46. Stories

Wir saßen in einem Halbkreis um Brian. Um uns herum plauderten die anderen Grüppchen, wir jedoch warteten still darauf, wann Brian endlich beginnen würde.

„Alles geschah in England, an einem kalten Herbsttag. Ich spazierte in einem meiner Lieblingsorte, ganz weit weg von der Stadt. Ich genoss das Rauschen des blauen Meeres und den atemberaubenden Blick darauf, den die Klippen boten. Heute war fast niemand hier, weil der Himmel grau war und ein starker Wind heulte. Ich dachte, dass das besser für mich sei, denn so konnte ich die Ruhe genießen. Anfangs stimmte das auch so, aber allmählich vermisste ich die sonst so friedliche Atmosphäre. Die Wellen unten peitschten gegen die Klippen, der Wind schien mich wegwehen zu wollen, und auch der Himmel wurde immer dunkler. Ich versuchte das alles nicht zu beachten und konzentrierte mich stattdessen auf meine Beine.

Irgendwann kam ich bei einer Bank an, an der ein alter Mann saß. Er war seltsam gekleidet, sehr dunkel und altmodisch, seine Augen waren geschlossen, seine Hände auf seinem Bauch gefaltet. Ich dachte, er schliefe, also drehte ich mich einfach den Klippen zu und beobachtete das vom Wind aufgewühlte Wasser.

„Junge", hörte ich plötzlich eine krächzende Stimme hinter mir und drehte mich um. Der Alte sah mich mit grauen, beinahe farblosen Augen an. Ich stellte erschrocken fest, dass die Gegend um uns herum schwarz-weiß aussah, so wie in einem alten Film.

„Junge, hörst du sie?", fragte der Mann.

„Was meinen Sie?"

Sie. Hörst du sie?", fragte er erneut.

„Nein, tut mir leid", meinte ich kurz und wollte mich zum Gehen abwenden. Ich hatte keine Lust auf die Spinnerei des Alten.

„Warte. Falls du sie doch hören solltest, lauf, Junge. Lauf ganz weit weg. Sie ist böse."

„Wer ist sie? Wen meinen Sie?", fragte ich. Dieser Typ nervte mich. Ich drehte mich ein letztes Mal zu ihm um, aber er war weg. In der Ferne hinter der Bank, auf der er gesessen war, entdeckte ich einen Friedhof. „Ich sollte gehen", dachte ich, und versuchte, meinen Herzschlag zu verlangsamen.

Während ich denselben Weg nahm, den ich gekommen war, hörte ich eine Stimme in meinem Kopf. Zuerst dachte ich, ich würde sie mir einbilden, aber sie war da. Eine zarte und schöne Frauenstimme. Ich blieb stehen und lauschte gespannt. Sie sang ein wundervolles Lied, und plötzlich wusste ich, dass sie gefunden werden wollte. Von mir. „Was für eine Frau wohl hinter dieser süßen Stimme steckt", fragte ich mich und ging in die von ihr angewiesene Richtung. Sie führte mich zum Friedhof, und je näher ich ihr zu sein schien, desto ungeduldiger wurde sie. Sie hetzte mich, wollte dass ich schneller kam, und ich rannte. An unzähligen Grabmälern vorbei, wich Bäumen und Sträuchern aus, eilte zu ihr, bis vor mir ein alter Baum mit einem dicken Baumstamm stand. Ich wusste, sie war dort. Ich fühlte es.

Unter diesem Baum befand sich ein weiterer Grabstein, dessen Inschrift ich las. Mark Govrent, anscheinend ein Tourist, war hier begraben, an diesem Ort, weil man ihn hier gefunden hatte. Er war jedoch kein Selbstmörder, wie die meisten, die hier lagen.

Das Foto erblickte ich erst, als ich schon unter dem Baum stand. Ich kannte das Gesicht, nur in einer älteren Version.

Und als ich kalte Finger in meinem Gesicht spürte, verstand ich. Leider war es schon viel zu spät. Ihre Krallen bohrten sich in mein Gesicht und ich fühlte das Blut, das meine Wangen herunterströmte." Brian verbeugte sich und setzte sich auf seinen Platz. Einige klatschten, Justin und Sophie knutschten und ich saß da und dachte nach. Die Geschichte war gar nicht wirklich gruselig gewesen, aber Brian hatte sie sehr gut erzählt, seine Stimme war überzeugend gewesen.

