10
»Oh, nein!« Erschrocken richtete Melissa sich auf. »Du blutest ja. Das wollte ich nicht. Das tut mir so leid.« Sie griff nach Adams Arm, aber dieser drehte sich schnell weg und presste eine Hand auf seine Wange.
»Schon gut, nichts passiert, nicht mal ein richtiger Kratzer.« Adam eilte zurück in die Küche und wusch sich das Gesicht hastig am Wasserhahn. »Alles in Ordnung, ist nichts zu sehen. Ich glaube, ich hatte nur etwas Nasenbluten, du hast mir wohl ausversehen eine mitgegeben.«
»Tara«, richtete Melissa sich jetzt an die dunkelhaarige Frau neben sich, »du musst ihm helfen! Das sieht schlimm aus.« Melissa versuchte gegen die Übelkeit, die sie noch fest im Griff hielt, anzukämpfen und Adam hinterherzueilen, doch Tara drückte sie sanft aber bestimmt zurück auf das Sofa.
»Beruhige dich Melissa. Adam hat recht, es ist nichts. Du hattest deinen Körper nicht unter Kontrolle, alles hat gezuckt, auch deine Hände, und seine Nase hat einen Schlag abbekommen, so dass sie geblutet hat. Aber es hat schon wieder aufgehört – bitte, bleib sitzen. Du musst erst mal wieder richtig zu dir kommen.«
»Nein, ihr täuscht euch. Da ist ein lange Schlitz. Sein Gesicht ist ganz aufgeschnitten.« Melissa versuchte verzweifelt, Taras Hände abzuwehren, aber diese hielt sie fester, als sie es für möglich gehalten hätte.
»Beruhige dich. Sieh selbst, es ist alles ok. Es sah nur etwas wild aus. Sieh Adam an, jetzt, wo alles wieder gesäubert ist.« Tara zeigte auf Adam, der sich ihnen erneut näherte, ein Küchentuch in Händen, mit denen er sich das Gesicht trocknete. Da war nichts. Kein langer Schnitt. Nur glatte, gebräunte Haut. Und Blut, das in den Kragen seines hellen Shirts gekrochen war. Erstaunlich viel Blut.
Melissa zitterte am ganzen Körper. Sie hatte es genau gesehen. Ein langer Schnitt quer über Adams makellose Haut, eine tiefe, klaffende Wunde. Das konnte sie sich nicht eingebildet haben. Verwirrt sah sie zwischen Tara und Adam hin und her, beide betrachteten sie mit einem beruhigenden Alles-ist-gut-Lächeln. Hinter ihnen Marlon, der verlegen zur Seite blickte.
Etwas stimmte hier nicht.
»Ich habe es doch genau gesehen ...«, stammelte Melissa.
»Du musst dir um Adam keine Sorgen machen. Der erholt sich immer ganz fix.« Amias feine Stimme drang an Melissas Ohr. Amia, Adams Schwester, die ihren Bruder so liebte, die so außer sich geriet, wenn eine Katze eine verletzte Pfote hatte, saß noch immer im Sessel vor dem Ofen und betrachtete die Szene eher mit Neugier als mit Schrecken. »Und was mit dir passiert ist, wirst du bestimmt auch bald verstehen.« Dann hüpfte sie unbekümmert von dem Sitzmöbel herab und verließ den Raum. Adam blickte Tara mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Noch immer dröhnte es in Melissas Ohren und sie kämpfte damit sich nicht zu übergeben. Was war hier los?
»Melissa, glaub uns doch. Es ist alles in Ordnung. Wir haben uns mehr Sorgen um dich gemacht.« Beruhigend legte Tara ihre Hand auf Melissas Oberarm. Aber diese stieß sie weg und presste sich wie ein verängstigtes Tier in die Ecke der Sofalehne.
»Nein! Das stimmt nicht. Etwas ist hier ganz falsch. Ich habe es genau gesehen. Sein Gesicht ... diese riesige Wunde. Und jetzt ist alles wieder heil. Wie kann das sein?« Melissas Stimme bebte.
Adam presste die Lippen zusammen und sah Tara eindringlich an. Marlon blickte betreten auf seine Füße. Marlon! Marlon der Zauberer, diese Welt mit der Magie. Das musste es sein. Er musste etwas damit zu tun haben.
