.
Lia war die Ursache für Melissas größten Schmerz.
Doch sie zwang sich, stehen zu bleiben und Lia nicht anzurühren. Sie musste herausfinden, wo Nicolas war, und sie zweifelte, dass Gewalt die beste Lösung wäre, um Lia zum Reden zu bringen. Sollte das Mädchen jedoch nicht kooperieren, wäre sie bereit härtere Maßnahmen zu ergreifen.
»Du behauptest, ich wäre auf Nicolas hereingefallen?« Melissa schüttelte den Kopf. »Wie kannst du nur auf die Idee kommen, wo du es bist, die mich hintergangen und angelogen hat. Hereingefallen bin ich nur auf dich. Nicolas hat sich nichts zu Schulden kommen lassen«, zischte sie.
Plötzlich flackerte ein Hass in Lias Augen auf, wie Melissa ihn nie zuvor gesehen hatte. »Nichts zu Schulden kommen lassen? Du hast keine Ahnung, was Nicolas getan hat, oder?« Lia funkelte sie an. »Nein, natürlich nicht. Seine dunkelsten Geheimnisse hat er für sich behalten. Sie hätten ja deine makellose Vorstellung von ihm besudelt, in die du dich ja so verliebt hast.«
Bevor Melissa reagieren konnte, legte Sarah dem blonden Mädchen beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Nicht. Es ist der falsche Zeitpunkt.«, sagte diese, während ihre Augen erneut verängstigt über Adam glitten.
Aber Lia schüttelte die Hand unwirsch ab. »Es ist der perfekte Zeitpunkt. Es wird Zeit, dass Melissa erfährt, was ich alles für sie getan habe und wer ihr geliebter Nicolas in Wahrheit ist. Dafür sind wir doch hier. Um ihr, falls sie herkommt, davon abzuhalten, ihn zurückzuholen. Nicht ich bin diejenige, die sie hereingelegt hat. Und wenn Adam mit anhört, wen er da in sein Haus gelassen hat, umso besser.« Zu Melissa gewandt sprach sie weiter. »Ich wollte dich nur beschützen, die ganze Zeit. Du verstehst einfach nicht, wie gefährlich diese Vampire sind. Insbesondere Nicolas. Sie haben sich nicht unter Kontrolle. Ich musste etwas tun, bevor er dich ernsthaft verletzt – oder Schlimmeres.«
Melissa hätte schreien können. Zu glauben, Nicolas hätte sie verlassen, um sie zu schützen, hatte sie fast um den Verstand gebracht. Aber was Lia hier von sich gab, toppte alles. Sie wollte Lias verdrehte Logik nicht hören. Nur eines interessierte sie: »Sag mir, wo er ist!«
Lange würde sie sich nicht mehr davon abhalten können, dem blonden Mädchen an die Gurgel zu gehen. Lia musste das gespürt haben, denn diese nickte nur. »Okay, ich erzähle dir alles. Von Anfang bis zum Ende. Vielleicht kommst du danach zur Vernunft und gehst zurück in dein gemütliches Gästehaus. Aber dann fangen wir wirklich ganz vorne an, bis wir an dem Punkt anlangen, was mit Nicolas geschehen ist.«
Melissa hatte nicht damit gerechnet, dass Lia so kampflos nachgeben würde. Sie zögerte. Sie hatte nicht die Nerven für weitere Lügengeschichten, doch andererseits hatte Lia gerade versprochen, ihr zu erzählen, wo Nicolas ist. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie wissen, was das blonde Mädchen derart gegen ihn aufgebracht hatte, egal wie verzerrt Lias Sicht auf die Dinge war. Auf keinen Fall würde sie sich wieder von ihr manipulieren lassen.
»Setz dich, könnte ein längeres Gespräch werden.« Lia deutete auf einen, zwischen den Bäumen liegenden, dicken Stamm. Melissa befreite ihre Hosenbeine von den Brombeerranken und ließ sich ohne Protest nieder. Ihr war alles, nur nicht nach gemütlichem Zusammensitzen, doch sie wollte es hinter sich bringen.
Adam blieb dicht hinter ihr stehen, aber das schien Lia nicht zu beeindrucken. Das Mädchen trat näher und hockte sich auf einen Baumstumpf gegenüber des Stamms. Sarah jedoch hatte kein Interesse daran, den Abstand zu dem Vampir zu verringern, und rührte sich nicht.
