1. Keine zweite Chance
Gegenwart
Leichter Nieselregen fiel vom Himmel, machte die kalte Januarluft hier außen noch unerträglicher als sie es sowieso war. Zitternd und eingepackt in meiner roten Regenjacke stand ich neben meiner besten Freundin Jane, wartete sehnsüchtig, dass sie endlich ihre Zigarette fertig geraucht hätte, damit ich wieder zurück ins Schulgebäude könnte. Jede verdammte Pause war es dasselbe mit ihr. Wir standen draußen in der Kälte, wurden durchnässt und erfroren halb, doch niemals würde sie ihre Pausenzigarette aufgeben. Genüsslich zog sie ihren letzten Zug, hatte die Augen dabei geschlossen, ehe sie den giftigen Rauch aus ihrer Nase ausatmete, die Augen öffnete und mich frech angrinste. Sie wusste, wie sehr ich das hier hasste, doch sie wusste auch, dass ich sie zu gernhatte, um sie allein zu lassen.
Ich sah kopfschüttelnd von ihr zu dem Himmel empor, wo mein Gesicht gleich ganz sachte von den feinen Tropfen befeuchtet wurde, doch wäre ich nur etwas stärker, würde ich den Regen aufhalten können. Wäre ich etwas besser in meinen Stärken, würde ich die Sonne sehen können. Ich lächelte ganz kurz bitter von dieser Gewissheit, doch ich sah schnell wieder zurück zu meiner Freundin, versuchte nicht zu viele Gedanken daran zu verschwenden. Ich hatte dieser Sache den Rücken gekehrt und dabei würde es bleiben. Ich war genug abgefuckt, ich brauchte da nicht noch mehr kranke und verrückte Dinge im Leben.
„Schau nicht immer so grimmig, Malia. Würdest du auch rauchen, würdest du mich verstehen", sagte sie, drückte die Kippe in den Aschenbecher, der nur noch eine einzige, matschige Pfütze war von dem vielen Regen, der sich mit den Überresten anderer Zigaretten vermischt hatte, widerlich aussah.
„Ich habe genug Probleme, ich brauche nicht noch eine Nikotinsucht", merkte ich lächelnd an, öffnete die Türe und ließ sie an mir passieren, ehe ich selbst in das warme Gebäude trat, wo ich mir gleich die Kapuze herunterzog und die Jacke auszog.
„Das wäre die harmloseste Sucht, die du dir aneignen kannst. Ich finde immer noch, du solltest lieber mit dem Rauchen anfangen als irgendwas anderes, das dich umbringen könnte", sagte sie, klang gleich viel strenger, doch egal wie seltsam es auch rüberkommen mochte, sie sorgte sich nur um mich. Jane hatte von Beginn an die Eigenschaft gehabt, dass sie eine Art mütterliche Fürsorge für mich empfand. Sie wollte mich nur beschützen und bei dem, was bei mir manchmal vor sich ging, wäre Rauchen sicher eines der kleinsten Probleme. Immer noch tödlich, doch vermutlich nicht so tödlich wie manch andere Dinge.
„Na Ladies." Wir beide drehten uns gleichzeitig mit genervten Gesichtsausdrücken um, als Eric Forbes auf uns zulief, dessen blonde Haare wie jeden Tag perfekt, schleimig zurückgegelt waren, dessen Schuluniform etwas zu perfekt sitzt und der wie so üblich an dieser seine Auszeichnungen für besondere Verdienste an der Schule angepinnt hatte. Ich musste wohl nicht wirklich erklären, was für eine Person Eric war.
„Was willst du?", fragte Jane genervt, doch keiner an dieser Schule, aber auch wirklich keiner konnte ihn ausstehen. Er war nervig, schleimig, meinte mit dem Geld seines Papis alles bezahlen zu können und dazu war er noch einfach unfassbar arrogant. Woher er diese Arroganz hernahm, war mir schleierhaft, doch sein Selbstbewusstsein wollte man haben.
„Ihr solltet vorsichtiger da draußen sein und vielleicht euch ja einen starken Kerl suchen, der euch begleitet, euch Schutz gibt von nun an", merkte er vergnügt an und ich tauschte einen verwirrten Blick mit meiner Freundin, doch was war nun wieder sein Problem?
