28. Der erste Tag

„Hey, du Schlafmütze, aufwachen", schrie Chloe. Ihre ungekämmten Locken erinnerten mich an eine Löwenmähne. Ich rieb mir die Augen.

„Wie spät ist es?", fragte ich verschlafen.

„Acht Uhr. Es war vor fünf Minuten schon eine Betreuerin da, die uns aufwecken wollte", erzählte Chloe.

„So früh?"

Chloe lachte. „Tja... Während du geschlafen hast, hab ich mir diese Regeln angeschaut. Hier steht, dass es jede Woche in jedem Stock einen Wochenplan geben wird, auf dem alle Aktivitäten und wichtige Uhrzeiten stehen. Den sollten wir uns ansehen."

„Uh-huh", murmelte ich und ging schlaftrunken ins Bad, um mir das Gesicht zu waschen und mich umzuziehen.

„Hier steht, dass es Montag-Freitag immer um halb neun bis neun Frühstück gibt, am Wochenende von 9:45 bis 10:15. Am Abend gibt es immer um halb sechs bis sieben Uhr fünfzehn Essen, zu Mittag entweder Lunches oder um zwei", schrie mir Chloe nach. Sie war putzmunter, während ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser bespritzen musste, um die Augen offen halten zu können.

Gestern gab es zum ersten Mal Abendessen, das eigentlich ganz gut war, und danach hat uns Frau Tummler gesagt, wir sollten uns selbständig Freunde suchen.

„Heute gibt es die Gruppeneinteilung, hat so ein Rotschopf im Nachthemd gesagt, übrigens derselbe, der uns geweckt hat. Hier steht, wir dürften die Jungs nur in sehr dringenden Situationen auf ihren Zimmern besuchen, ansonsten sollen wir uns im Gemeinschaftsraum unterhalten. Die wollen anscheinend nicht, dass hier gevögelt wird. Tjaaaaa, kann ich nur sagen", plapperte Chloe.

Ich zog mir ein blaues T-Shirt und eine schwarze Schlabberhose zum Frühstück an. Mir war vollkommen egal, dass das ein Penner-Look war, und Chloe lobte das Outfit sogar.

Bevor wir essen gingen, schauten wir uns den Wochenplan an. Heute ging eine Gruppe das Gelände erkunden, die andere würde eine „Einführung in die Hausarbeit" bekommen und dann „im Haus aushelfen". Am nächsten Tag tauschten die beiden Gruppen. Was für ein Müll.

Chloe bekam beim Lesen einen heftigen Lachflash, und auch ich lachte Tränen. Diese Ausdrucksweise fand ich lächerlich.

Es gab ein Frühstücksbuffet in der „Esshalle" (so nannte sich dieser Raum auf einem Kärtchen bei der Tür), das aus Müsli, Obst, Joghurt, Salaten, Brötchen und verschiedenen Aufstrich-, Käse- und Schinken-& Wurstsorten bestand.

Eigentlich war die Auswahl nicht sehr klein, doch es gab ein Gedränge bei den Buffettischen, sodass man kaum dazu kam, essen zu ergattern.

Es gab sowohl beim Frühstück wie auch beim Abendessen eine gleichbleibende Sitzordnung. Ich saß zwischen Paula und Chloe, die sich gegenseitig durch mich kennenlernten.

Justin hatte auch Freunde gefunden, mit denen er gegenüber von uns saß. Ich wollte ihn gar nicht beachten, doch mein Blick wanderte wie von selbst beim Essen immer wieder in seine Richtung. Einmal ertappte mich Justin sogar beim Glotzen und zwinkerte mir belustigt zu.

Stirb, Justin Baker, dachte ich wütend, natürlich meinte ich es nicht buchstäblich, aber trotzdem. Manchmal tat es gut, jemanden in Gedanken weiß Gott wohin zu schicken.

Es gab fünf Schülertische, drei Vierer- und zwei Achtertische, und einen Betreuertisch. Sieben Betreuer saßen dort, darunter der Rotschopf, von dem Chloe in der Früh erzählt hat, und Frau Tummler. Den Rest erkannte ich nicht, aber mir viel auf, dass alle total jung waren.

Die Schüler waren in zwei Altersgruppen geteilt: 13-15 und 16-18.