Kaum ertrug Melissa die Lias Nähe.
»Ich hatte gehofft, dass nie erzählen zu müssen, aber damit du verstehen kannst, wie gefährlich Nicolas ist, musst du wissen, zu was er fähig ist. Oder besser gesagt, was er bereits angerichtet hat. Vielleicht begreifst du dann, warum ich getan habe, was ich getan habe.« Das blonde Mädchen strich sich mit der Hand über den Mund. Sie wirkte angespannt. »Ich habe dir erzählt, dass ich Einzelkind bin, du erinnerst dich?«
Melissa nickte stumm. Sie hatte keine Idee, worauf Lia hinauswollte.
»Nun, das ist nicht ganz richtig. Ich hatte eine Schwester, doch ...« Lia schluckte. Bebte das Kinn des Mädchens? Melissa war sich nicht sicher. »Claire, so hieß meine Schwester, war fünf Jahre älter als ich und es kam nicht oft vor, dass sie freiwillig Zeit mit mir verbrachte. Ich war nur die langweilige kleine Schwester. Umso mehr freute ich mich, als sie mich zu meinem sechzehnten Geburtstag mit ins Kino nahm. So ein richtiger Schwesterntag, ich war ganz aus dem Häuschen. Ich hatte Claire ohnehin lange nicht gesehen, da sie erst am Vortag von einer mehrwöchigen Reise aus Südamerika zurückgekommen war. Ich genoss den Film, nicht weil dieser irgendwie herausragend war, sondern weil ich ihn zusammen mit Claire ansehen durfte. Und nach dem Kinobesuch wollte sie mich noch zum Essen einladen. Doch so weit ist es nie gekommen.« Lia rieb sich nervös die Finger. »Als etwa die erste Hälfte des Films vorbei war, stupste Claire mich plötzlich an und sagte mir, sie müsse an die frische Luft, weil ihr übel und schwindelig war. Sie war wirklich kalkweiß im Gesicht und atmete hektisch. Ich wollte sie nicht alleine gehen lassen, doch der Film hatte eine fesselnde Stelle erreicht und Claire verbot mir, sie zu begleiten. Sie meinte, ich solle mir keine Gedanken machen, sie käme bald zurück, wenn es ihr besser ginge. Also blieb ich im Kinosaal.« Lia schloss für einen Moment die Augen. Als sie diese wieder öffnete, schimmerten es feucht in ihnen. Melissa musste sich selbst sagen, dass sie kein Wort von Lias Vortrag glauben durfte. Das Mädchen wollte sie in die Irre führen, etwas das sie keine Sekunde vergessen durfte.
»Claire kam nicht zurück und als sie fast zwanzig Minuten fort war, hielt ich es nicht mehr aus und ging sie suchen. Zuerst sah ich vor der Saaltür nach, doch dort war sie nicht. Ich durchsuchte die Toilettenräume, erst nur die der Damen, dann auch die der Herren. Aber keine Claire. Also ging ich wieder hinaus und lief Richtung Parkplatz, wo ihr Wagen stand. Es war bereits dunkel und es regnete und weil der Film noch lief, waren keine Leute unterwegs, doch das hielt mich nicht auf. Ich verfiel immer mehr in Panik. Irgendetwas stimmte nicht, da war ich mir sicher. Ich konnte nur noch nicht greifen, was es war.« Lia verkrampfte die Hände ineinander. »Und dann entdeckte ich Claire. Fast hatte sie es bis zu ihrem Wagen geschafft, aber eben nur fast. Sie lag auf dem Boden, halb verdeckt von dem Hinterreifen eines anderen Fahrzeugs, ich konnte nur ihre Beine sehen und ihre Schuhe. Leuchtend rote Sneaker mit rosa Streifen. Sie hatte diese geliebt. Es bestand kein Zweifel für mich, dass es sich um Claire handelte. Dennoch blieb ich in einiger Entfernung stehen und presste mir die Hand auf den Mund. Eigentlich wäre das nicht einmal nötig gewesen, ich hätte auch so keinen Ton herausbekommen, obwohl ich am liebsten laut geschrien hätte. Vermutlich ist das der Grund, warum ich noch lebe.«
Wieder machte Lia eine Pause, als fiele ihr das Weitersprechen schwer. Melissa erinnerte sich daran, dass Lia ihr von einem Theaterkurs an der Schule erzählt hatte. Offensichtlich hatte sie dort eine Menge gelernt. Fast kaufte sie dem Mädchen ihre Story ab. Aber nur fast.