„Ja, wir würden gewiss nicht dich nehmen", schnaubte Jane, packte mich am Arm und wollte mit mir weitergehen, doch so leicht ließ Eric sich bedauernswerterweise nicht abschütteln.
„Habt ihr etwa nicht gehört, dass Kellin Wentworth wieder in der Stadt ist?", rief er uns nach und ich sah, wie einige andere Schüler im Gang sofort ihre Gespräche stoppten, alle ganz ehrfürchtig wirkten und ich selbst glaubte für ein paar Sekunden das Gleichgewicht zu verlieren. Hätte Jane mich nicht gehalten, wäre ich vielleicht gefallen. Mir schwirrte kurz der Kopf und wie all die anderen Schüler auch, sah ich sicher verängstigt aus. Kellin war wieder in der Stadt. Es war wie eine Hiobsbotschaft. Diese Verkündung fühlte sich an wie der Anfang vom Ende. Solange war Kellin nicht mehr hier gewesen, solange war die Stadt wenigstens ein Stück sicherer gewesen. Warum war er zurück? Warum wollte er alle hier nur noch mehr verdammen?
„Wir haben keine Angst vor Kellin Wentworth", sagte Jane standhaft und ich sah sie entgeistert von der Seite an, doch das hatten wir nicht? Seit wann?
„Ah nein? Du denkst stärker zu sein als der gefürchtetste Drogenboss der Stadt, wenn nicht sogar des verfluchten Landes?", fragte Eric abwertend, schien uns wohl Angst machen zu wollen, doch während ich sicher ganz verstört dreinschauen musste, blieb meine Freundin stark. Man konnte sie nicht schnell kleinkriegen. Das war vermutlich einer der Gründe, weswegen ich so gern mit ihr befreundet war. Sie ließ nicht zu, dass man zu Boden fiel, sie erinnerte einen immer an seine eigene Stärke, es war ganz nützlich.
„Ich sage nicht, dass ich stärker bin, ich sage lediglich, dass wir rein gar nichts mit jemandem wie ihm zu tun haben und er kaum vor der Schule auftaucht und Leute umbringen wird!", merkte Jane genervt an, doch die Vorstellung war wirklich albern. Kellin Wentworth war gefährlich, doch was sollte ihn an so einer Schule schon groß interessieren? Wir waren alle zu klein und unbedeutend für jemanden wie ihn. Er verkehrte in größeren, mächtigeren und düsteren Kreisen. Eigentlich sollten wir hier sicher sein. Die Wahrscheinlichkeit ihm beim Rauchen zu treffen war gering, sehr gering.
„Das sagst du jetzt. Dieser Ort ist das reine Drogenparadies. Es ist nur eine Frage der Zeit und dann solltet ihr Ausschau nach starken Beschützern halten", sagte Eric selbstgefällig und ich musste schmunzeln, doch dann würden wir uns gewiss nicht an ihn wenden. Er wäre doch der erste, der schreiend wegrennt, würde er jemanden wie Kellin sehen.
„Wir halten Ausschau", sagte ich und zog Jane lachend mit mir fort von dem nervigen Jungen, versuchte das Thema Kellin Wentworth schnell aus meinem Kopf zu scheuchen, doch es schien als würde tatsächlich jeder über diese Angelegenheit sprechen. Mir fiel erst jetzt auf, dass das wohl schon den ganzen Tag das Gesprächsthema Nummer eins war. Ich achtete normalerweise nicht wirklich auf meine Mitschüler, doch nun bemerkte ich ihre Angst. An jeder Ecke sah man die Leute tuscheln, hörte immer wieder, wie es um Drogen ging, um Kellin, um Dinge, die er angeblich getan hatte und die grausam waren, würden sie der Wahrheit entsprechen. Doch wie viel Glauben konnte man den Worten anderer schenken? Keiner hier hatte ihn je wirklich getroffen vermutlich. Wer von ihnen sollte schon so tief in der Scheiße stecken, um ihn persönlich kennen gelernt zu haben? Nun ja, ich war wohl einer dieser unglücklichen Personen. Ich verzog leicht das Gesicht, verscheuchte die Bilder der Vergangenheit.
„Was meinst du?", fragte Jane mich, wirkte unruhiger als zuvor. „Glaubst du, er ist wirklich wieder da?"