„Danke, danke", meinte er, „aber ich muss sagen, ich hatte eine tolle Lehrerin."

Ich horchte auf. Brian hatte eine Lehrerin, die ihm das Erzählen beigebracht hatte?

Eine Betreuerin sah auf ihre Uhr und meinte dann, es wäre Zeit, schlafen zu gehen. Also fingen alle an, ihre Bettdecken auszurollen und sich in der Scheune zu verteilen.

Nach ein paar Ermahnungen von den Betreuern wurde es sogar still. Ich lag in meinem „Bett" und versuchte, die Puzzleteile zusammenzulegen. Es musste irgendetwas geben, das ich noch nicht durchschaut hatte, irgendeine Verbindung musste es geben. Justin kommt vielleicht drauf, dachte ich, und kroch unauffällig zu ihm hinüber, doch Sophie schmiss sich sofort auf ihn, als sie mich bemerkte. Ich wollte warten, bis sie einschlafen würde, merkte aber, dass mir selbst die Augen zufielen.

Am nächsten Morgen wurden wir wie immer um acht Uhr geweckt, worüber sich Chloe eine halbe Stunde später beim Frühstück beschwerte.

„Ich meine, im Ernst, sie haben uns viel später ins Bett geschickt, aber aufwachen müssen wir wie immer?"

Ich hörte ihr fast gar nicht zu. Dafür war ich zu müde. Erst als das Stichwort Brian fiel, horchte ich wieder auf.

„Er hat gesagt er liebt mich", Chloe strahlte, „vielleicht werden wir ein Paar!" Paula freute sich total und gratulierte ihr, während sich in meinem Magen ein ungutes Gefühl ausbreitete.

Nach dem Essen führte uns Yvonne in die Scheune, in der wir den Müll von letzter Nacht aufsammeln mussten, was nicht gerade wenig Arbeit war. Fast jede Gruppe außer unserer schien Knabbereien mitgehabt und diese auch erfolgreich verputzt zu haben.

Wir arbeiteten bis zum Mittagessen. Dann tauchte Brian auf und meinte, er müsste mit Chloe reden.

Beide kamen zu spät zum Essen und man sah ihnen an, dass die Verspätung ihnen peinlich war.

„Was war denn los?", fragte Paula.

„Wir sind zusammen!", Chloe kostete es große Mühe, sich zu beherrschen, „er hat aber gesagt, wir sollten vorsichtig sein, denn diese Beziehung könnte für einige seltsam aussehen."

„Da hat er Recht", murmelte ich. Chloe war zu glücklich, um auf meinen Kommentar einzugehen.

Justin kam kurz zu unserem Tisch, flüsterte mir zu, ich sollte nach dem Essen beim See auf ihn warten, dann ging er um sich Nachschub holen. Ich freute mich darüber, schließlich wollte ich auch einiges mit ihm besprechen, aber auf Paulas und Chloes fragende Blicke ging ich nicht ein.

Alle anderen waren schon längst weg, als Justin endlich auftauchte.

„Na, bist du deine kleine Beschützerin losgeworden?", fragte ich neckend.

„Ich wollte genau darüber reden. Kannst du mir helfen?", meinte er.

Damit hatte ich nicht gerechnet. „Hä? Wie helfen?"

„Naja, dass sie mich in Ruhe lässt. Bitte, Jenny", fügte er hinzu, als er meinen irritierten Blick sah.

„Und wie stellst du dir das vor?"

„Keine Ahnung. Irgendetwas, was sie mich vergessen lässt. Oder hassen. Hauptsache, sie lässt mich in Ruhe."

„Aha. Das heißt dein kleines Späßchen ist in die falsche Richtung gelaufen, und jetzt soll ich das für dich regeln? Tja, Justin, endlich wirst du bestraft, weil du unschuldige Mädchen ausnutzt!" Ich kochte vor Wut.

Er schüttelte den Kopf. „Bitte, Jenny."

Ich blieb stur.

„Justin, Schatz, da bist du ja!", quickte Sophie. Sie und einige ihrer Freundinnen kamen auf uns zu.

Justin warf mir einen flehenden Blick zu, und als er sah, dass ich mich nicht rührte, beugte er sich zu mir vor, schlang die Arme um mich und küsste mich.