Um 9:03, wie ich an einer Wanduhr ablesen konnte, stand Frau Tummler auf und redete zu uns. „Also, das Frühstück wird jetzt beendet. Wir teilen euch in Gruppe A und B auf, A wird heute das Gelände erkunden, B morgen. Jede Gruppe bekommt jetzt auf ihren Tisch ein Gefäß mit Kärtchen gestellt, jeder soll bitte eines ziehen. Wenn „A" darauf steht, geht ihr zu Yvonne", sie zeigte auf den Rotschopf, „bei „B" geht ihr bitte zu mir. Kein Herumgetausche, keine Beschwerden. Letztendlich ist doch egal. Ach ja, die jüngeren sollen bitte getrennt stehen."

Inzwischen teilten die Betreuer Dosen mit Zetteln aus. Paula und Chloe zogen, dann steckte ich meine Hand hinein. Es waren noch zwei Zettel drin, weil wir ja zu dritt an einem Vierertisch saßen, musste einer überbleiben.

Ich faltete das weiße Stück Papier auf, und las laut vor, „A. Ihr?"

Paula war mit mir in einer Gruppe, Chloe in der anderen. Es war schade, aber ich freute mich, dass zumindest eine von ihnen bei mir sein würde. Ich blickte zu Justin hinüber und fing seinen Blick auf. Er nickte mir zu, und ich formte den Buchstaben meiner Gruppe. Justin lächelte und nickte. An seinen Lippen las ich: „Auch."

Yey.

Wir beide erhoben uns gleichzeitig und gingen zu unserer Gruppenleiterin.

Als die Gruppen fest standen, führte uns unsere Leiterin hinaus, damit wir mehr Platz hätten. „Also, ich bin Yvonne, und ich werde euch gemeinsam mit Brian in diesem Monat betreuen. Falls ihr Probleme, Fragen oder so etwas in der Art habt, kommt zu uns", begann Rotschopf.

Brian war genauso jung wie sie, hatte blonde -wahrscheinlich gefärbte- Haare und unglaublich ausdrucksvolle blaue Augen. Er könnte Justin glatt Konkurrenz machen.

„Also, heute werde ich euch die Grundlagen und Regeln erklären und alles hier zeigen. Ihr seid insgesamt 8 Personen, bleibt bitte alle gemeinsam und folgt uns." Mit diesen Worten wandte sie sich von uns ab und ging voran. Wir verließen das Grundgebäude und gingen kurz den Weg bis zu den Wohnhäusern, und als dieser sich spaltete und entweder zum linken oder rechten Haus führte, gingen wir einfach weiter nach vorne, durch schön gemähtes Gras.

Schon bald sah ich zwei kleinere Gebäude zu meiner linken. Es waren bestimmt keine Wohnhäuser, und als ich gerade danach fragen wollte, blieb Yvonne stehen und ergriff das Wort. „Also, links von euch seht ihr zwei Ställe, einen für Kühe, einen für Schweine. Wir umgehen diese ein bisschen, weil ich nicht denke, dass ihr den Geruch genießen werdet. Außerdem dürft ihr die Tiere morgen sowieso kennenlernen."

Unsere Gruppe machte einen Bogen um das Wohnhaus der Mädchen, dann sahen wir noch ein Gebäude, das den Ställen ähnelte. Mir fiel auf, dass Yvonne und Brian nicht wie alle Betreuer zusammen quatschten, während wir gingen, sondern sich voneinander entfernt hielten. Und zwar besonders Yvonne.

„Das ist eine Scheune, die ihr nicht betreten dürft", meinte Rotschopf.

„Warum nicht?", fragte ein Mädchen, das, wenn ich mich richtig erinnerte, Lora hieß. Ihren Namen hatte ich aus einem Gespräch gehört.

„Dort wurde früher Heu für die Tiere gelagert und auch andere Gegenstände, wie in einem Lagerraum. Dann wurde der Schlüssel dazu verloren, und das Schloss muss bald geknackt werden. Ihr werdet die Scheune also weder betreten dürfen noch können", antwortete Yvonne, wobei sie sich eine Strähne, die vom Wind in ihr Gesicht geweht wurde, hinters Ohr strich. Ihre Wangen waren leicht gerötet -so wie bei fast allen anderen auch- und man sah ihre Sommersprossen nur deutlicher dadurch.

Die Arme, dachte ich, wenn ich so ein gepunktetes Gesicht hätte, würde ich jeden Tag Tonnen von Make-Up benutzen.

Das gehen war anstrengend, weil das Gelände riesig war, zudem brannte die Sonne auf uns hinunter.

Wir gingen auf einen Wald zu, der uns Schatten und somit Schutz vor der Sonne versprach. Ich stolperte über eine Wurzel, die aus dem Boden herausragte, und ehe ich hinfiel, wurde ich von zwei starken Händen aufgefangen. Ich drehte mich zu der Person um, und erwartete Justins vertrautes Gesicht zu sehen, doch ich erblickte Nils.