»Marlon, bitte« flehte Melissa ihn jetzt an, »erklär mir, was da gerade passiert ist. Hast du damit etwas zu tun?«
»Ich, ich ..., ich..., nein, ich habe nichts gemacht«, stammelte Marlon. Mehr brachte er nicht heraus.
»Tara, bitte ...«, richtete Adam jetzt das Wort an sie.
Tara schloss kurz die Augen und holte tief Luft. »Na gut, wir müssen dir noch etwas erklären.«
Melissa schaute sie stumm aus weit aufgerissenen Augen an.
»Adam ist ... anders als andere Menschen. Sein Körper funktioniert anders. Seine Wunden heilen schneller. Viel schneller als gewöhnlich. Sein Körper ist kräftiger, seine Haut glatter, seine Bewegungen anmutiger. Ein Teil davon ist dir vielleicht schon aufgefallen. Deshalb macht Amia sich keine Sorgen um ihn. Weil sie weiß, dass ihn nichts so schnell umwirft. Mit Marlon hat das aber nichts zu tun.« Abwartend betrachtete Tara Melissa.
Diese sagte eine ganze Weile nichts und starrte nur auf Adam. Keiner im Raum rührte sich. Ohne Adam aus den Augen zu lassen fragte sie mit zittriger Stimme: »Eine verbesserte Version eines Menschen?«
»So ähnlich«, antwortete Tara.
»Einer der schneller heilt, dessen Wunden sich in rasend kurzer Zeit schließen ...«, wiederholte Melissa abwesend. Und dann begriff sie.
»Wie jemand, der geschlagen und getreten wurde, aber keinen Kratzer hat. Wie jemand, der im Feuer lag, aber keine Verbrennungen davon trägt, wie jemand, den man schon tot geglaubt hat und der nur einen Tag später unversehrt und wie selbstverständlich herumläuft ...«
»Ja«, Taras Stimme blieb ruhig und ernst »genau wie Nicolas.«
Melissa wendete den Blick zu Tara. »Und geschmeidig und kräftig wie du.«
Die Pupillen der dunkelhaarigen Frau weiteten sich. Sie blieb Melissa die Antwort schuldig.
»Und damit hast du innerhalb weniger Sekunden alle Menschen mit den genannten Eigenschaften in diesem Hauses identifiziert.« Anerkennend nickte Adam Melissa zu.
Melissa hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden zuviel erlebt, um Taras Ausführung ernsthaft in Frage zu stellen. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann hatte sie durchaus bemerkt, dass Tara und Adam auf eine subtile Art außergewöhnlich auf sie gewirkt hatten. Ihre Bewegungen waren anmutiger, flüssiger. Ihre Stimmen waren samtiger, ihre Erscheinung fesselnder als bei anderen Menschen. Sie hatte es nur nicht greifen können. Und Nicolas – nun, Nicolas war ein Fall für sich.
»Warum?«, fragte Melissa.
»Warum wir dir nichts davon gesagt haben? Zum einen dachten wir, du hättest schon genug daran zu knabbern mit der Existenz von Zauberei klarzukommen. Zum anderen – wir behalten das Besondere unserer Natur lieber für uns, dann gibt es weniger Aufsehen.« Tara zuckte gelassen mit den Schultern.
»Nein, warum seid ihr so? Wurdet ihr so geboren? Ist das etwas, was ... man in den Genen hat? Bleiben die Eigenschaften, bis ihr alt seid?«
»Nein, wir waren nicht immer so.« Tara holte tief Luft und schien über ihre nächsten Worte nachzudenken. »Man hat uns so gemacht. Aber es ist kein Zauber, wie Marlon sie ausübt. Es ist ... etwas anderes. Ich kann dir das nicht besser erklären.«
»Dann kann jeder diese Fähigkeiten erwerben? Wenn man dazu gemacht wird?«
Melissa war verwirrt.
»Nein! ... Ja. Theoretisch. Aber das würde keiner wollen.«
»Warum nicht? Das würde doch jeder wollen.«
»Nein, Melissa, das würde nicht jeder wollen. Bitte, belasse es dabei!« Obwohl als Bitte formuliert, klang Tara jetzt ungewöhnlich bestimmend, sodass Melissa zusammenzuckte.