»Ein dunkler Körper beugte sich über Claire. Erst dachte ich, es wäre jemand, der sie gefunden hatte und helfen wollte, doch schnell begriff ich, dass Hilfe das Letzte war, was dieser Mann im Sinn hatte. Im fahlen Licht der Straßenlaterne erkannte ich, dass sein Kopf in ihrer Halsbeuge versunken war, sein Mund an ihrer Haut. Schluckgeräusche drangen zu mir durch. Hell strahlte das Weiß in ihren weit aufgerissenen Augen, die mich blicklos anstarrten – genauso wie der rote Drache auf dem schwarzen Mantel.«
Melissa erstarrte und hinter sich hörte sie Adam nach Luft schnappen. Sie hatte damit gerechnet, dass Lia mit einer bizarren Geschichte um die Ecke kommen würde, aber das übertraf ihre Erwartungen bei Weitem. Doch Lia war noch nicht fertig.
»Der Mann nahm mich nicht wahr, zu abgelenkt war er von seiner ... Tätigkeit. Und er war nicht alleine. Ein kleines Kind stand neben ihn und starrte zitternd und wimmernd auf meine Schwester – ein Mädchen mit braunen Locken.« Lia hob den Kopf und ihre Augen fixierten Melissa herausfordernd, trotz der Tränen, die nun aus diesen quollen. »Kommt dir irgendetwas davon bekannt vor?«
Melissa fehlten zunächst die Worte, doch dann platzte es aus ihr heraus: »Du lügst. Warum sollte ich dir das glauben?«
»Gute Frage. Und glaub mir, du bist nicht die Einzige, die sie stellt. Aber lass mich zu Ende erzählen«, antwortete Lia. »Als ich begriff, was der Vampir war und tat, entfernte ich mich so schnell und leise ich konnte und versteckte mich zitternd hinter einem der Wagen. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Ich wagte es kaum Luft zu holen. Und ich kam meiner Schwester nicht zur Hilfe.« Lia verzog den Mund zu einem bitteren Strich. »Ich hockte dort, bis die ersten Leute aus dem Kino strömten, nachdem die Vorstellung beendet war. Ich kann mich kaum noch erinnern, was dann im Detail geschah. Irgendwelche Leute entdeckten mich und sie fanden auch meine Schwester. Mich steckte man in einen Krankenwagen ... diese Notwendigkeit bestand für Claire nicht mehr.« Lia ballte die Hände zu Fäusten. »Glaub mir, ich habe alles erzählt, was ich gesehen hatte, doch keiner nahm mich ernst. Man schob alles auf den Schock, den ich unverkennbar erlitten hatte, darauf, dass ich es nicht ertragen habe, meine tote Schwester zu entdecken. Wie hätte auch jemand etwas anderes denken sollen? Die Bissspuren an Claires Hals waren nur noch oberflächliche Kratzer und die Ärzte erklärten mir, dass sie sich diese selbst zugefügt hätte, als sie verzweifelt um Luft gekämpft hatte. Als Todesursache wurde eine Lungenembolie angegeben. Man klärte mich auf, was das war und wie diese sich auswirkte, aber ich wusste es besser. Doch keiner glaubte mir – nicht ein einziger Mensch. Wer glaubte schon an Vampire?«
Melissa spürte, wie sich eine warme Hand auf ihre Schulter legte. Sie war dankbar um Adams Unterstützung, seine Berührung erinnerte sie daran, wem sie vertrauen konnte und wem nicht, ein Hinweis, den sie dringend brauchte. Lias Vortrag wirkte unglaublich überzeugend. Dennoch blieb Melissa stumm. Sie würde diese Geschichte mit keinem Wort würdigen.
»Du glaubst mir nicht.«
»Natürlich nicht. Dir darf man nicht vertrauen, das hast du mir eindrucksvoll bewiesen«, ließ Melissa sich doch zu einer Aussage hinreißen.