„Woher soll ich das schon wissen?", fragte ich, wollte mir nicht den Kopf darüber zerbrechen müssen.
„Naja, du weißt schon... wegen eurem Band und alles. Spürst du seine Anwesenheit dann nicht?", fragte sie ehrfürchtig und ich lächelte bitter.
„Nein. Unser Band existiert im Prinzip gar nicht. Ich würde vermutlich nur merken, dass er da ist, wenn wir uns im selben Raum befinden und dann hätte ich genauso gut meine Augen nutzen können", sagte ich. „Aber können wir das Thema wechseln? Ich will darüber nicht weiter nachdenken müssen. Wir haben nichts mit Kellin zu tun." Und daran würden wir nichts ändern! Kellin war vielleicht mein Seelenpartner und wir wurden vor drei Jahren gegen meinen Willen aneinandergebunden, doch ich hatte ihn seit diesem Tag nie wiedergesehen und wollte daran nie irgendwas ändern müssen. Diese ganze Geschichte mit den Seelenpartnern war mir sowieso zu kompliziert. Ich wollte so tun, als wäre ich normal, denn normale Menschen hatten solche Bindungen nicht und genau das war es, was ich wollte.
„Stimmt, solange Dima uns nicht in zu große Scheiße hineinzieht zumindest, sollten wir unsere Ruhe haben dürfen", murrte sie und ich verzog erneut leicht das Gesicht, wollte auch ganz sicher nicht an Dima denken müssen. Leider hingen beide Namen zu eng zusammen. Sprach man über Kellin, so fiel das Thema früher oder später auch auf Dima. Hier war es einfach bekannt, dass Kellin und Dima alte Feinde waren. Dieser war nach Kellin vermutlich einer der größten Drogenlords dieser verdammten Stadt und er war vielleicht weniger furchteinflößend, doch sicher nicht weniger gefährlich. Nein, ich wollte einfach am liebsten gar nicht über einer dieser Männer reden oder nachdenken. Beide hatten mein Leben in der Vergangenheit zerstört, beide hatten mir mehr Albträume zubereitet als irgendwer sonst. Würde ich meine geliebte Normalität beibehalten wollen, würde ich beide Männer für immer aus meinem Kopf verbannen müssen.
„Sehen wir uns dann heute Abend?", fragte ich sie, da wir nun unterschiedliche Kurse haben würden bis zum Schulschluss und wir jedes Wochenende zusammen abhingen, meistens bei den schlimmsten Partys überhaupt. Es war unsere liebste Beschäftigung. Es war nett für ein paar Stunden in einem Raum zu sein, wo es zu laut war, um klar zu denken, wo man sich betrinkt und zu guter Musik frei tanzen konnte.
„Klaro, ich frage Louis, wo was geht und hole dich dann ab", sagte sie, drückte mir einen Kuss auf die Wange und lief schon zu dem Wissenschaftsflügel, während ich in Richtung des Kunstklassenzimmers trottete, mich freute wenigstens gleich mein liebstes Fach zu haben, mit den Bildern, die ich malte, meine gute Laune zurückholen konnte. Kaum lief ich die ersten Schritte, packte mich unerwartet jemand von hinten. Mein Mund wurde mir zugehalten, so dass mein Schrei abgedämpft wurde und panisch ließ ich mich in eine Besenkammer ziehen, bekam es mit der größten Furcht zu tun, bis ich da hörte, mit wem ich es zu tun hatte.
„Fuck, Malia, ich bin es nur." Ich wurde losgelassen, drehte mich mit einem rasenden Herzen zu Jason um, der mich frech angrinste und ich schlug ihm sauer gegen die Schulter.
„Was ist nur los mit dir?", fragte ich sauer, doch war das die neue Art ein Gespräch anzufangen? Jemanden in eine Besenkammer zu zerren?
„Ich wollte mit dir reden."
„Ich ziehe dafür üblicherweise niemanden mit mir, als ob ich gerade eine Entführung plane", zischte ich, hielt mir die Brust über meinem schlagenden Herzen, beruhigte mich allmählich. Ich lehnte mich an die Wand ihm gegenüber, sah ihn vorwurfsvoll an, wo mir auffiel, wie mitgenommen er wirkte. Oh fuck.