Für einen kurzen Augenblick vergaß ich die Welt um uns herum. Ich dachte nicht nach, sondern konzentrierte mich nur mehr auf seine Lippen, die sich so richtig auf meinen anfühlten. Scheiße, ich hatte ihn vermisst!

Und dann zerstörte Sophies Aufheulen alles. Oder es rettete mich.

Ich stieß Justin von mir weg und sah, wie Sophie wegrannte. Sein Blick folgte ihr und er grinste zufrieden.

„Danke", meinte er zu mir.

„Danke?!", schrie ich, „Scheiße, du hast mich schon wieder benutzt! Scheiße!" Die Tränen strömten bereits über meine Wangen, als ich ihn ohrfeigte. Dann drehte ich mich wütend um und lief weg.

Wie konnte er nur? Warum hatte ich mich von ihm küssen lassen? Warum gefielen mir seine Küsse so sehr? Warum liebte ich dieses Arschloch?!

Ich wollte niemanden sehen und mit niemanden reden, deswegen rannte ich hinauf auf den Dachboden und setzte mich vor die abgeschlossene Tür.

Ich wischte meine Tränen an und merkte, dass meine rechte Hand rot war. Hoffentlich sieht auch sein Gesicht so aus, dachte ich wütend.

Mir wurde langweilig, nachdem ich mich beruhigt hatte, also beschloss ich, ins Haupthaus zu gehen. Dort wollte ich auch gleich das Klo benutzen.

Kurz nachdem ich das Haupthaus betreten hatte hörte ich Stimmen. Laute, streitende Stimmen. Ich glaube, es waren drei.

Ich ging leise auf den Lärm zu. Yvonne, Brian und Karin standen in einem kleinen Raum, wobei Yvonne in totaler Auffuhr war und Karin und Brian eher genervt und angestrengt wirkten.

„Er ist mit einem Mädchen aus dem Camp zusammen!", schrie Yvonne, „das ist doch nicht normal!"

„Yvonne", versuchte Karin sie zu beruhigen, „das ist seine private Sache. Da darf ich mich nicht einmischen."

„Es ist genauso wie damals, nicht? Sie war auch viel jünger als du!", fuhr Yvonne Brian an.

„Warum musst du immer auf die Vergangenheit anspielen? Das war vor sieben Jahren! Seitdem ist so viel passiert, ich meine sieh dich doch mal selbst an, wie sehr du dich verändert hast, und mir geht es genauso!" Brian verdrehte die Augen.

„Aber wo ist Mae? Sie hat sich nie wieder gemeldet, und auch ihre Eltern nicht!", Yvonnes Stimme brach ab. Ich glaubte, sie schluchzen zu hören.

Brian kannte Mae also, aber Yvonne auch. Ich war mir sicher, dass es um Mae aus dem Tagebuch ging, schließlich war das kein sehr häufiger Name.

Das war ein eindeutiger Beweis für meine Vermutungen.

Ich schlich leise weg und lief zum See, um den nächsten Hinweis von Mae zu finden. Ich wusste nun schon so lange, wo er war, und doch kam ich erst jetzt dazu, ihn zu suchen. Ganz kurz wollte ein Teil von mir Justin rufen, denn das war unsere gemeinsame Angelegenheit, aber ich verwarf den Gedanken. Mit dem Arsch rede ich nie wieder.

Ich fand den Baum und die Papiere in einem Hohlraum, dann lief ich zurück auf den Dachboden.

Ich traute meinen Augen kaum. Mae und dieser Typ trafen sich in diesem Teil wieder heimlich in der Nacht, und dann erzählte dieser Typ ihr die haargenau selbe Geschichte, die Brian letzte Nacht in der Scheune erzählt hatte.

Nun war es eindeutig. Brian war Maes Freund, dessen Namen sie kein einziges Mal in ihrem Tagebuch erwähnt hatte. Aber warum? Und was hatte Yvonne gemeint, als sie gesagt hatte, dass Mae verschwunden war? Was hatte Brian mit dem ganzen zu tun? Es gab noch viel zu viele offene Fragen, deshalb drehte ich den Zettel um, um nach dem Hinweis zu suchen. Aber die Rückseite war blank.

Ich las den Text noch einmal, diesmal konzentriert und sorgfältig. Und sofort viel mir der letzte Satz auf. Ich sitze in meinem Zimmer und schreibe. Irgendetwas stimmte nicht damit. Mae schrieb immer so schön und flüssig, dieser Satz war viel zu abgehackt und unpassend. Irgendetwas musste er bedeuten.