»Aber ich weiß, was ich gesehen habe, und ich werde es nie vergessen. Oder verzeihen. Niemals. Und ich kann nicht zulassen, dass ähnliche Katastrophen erneut geschehen. Nicolas ist ein Mörder und er hat meine Schwester auf dem Gewissen.«
Melissa schüttelte stumm den Kopf. Eigentlich sollte sie laut schreien und nicht zulassen, dass Lia auf diese Art über Nicolas sprach, aber was hatte das noch für einen Sinn?
Selbst Sarah rührte sich nicht, sondern sah nur angespannt auf ihre Komplizin. Die junge Frau schien jedes Wort zu glauben.
Und dann fasste Lia in ihre Jacke und zog ein kleines Kärtchen hervor. Auf der Vorderseite waren betende Hände in Schwarzweiß gedruckt. Lia öffnete die Karte und reichte sie Melissa.
Ihr Magen zog sich unangenehm zusammen, als sie das abgegriffene Stück Papier entgegennahm. Die Ecken waren verknickt und die Karte sah aus, als würde Lia sie schon lange mit sich führen, nicht nur heute, um ihre Geschichte zu untermauern. Auf der linken Seite stand ein Spruch, wie man sie auf Trauerkarten fand. Auf der rechten Seite war das Farbfoto von einer jungen Frau gedruckt, die Lia verblüffend ähnelte, allerdings ein wenig älter wirkte, und direkt darunter der Name, sowie Geburts- und Sterbedaten. Die Frau war vor weniger als zwei Jahren gestorben und trug den gleichen Nachnamen wie Lia – kein Zweifel, dass es sich um dessen Schwester handelte.
Nachdem sie das Papierstück ausgiebig begutachtet hatte, hob sie den Kopf und bemerkte, wie Lia sie musterte. Nicht berechnend oder gar lauernd, sondern abwartend, fast ein wenig unsicher. Und unendlich traurig. Und gegen ihren Willen registrierte Melissa, wie sie anfing, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Lia die Wahrheit sagte. Sie glaubte dem blonden Mädchen, dass sie eine Schwester hatte und das dieser etwas Schlimmes zugestoßen war. Lias Trauer war fast mit Händen zu greifen, selbst nach der ganzen Zeit. Und die Trauerkarte sprach für sich.
Aber was die Umstände ihres Todes angingen – niemals würde Nicolas so etwas tun. Nie!
Er würde es doch nicht tun? Melissa wusste, dass er keinen besonderen Wert auf Fremde legte, er selbst hatte keinen Hehl daraus gemacht. Sogar sein Umgang mit ihr war anfangs mehr als nur ruppig gewesen.
Erinnerungsfetzen vom Feuer, und wie sie den großen Mann verzweifelt aus den Flammen zerrte, stiegen in ihrem Geist auf. Der stechende Schmerz ihres verbrannten Knöchels und dann die darauffolgende Ohnmacht. Verletzt und hilflos hatte sie im Wald gelegen und er war einfach gegangen.
Plötzlich fröstelte Melissa. Die feuchtkalte Luft des dämmernden Waldes kroch unter ihren Mantel bis auf ihre Haut.
Sie war bloß eine Fremde gewesen, und er hatte sie eiskalt zurückgelassen – aber das war etwas anderes als ein Angriff.
Doch den Mann von ihrem Autounfall hatte Nicolas bedenkenlos getötet – aber da war Nicolas außer sich vor Wut gewesen und wollte sie schützen.
Was war mit den Männern aus der Nacht im Wald, in der der Zauber sie zu ihm gebracht hatte? Auch einen von ihnen hatte er angegriffen. Hätte er ihn ebenfalls umgebracht, wenn er noch die Gelegenheit gehabt hätte? Melissa konnte es nicht sagen. Allerdings hatten diese Männer ihn zuerst angegriffen.
Und Sarah? Sie war es gewesen, die Nicolas überhaupt erst in den Wald gelockt. Sie hatte sich ihm an den Hals geworfen und immer weiter von der Party fortgeführt, ohne zu ahnen, warum er ihr in Wahrheit bereitwillig folgte. Was hätte er mit ihr gemacht?