„Tut mir leid, ich wollte nur nicht gehört werden", entschuldigte er sich, kam mir näher, wo er sich mit seinen Händen rechts und links von mir abstützte, ich sofort bemerkte, dass er zugedröhnt war. Seine Pupillen waren geweitet, seine Schuluniform trug er schlampig, die Krawatte fehlte, das Hemd war falsch zugeknöpft. Seine blonden Haare sahen aus, als ob er durch einen Sturm gelaufen wäre und ich war sofort ganz besorgt.
„Was ist los? Wieso bist du high in der Schule?", fragte ich vorsichtig. Dass Jason ein kleines Drogenproblem hatte, wusste ich, seit ich ihn kannte, doch eigentlich hatte er sich so weit im Griff wenigstens in der Schule normal zu sein, seine Sucht eher in der Nacht und vor allem bei Partys auszuleben. Ihn so zur Mittagszeit zu sehen war neu und es beunruhigte mich. Wir waren seit Jahren enge Freunde und seit Jahren hatte ich Angst, dass er irgendwann zu weit gehen würde mit dieser Scheiße. Dass er so zur Schule ging, so aufgelöst wirkte, es war kein gutes Zeichen.
„Ich habe Mist gebaut, riesigen Mist", sagte er, klang panisch, schien richtig Angst vor irgendwas zu haben und das machte mir selbst auch Angst. Was war geschehen? Es war nicht normal, wie er sich benahm, dass er mich so in eine Kammer zog. Irgendwas musste ihm wirklich zu schaffen machte. Er schien sich versteckt zu halten. Was hatte er getan?
„Was ist los?", fragte ich sofort, sah Tränen in seinen blauen Augen funkeln.
„Du weißt, dass ich für Paul deale?" Ich nickte, doch das war mir bekannt. Paul Rosings, die rechte Hand von Kellin Wentworth. Wie Jason an solche Leute geraten war, wusste ich nicht, doch in der Untergrund-Szene unserer Stadt kam man schnell in Kontakt mit dem schlimmsten Abschaum und irgendwie musste Jason sich seinen Stoff verdienen. Er stammte zwar wie so gut jeder dieser fucking Elite-Schule aus wohlhabenderem Hause, doch reich genug, um die Mengen an Drogen zu finanzieren, die er verbrauchte, war Jasons Familie nicht, nicht einmal annähernd.
„Ich habe seine Ware verloren", sagte er und ich keuchte schockiert auf, musste keine Dealerin sein, um zu wissen, dass das schlecht war, dass das verdammt beschissen schlecht war.
„Jason", sagte ich, sah meinen Freund entsetzt an, doch jemand wie Paul Rosings würde nicht über so etwas lachen und darüber hinwegsehen. Er würde ihn umbringen, wenn er ihm nicht sein Geld besorgte. In dieser Welt wurden keine zweiten Chancen vergeben.
„Er wird mich töten", sagte Jason, sprach meine Gedanken laut aus und mir kamen die Tränen, doch das konnte er doch nicht... man musste doch irgendwas tun können! Wie hatte er das bitte geschafft? Wie konnte man denn Drogen verlieren? Man verlegt so etwas doch nicht einfach.
„Wie viel ist es?", fragte ich, hatte keine Ahnung, in was für einer Preisklasse wir uns hier bewegten, wusste nicht einmal, was genau mein bester Freund da eigentlich an unsere halbe Schule vertickte, wollte es nicht wissen, doch so wie er mich ansah, musste es viel sein.
„8000", sagte er und ich presste meine Hand auf den Mund, doch das war ein Haufen Geld. So viel besaß ich gewiss nicht, er sicherlich auch nicht. Woher wollte er 8000 bekommen? Keine Bank würde ihm einfach einen Kredit geben, er müsste schon alles, das er besaß, verkaufen und selbst das würde schwer werden, denn viel Zeit hatte er sicher nicht. So aufgelöst wie er war, drängte die Zeit wohl sehr.
„Was hast du jetzt vor?", fragte ich und ihm liefen Tränen übers Gesicht, während er sich die Haare raufte.
„Meine Eltern geben mir nichts mehr und bestehle ich sie nochmal, stecken sie mich in die Klinik. Ich habe genug Schulden bei anderen, ich habe nur noch dich, die ich fragen kann", sagte er und ich schüttelte langsam den Kopf.