„Hallo, ich hab dich gar nicht hier gesehen", meinte ich lächelnd.

„Ich dich auch nicht. Bist du die ganze Zeit eher vorne gegangen?", fragte er und schmunzelte.

„Ja", meinte ich.

„Deswegen. Ich war hinten."

„Oh. Hey, ähm, danke", seine Augen ließen mich verlegen werden.

„Alles okay, das hab ich doch gern..." Wir wurden unterbrochen. Justin stellte sich zu mir und meinte höhnisch, „Oh, Schätzchen, pass auf, gleich fängst du an zu sabbern."

Vor Schreck riss ich den Mund auf. Ich wollte etwas erwidern, aber seine Dreistigkeit schnürte mir die Kehle zusammen. Wie zur Hölle konnte er es wagen, so was zu sagen?

Aber da drehte er uns auch schon den Rücken zu und ging weg. Ich merkte, wie ich vor Erschütterung stehengeblieben war. Stumm ging ich weiter.

„Hey, ich wollte nicht...da läuft doch was, zwischen euch, oder? Ich wollte nicht dazwischenfunken, es tut mir leid", meinte Nils.

Ich lachte. Auf Nils erschrockenen Gesichtsausdruck antwortete ich, „Keine Sorge, da läuft nichts. Ich bin also noch zu haben." Ich zwinkerte ihm zu.

„Oh, das freut mich."

„Also, da seht ihr wieder die drei euch bekannten Häuser. Wir jetzt Mittagessen, dann habt ihr eine Stunde lang Pause, danach gehen wir weiter", meinte Yvonne und entließ und beim Speisesaal. Rotschopf ließ Brian auch nie reden, sondern erklärte immer selbst alles, auch wenn Brian den Mund aufriss.

Mir fiel erst jetzt auf, dass ich Hunger hatte.

Dort, wo das Frühstücksbuffet gestanden hatte, befanden sich zwei Bottiche mit Suppe und zwei Schüsseln mit Beilagen. Daneben standen Salate, aber ich konnte nirgendwo die Hauptspeise entdecken. Schulterzuckend nahm ich mir Suppe mit Frittaten und ging auf meinen Platz.

„Und, was habt ihr so gemacht?", fragte Chloe.

„Das Gelände erkundigt", antwortete ich kauend.

„Das Ganze? Und, wie ist es?", fragte Chloe neugierig.

Ich schlürfte meine Suppe, deshalb antwortete Paula, „Noch nicht das Ganze. Erst die westliche Seite."

„Wo ist nochmal Westen?", fragte Chloe etwas dümmlich. Ich begann, los zu prusten, und bemühte mich, meine Suppe im Mund zu behalten. Auch Paula lachte Tränen.

Durch unseren plötzlichen Lachanfall ernteten wir viele verwunderte Blicke von allen Seiten, aber das war mir egal.

„Was?", Chloe klang etwas beleidigt, „ich wäre in Geo fast durchgefallen."

Wir lachten weiter, und als wir uns beruhigt hatten, erklärte Paula Chloe die Himmelsrichtungen.

Schweigend aßen wir weiter. Es gab doch eine Hauptspeise, fand ich heraus, es gab im Speisesaal nämlich eine Öffnung –wie eine Art Fenster ohne Glas- zur Küche. Daraus wurde an jeden Tisch ein Teller mit Fisch und Kartoffeln serviert.

„Oh, wer ist das, der dauernd zu dir rüber starrt?", zog mich Chloe auf. Ich drehte meinen Kopf so unauffällig wie möglich nach hinten, in die Richtung, die Chloe mir anzeigte. Nils saß dort, fing meinen Blick auf und winkte kurz.

„Oh, der könnte deinem Justin glatt Konkurrenz machen", meinte Chloe.

„Es ist nicht mein Justin!", fauchte ich, und hörte plötzlich ein spöttisches Lachen hinter mir. Oh nein, er hat es gehört!

„Aber du wünschtest doch, es wäre deiner", flüsterte eine verführerische Stimme mir ins Ohr. Ehe ich reagieren konnte richtete Justin sich auf und ging weg.

„Flüster, flüster", neckte Paula. Ich warf ihr und Chloe wütende Blicke zu.

Wir aßen fertig und gingen in unsere Zimmer. Ich erfuhr, dass Paula mit einer Zicke, die Sophie hieß, in einem Zimmer war, und sprach mein Mitleid aus.

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