Ihr Zimmer!, schoss es mir durch den Kopf, dort lag der nächste Teil! Leider hatte ich keine Ahnung, welches damals ihr Zimmer gewesen ist.

Aber das musste in Tummlers Büro in irgendwelchen Ordnern stehen, selbst wenn Tummler vor sieben Jahren sicher nicht die Leiterin dieses Camps gewesen war. Ich hoffte wirklich, dass diese Aufzeichnungen aufgehoben worden sind.

Ein Problem gab es noch: Wie sollte ich in Karins Büro einbrechen? Ich musste es während dem Abendessen tun, wenn ich unbemerkt bleiben wollte, aber wenn sie ihr Büro absperrte? Ich würde es sicher nicht schaffen, es aufzubrechen. Wäre bloß Justin hier, er hat das sicher schon hunderte Male gemacht!, dachte ich, schimpfte mich selbst aber dafür.

Bis zum Abendessen blieben mir noch zwei Stunden, stellte ich fest, also ging ich wieder hinunter und setzte mich zum See. Auf meinem Display wurden zwei neue SMS von Justin angezeigt.

Jenny, las uns reden.

Bitte.

Ich steckte mein Handy weg.

„Jenny?", fragte eine Stimme über mir. Ich drehte mich um und sah in Luis lächelndes Gesicht. Er setzte sich zu mir.

„Was machst du hier?", fragte er. Ich zuckte mit den Schultern.

„Ist alles okay?" Ich nickte.

Wir redeten ein bisschen über unwichtigen Kram, bis er sagte, er fände mich hübsch. Dann küsste er mich.

Ich ließ es zu, obwohl ich nichts dabei fühlte. Ich war ein Monster.

Als ich mich von ihm löste, sah ich aus Augenwinkeln Justin, der uns anscheinend beobachtet hatte und jetzt wegging. Irgendwie freute ich mich, dass er mich mit Luis gesehen hatte. Vielleicht wusste er jetzt, wie ich mich die ganze Zeit gefühlt hatte.

Quatsch, wenn er eifersüchtig wäre, müsste er mich lieben.

Ich verabschiedete mich von dem strahlenden Luis und ging in mein Zimmer, wo ich Chloe bat, mich beim Abendessen zu decken.

„Jenny, ich bin mir sicher, du weißt was du tust, aber ich mache mir Sorgen. Du erzählst Paula und mir nichts mehr, vertraust du uns nicht?"

„Doch, Chloe, aber... ich erkläre euch alles später, versprochen, es ist wirklich wichtig."

Sie schüttelte den Kopf und ging hinaus.

Ich wartete fünfzehn Minuten, ehe ich mich ins Haupthaus begab. Dort versteckte ich mich am Klo und lauschte. Erst als ich sicher war, dass niemand sich auf den Gängen herumtrieb, schlich ich zu Tummlers Büro.

Vorsichtig drückte ich die Türklinke hinunter und –ich hatte Glück!- die Tür ließ sich öffnen. Ich schaltete das Licht an und suchte nach den Aufzeichnungen. In dem Büro selbst lagen sie nicht, aber ich hatte im Schreibtisch einen Schlüssel gefunden, mit dem sich eine Nebenkammer öffnen ließ. Sie bestand nur aus Regalen, die mit Ordnern vollgestopft waren.

Tummler war anscheinend eine sehr ordentliche Frau, denn auf jedem Regal klebte eine Jahreszahl, die meine Suche erleichterte. Im Handumdrehen fand ich die richtige Mappe und schlug den Buchstaben C auf. Mae Corner, Zimmer 209.

Mein Handy zeigte 17:50, was bedeutete, dass es sich niemals ausgehen würde, dieses Zimmer zu durchwühlen. Egal, beschloss ich, zumindest wusste ich, welches Zimmer ich brauchte.

xxHi! Es tut mri so leid, dass ich jetzt ziemlich lange nicht mehr geupdatet habe, aber im November hatte ich so viel Stress! Gott sei Dank kommt bald die ruhige und friedliche Weihnachtszeit :) 

Ich denke, wenn ich jetzt mehr Zeit zum Schreiben haben werde, wird die Geschichte bis Jänner fertig :)

Und P.S. ich weiß, dass Brians Gruselstory nicht gruselig war. -Youtulipxx


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