„Ich habe nicht so viel Geld." Was dachte er denn? Meine Familie war nicht arm, doch ich wurde nicht verwöhnt und Bargeld lag sicher auch nicht offen im Haus herum. Ich würde meine Familie auch schon bestehlen müssen für diese Summe und das wollte ich nicht. Würde ich sie darum betteln, würde ich nur selbst von ihnen gleich wieder weggesperrt werden. Sie würden mir nicht glauben, für wen das war und selbst wenn, dann würden sie nicht wollen, dass ich auch nur irgendwas mehr mit Jason zu tun habe.
„Aber er schon", merkte er an und ich wusste genau, auf wen er hinauswollte und ich schüttelte hastig den Kopf, konnte nicht glauben, dass er das sagte, dass er mich überhaupt traute zu fragen. Er kannte meine Vergangenheit, wie konnte er das von mir verlangen?
„Das kann ich nicht... er würde mir das nie geben, ich... Jason, es muss einen anderen..."
„Und welchen? Wenn ich ihm das Geld bis Montag nicht gebe, bin ich Geschichte. Hast du nicht gehört? Kellin fucking Wentworth ist zurück? Er wird mich ausweiden. Dem Typen bin ich egal. Ich bin nur der Idiot, der sein Zeug verloren hat und man darf sich keine Fehler erlauben", sagte er, schluchzte auf und mir selbst kullerten Tränen übers Gesicht, doch ich wollte ihn nicht sterben sehen, doch gleichzeitig wollte ich nicht das tun müssen, worum er mich da bat. Ich saß schon genug in der Scheiße, ich wollte da endlich raus und nicht noch tiefer zurück in dieses Loch.
„Wenn ich ihn darum bitte, wird er mich nie wieder gehen lassen", sagte ich leise und er umhüllte mein Gesicht mit seinen kalten Händen, zitterte.
„Ich verspreche dir, dass ich dir helfe. Aber bitte hilf mir zuerst. I-ich, ich werde versuchen clean zu werden und alles, aber du musst mir helfen. Bitte Malia, bitte, bitte, bitte", sagte er und ich wollte so gern nein sagen, so gern wollte ich einfach gehen, doch wie könnte ich einem Freund den Rücken zuwenden, wenn er mich so dringend brauchte? Ich schloss also meine Augen und Tränen liefen nun über mein eigenes Gesicht, als ich ihm meine Antwort mitteilte: „Ok."
Jason presst sein Gesicht an meine Halsbeuge, umarmte mich feste und heulte nun vor Glück.
„Danke. Ich danke dir so sehr. Du bist einfach unglaublich", schluchzte er und ich erwiderte die Umarmung, kam mir selbst jedoch hilflos dabei vor. Oh, Jane würde mich umbringen, wenn sie hiervon Wind kriegt. Ich gab meine eigene Freiheit auf, sie würde das nicht verstehen können, doch ich konnte niemanden in Not zurücklassen, das war nicht meine Art. Ich hatte gelernt meine eigene Hilflosigkeit so umzusetzen, dass ich versuchte anderen das zu geben, was ich mir selbst nie geben konnte, doch dieses Mal ging ich vielleicht etwas zu weit.
Ich wusste nicht, wie ich die Schule überstanden hatte mit dem Gespräch aus der Besenkammer in meinem Kopf hämmernd, doch ich hatte es überlebt und war sogar nach Hause gekommen, ohne unterwegs mich überfahren zu lassen bei meiner Unaufmerksamkeit. Naja, mein Haus war so eine Sache. Ich lebte nicht bei meinen Eltern, da diese mich vor Jahren bereits an meine Großeltern abgeschoben hatten, so dass ich getrennt von meinem neun Jahre alten Bruder nun hier lebte. Es war jedoch nur halb so wild. Ich liebte meine Großeltern und mein Verhältnis zu meinen Eltern war durch diese getrennte Wohnsituation besser geworden. Etwas besser zumindest. Vermutlich war jeder glücklich mit der Situation. Neben meinen Großeltern wohnte noch meine knapp zehn Jahre ältere Tante im Haus, da diese noch nicht bereit dazu war auszuziehen, lieber auf ihre große Liebe dafür wartete, die jedoch einfach nicht so recht kommen wollte. Keine Beziehung hielt länger als wenige Monate, doch ansonsten war Tante Lilien nett. Wir verstanden uns ziemlich gut, dank des geringen Altersunterschiedes, ich betrachtete sie gern als meine große Schwester, auch wenn ich leider nicht über alles mit ihr reden konnte. Das Gespräch mit Jason zum Beispiel war etwas, das ich ihr niemals anvertrauen könnte. Wüsste nur irgendwer in meiner Familie von der Sache Bescheid, würde ich schneller in der Klinik landen als mir lieb wäre.