»Und ihr heilt wirklich sofort wieder? Auch bei schweren Verletzungen? Es bleibt nichts zurück? – Ich könnte jetzt Adam ein Messer in den Bauch stoßen und er würde es ungerührt rausziehen und sich nur über das Loch in seiner Kleidung ärgern?«
»Es würde wieder heilen, ja«, sagte Adam und sah Melissa an, als wolle er herausfinden, ob sie diesen Test tatsächlich in Erwägung zog. »Trotzdem würde ich es vorziehen, wenn du von dieser Idee Abstand nehmen könntest. Bis es verheilt ist, bereiten mir Verletzungen die gleichen Schmerzen, wie jedem anderen auch.«
»Oh, dann habe ich dir eben doch ziemlich zugesetzt.« Ein schlechtes Gewissen breitete sich in Melissa aus, als sie an die lange Schnittverletzung dachte.
»Der Kratzer? So schlimm war es nicht. Außerdem war ich viel zu beschäftigt damit, dich ruhig zu halten, damit du dich nicht selbst verletzt. Du hast uns ganz schön erschreckt.« Adam hielt kurz inne. »Was war da los?« Aber statt Melissa sah er jetzt Marlon fragend an.
»Ich bin mir nicht sicher. Aber es könnte etwas mit dem Zauber zu tun haben. Oder auch nicht. Es ist ungewöhnlich, wenn jetzt noch Symptome auftauchen, die nicht direkt nach der Durchführung des Zaubers in Erscheinung traten.« Entschuldigend hob er die Schultern. »Wir sollten wirklich sicher sein, dass es Melissa gut geht, bevor sie heim kehrt. Ich sollte versuchen, ob ich noch Energien bei ihr spüren kann, welche, die nicht da sein sollten.« Marlon errötete.
»Ja, warum nicht. Wenn das geht«, stimmte Melissa zu.
»Dafür müsste du mir deine Hände geben ...«
Melissa streckte Marlon vertrauensvoll die Hände entgegen.
Dieser trat nervös von einem Fuß auf den anderen, ohne sich weiter zu rühren.
»Gibt es ein Problem dabei?«, wollte Melissa stirnrunzelnd wissen.
Adam grinste breit. »Das gibt es. Hübsche Mädchen machen Marlon nervös. Insbesondere, wenn er sie berühren soll.« Und dann gab er Marlon einen kleinen Schubs, so dass dieser fast gegen Melissa stieß. Sie ergriff schnell Marlons Hände, bevor er ihr ausweichen konnte, und hielt diese fest umklammert. Sie fühlten sich leicht schwitzig an, aber Melissa ignorierte es und nickte Marlon ermunternd zu. Sie würde später darüber nachdenken, dass Adam sie hübsch genannt hatte.
Marlon schloss die Augen und Melissa konnte ein warmes Kribbeln in ihren Händen spüren, dass sich langsam ausbreitete. Eine sanfte Welle spülte auf sie zu, umglitt ihre Arme, ihre Schultern und über ihren Kopf hinweg, umhüllte ihren gesamten Körper und floss zurück zu Marlon. Wie ein freundlicher Sommerwind an einem ansonsten kühlen Tag. Dieser riss die Augen auf und sah sie mit offenem Mund an. Sie hob fragend eine Augenbraue. Anstatt einer Antwort kam eine zweite, stärkere Welle, während Marlon ihren Blick standhielt und eine für ihn ungewöhnliche Ruhe ausstrahlte. Sie war vollständig eingehüllt von einer merkwürdigen Kraft, einer fremden Energie, aber eigenartigerweise beunruhigte sie das nicht. Dann zog diese Kraft sich langsam zurück in Marlons Hände und Melissa war, als würde eine warme Decke von ihr genommen. Verwirrt löste sie ihre Hände von Marlons und ließ diese in ihren Schoß sinken. Marlons Augen wichen nicht von ihr und eine Faszination lag auf seinem Gesicht.
»Und?«, fragte Melissa schließlich.
Marlon brauchte noch einen Moment, dann begann er zu erklären: »Normalerweise kann ich an Menschen keinerlei magischer Energie feststellen. Was auch völlig in Ordnung ist. So sollte es sein. Aber bei dir ... Du scheinst vollständig in ein magisches Netz eingewebt zu sein. Ich habe sowas noch nie gespürt.«
Melissas Mund wurde trocken. »Ist das etwas ... Schlimmes?«
Marlon zuckte ratlos mit den Schultern. »Das ist etwas sehr Ungewöhnliches.«
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