Heiße Eifersuchtswellen ließen Melissas Gänsehaut verschwinden, als sie zu Sarah sah und sich vorstellte, wie diese eng umschlungen mit Nicolas am Lagerfeuer gesessen hatte, ihre Lippen fest auf seine gepresst und ... STOPP! Diese Gedanken waren vollkommen unpassend und nicht hilfreich. Die Frage war: Hätte Nicolas von Sarah getrunken, gegen ihren Willen?
Nein, dafür hatte er keine Notwendigkeit. Sie hätte sich nicht gewehrt, einen Biss vermutlich nicht einmal mitbekommen, er hätte problemlos seinen Drink bekommen. Und wenn Nicolas zu spät aufgehört hätte? Kam so etwas vor?
Nicolas hatte niemals die Kontrolle verloren, solange er mit ihr zusammen gewesen war – nicht wirklich.
Und er tötete nicht willkürlich. Noch immer stand ihr sein Gesichtsausdruck vor Augen, als Marlon ihn am Strand stumm gebeten hatte, den verletzten Otter zu erlösen. Er hatte abgelehnt.
Und doch, vielleicht gab es Unfälle? Er hatte sie oft genug gewarnt, wie unberechenbar ein Vampir sein konnte. Vielleicht hatte er von Claire getrunken und, ohne es zu beabsichtigen, war er zu weit gegangen? Aber warum sollte er Amia zu einem solchen Ausflug mitnehmen?
Melissa schlang sich die Arme um den Oberkörper. Wieder war sie zu dünn gekleidet, doch diesmal war das nicht der Grund dafür, dass sie zitterte. Sie wusste nicht mehr, was sie glauben sollte. Sie war sich sicher, dass Nicolas keinen Menschen mutwillig töten würde. Aber vielleicht war es ein Versehen. Könnte sie mit diesem Wissen leben? Könnte sie damit leben zu wissen, dass hin und wieder ein Mensch seinetwillen starb – weil er war, was er war? Und würde sie dennoch glücklich an seiner Seite leben können?
Nein. Sie wusste, sie würde es nicht ertragen.
Noch immer musterte Lia jede ihrer Regungen. »Du glaubst mir endlich«, stellte diese fest. Keine Genugtuung lag in ihrer Miene, nur Erleichterung und – Mitgefühl.
Melissa schluckte schwer. Kein Wort brachte sie heraus. Plötzlich spürte sie, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte, die kaum weniger zitterte, als ihr eigener Körper. Sie drehte sich um und sah in Adams blasse Züge. Noch vor einigen Minuten hatte seine Gesichtsfarbe deutlich rosiger gewirkt. Sie wusste, dass er nicht hungrig war, das Gehörte musste ihn genauso schockiert haben, wie sie. Dennoch schüttelte der Vampir mit dem Kopf. »Tu das nicht. Bitte, glaub ihr nicht.«
Sie verstand, dass Adam an Nicolas' Schuldlosigkeit festhalten wollte. Was würde es über ihn selbst aussagen, wenn sogar dem älteren Vampir ein solcher Unfall passieren konnte? Sie legte ihre eigene Hand auf Adams und erwiderte seinen Blick traurig. Dann wandte sie sich wieder Lia zu.
»Ich glaube dir, was das Schicksal deiner Schwester angeht. Aber ich glaube nicht eine Sekunde, dass Nicolas ihren Tod beabsichtigt hatte. Es muss ein Unfall gewesen sein.« Keine Schärfe lag mehr in Melissas Stimme, keine Wut, nur tieftraurige Einsicht.
Erleichtert atmete Lia aus. »Selbst wenn wir den Grund unterschiedlich bewerten, spielt es denn eine Rolle? Ist es nicht so oder so unumgänglich dafür zu sorgen, dass er niemanden mehr schaden kann?«
Logisch gesehen hatte Lia recht. Und moralisch. Wie konnte Melissa dem Mädchen widersprechen, ohne sich selbst und ihre eigenen Wertvorstellungen zu verraten? Ein dunkler Strudel fegte durch ihren Geist und drohte sie gnadenlos mit sich zu reißen. Sie konnte sich jetzt nicht mit dieser Frage befassen, sonst würde sie endgültig untergehen.
Sie musste sich auf etwas anderes konzentrieren. »Erzähl mir, wie es weiterging. Alles. Alles, was du hinter unserem Rücken getrieben hast.«
Lia nickte.
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