„Ich bin da", rief ich, kaum fiel die Türe hinter mir ins Schloss. Ich hing meine nasse Regenjacke auf, streifte meine Stiefel von meinen Füßen und ging in die Küche, wo meine Oma gerade dabei war, einen Kuchen zu backen.
„War dir wieder langweilig?", fragte ich sie, doch mein Großvater arbeitete noch, war den halben Tag wie ich meistens nicht im Haus und Lilien war ebenso oft unterwegs. So musste meine Großmutter sich die Zeit eben anders vertreiben.
„James hat morgen Geburtstag, da wollte ich dem Lieben etwas Gutes tun", sagte sie und ich lächelte von der lieben Geste, doch dass sie für Leute Kuchen backte, die lediglich die Arbeitskollegen meines Großvaters waren, war zu gütig.
„Er wird ihn sicher toll finden", sagte ich, drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
„Und wie war die Schule? War denn alles gut?", fragte sie mit ihrem üblichen besorgten Gesichtsausdruck, doch ich verdiente diese kleine Sorge in ihren Augen, ich verdiente es, dass man immer extra nachfragen musste.
„Alles bestens", sagte ich. „Wirklich." Sie sah mich zweifelnd an. Offenbar sah man mir meine Sorgen an, wie nervös und angespannt ich war. Nein, ihr konnte man nicht viel vormachen, meine Großmutter war gut darin, mich zu durchschauen und ich belog sie so ungern, doch in Sorge versetzen wollte ich sie nur noch weniger. Ich liebte sie als wäre sie meine echte Mutter. Sie war zumindest immer so viel mehr für mich da gewesen und ihr zu schaden war nichts, das ich wollte, doch dafür müsste ich manchmal lügen.
„Vergiss nicht, dass du mit uns reden musst, wenn es wieder schlimmer wird. Nur so können wir dir helfen, mein kleiner Engel", sagte sie sanft und ich war versucht die Augen zu verdrehen, tat es jedoch nicht. Sie machte sich ja nur Sorgen.
„Natürlich." Ich wandte mich ab und lief in den zweiten Stock, wo sich mein Zimmer befand. In diesem zog ich mir den Blazer der Schuluniform aus, warf ihn achtlos über eine Stuhllehne und warf mich auf mein weiches Bett und wusste nicht, wie ich das alles schaffen sollte. Ich musste Jason helfen und würde dafür einen enormen Preis bezahlen. Er würde nicht clean werden. Ich hatte diese Worte zu oft gehört, wusste genau, dass er alles gesagt hätte, um mich glücklich zu machen, doch es beeinflusste meine Entscheidung nicht. Ich wollte helfen, musste einfach helfen.
Mein Handy vibrierte und ich las die Nachricht, die ich von Jane bekommen hatte.
22 Uhr bin ich bei dir. Party in der alten Fabrik.
Ich legte mein Handy wieder zur Seite, doch die alte Fabrik war ein beliebter Ort für Dealer. Ich wusste, dass mit viel Glück Dima selbst auch dort sein würde. Er war die einzige Person, die ich kannte, die mir so viel Geld geben würde. Würde ich dorthin gehen und ihn nach all der Zeit wiedersehen, dann würde ich ihn um Hilfe bitten und dann würde sich alles verändern. Es würde sich alles verändern wie vor drei Jahren schon und es würde nicht schön werden. Ich war da einmal herausgekommen, ein zweites Mal würde ich das nicht schaffen.
Aloha :) Das erste richtige Kapitel. Ich hoffe es gefällt euch. Viele Dinge über die Vergangenheit klären sich im Laufe der Geschichte erst. Würde mich über eure bisherige Meinung sehr freuen xx
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