Z für Zebra
LIAM ➜ 22.-23. Februar 2016 London, England
Somit saß ich wortwörtlich auf der Straße.
Mit gepackter Tasche stand ich vor Harrys Apartment und überlegte fieberhaft, wo ich hingehen könnte. Zunächst führte mich mein Weg in ein kleines Café, etwas abseits des Trubels, in welchem ich bei einer Tasse Kaffee die Unterlagen, welche Hannah mir zusammengestellt hatte, durchging. Vorne auf der Mappe klebte ein kleines Post-It mit einer amerikanischen Nummer. Flink sah ich mich um. Das heimelig eingerichtete Café war weitestgehend leer und niemand schien eine Kamera in meine Richtung zu halten. Bevor ich allerdings die Nummer wählte, sah ich auf die Uhr und überlegte. Wenn ich mich nicht irrte müsste es in Nashville acht Uhr früh sein. Nach kurzem Nachdenken entschloss ich mich die Nummer zu wählen. Mr. Lahey, Hannahs Vater meldete sich freundlich und erklärte mir auf meine Nachfrage hin, alles, was mir auch Hannah schon erklärt hatte.
„Ich hatte gehofft, jetzt wo zwei Tage vergangen sind..." Ich ließ den Satz in der Luft und hörte Hugh, wie er mich sogleich bat ihn zu nennen, auflachen.
„Ich kann dich verstehen, Junge, auch ich wünsche mir nur zu oft, dass dieser Mist schneller von statten ginge, doch so ist es leider nicht. Du wirst dich gedulden müssen."
Ein wenig geknickt seufzte ich auf. „Also gibt es keine Möglichkeit, dass ich in meine Wohnung komme? Ich würde nichts großartig verändern. Allerdings würde ich gerne ein paar Sachen holen, nichts aus dem Wohnbereich, bloß ein paar Kleinigkeiten aus dem Schlafzimmer."
Für einen Moment herrschte Stille, Hugh schien zu überlegen. „Eine winzige Möglichkeit gäbe es, aber die Chancen stehen sehr gering. Höchstwahrscheinlich – und ich sage das hier nicht als ein Anwalt oder Versicherungsberater oder ähnliches, sondern als ein Freund: Du kannst theoretisch in dein Haus, wenn du am Unfallort selbst nichts veränderst. Allerdings gibt es einen Haken. Wenn die Brandermittler mit der Polizei zusammengearbeitet haben – wovon ich einmal ganz stark ausgehen will-, dann wird die Haustür mit einem Siegel verschlossen worden sein. Dieses kannst du nicht durchbrechen."
„Und wenn dem nicht so ist, kann ich in meine Wohnung. Nur eben nicht ganz rechtens."
„Exakt."
Ob ich es vagen sollte? Ein kleiner Blick würde vielleicht nicht schaden. „Danke, Hugh."
Hannahs Vater verabschiedete sich von mir, allerdings nicht ohne mich eindringlich zu bitten, mich bei ihm zu melden, sollte ich die Möglichkeit bekommen, in mein Apartment zu gehen.
Das Handy noch in meiner Handfläche haltend überlegte ich und entschloss mich schließlich dazu es einfach zu vagen. Was hatte ich eigentlich noch zu verlieren? Absolut gar nichts!
Während meinem Weg durch die Stadt nutzte ich so viele kleine Gänge und verwinkelte Ecken, wie möglich. Dementsprechend gelang es mir ohne weitere Zwischenfälle bis zu meinem Zuhause zu kommen. Allerdings hatte ich absolut nicht damit gerechnet, dass diese Aasgeier auch nach zwei Tagen noch vor meinem Apartment lungerten. Sollte ich es riskieren? Würde ich von irgendwo eine Art Verkleidung auftreiben können? Wohl eher nicht. Kurz bevor ich mich aus meinem Versteck- einer gammeligen Gasse- hervor stahl, hielt ich inne. Ob ich Louis anrufen könnte? Er war immer unser Undercover-Meister gewesen, zumindest gleich nach Niall. Doch da es einerseits wirklich früh am Morgen war und er andererseits mit Sarah zu Hause in Mullingar war, fiel Option-Niall sofort weg. Nach längerem Überlegen strich ich allerdings auch Louis von meiner imaginären Liste. Ich hatte Scheiße gebaut und musste nun dadurch.
Meine Mütze tiefer ins Gesicht gezogen und den Griff fest um meine Tasche, schlich ich mich aus meiner Ecke vorbei an mehreren geparkten Autos. Ein kleiner Teil in mir hoffte, dass diese Aasgeier mich nicht wahrnahmen. Doch ich hatte mich zu früh gefreut. Mein Name wurde gerufen und mit gesenktem Blick versuchte ich die Fragen an mir abprallen zu lassen. Ich redete mir ein, dass es mir egal war, dass sie mir den Schwarzen Peter zu schoben, denn zum allerersten Mal in unserer Karriere hatten die Papparazzi recht. Es war meine Schuld.
Deshalb schob ich mich durch die Kameras in das Gebäude rein und schloss sicherheitshalber hinter mir ab. Es würde mich nicht wundern, wenn bereits ein paar Fotografen bei meinen Nachbarn geklingelt hatten, damit diese unter irgendeinem bescheuerten Vorwand die Türe öffneten. Aber ich baute auf die alte Mrs. Jenkins. Die rüstige 80 Jährige hatte es faustdick hinter den Ohren. Während einer Einbruchsserie vor drei Jahren hatte sie sich kurzerhand eine Kleinkalibierpistole besorgt und mir, sowie allen anderen männlichen Hausbewohner empfohlen es ihr gleich zu tun. Damals hatte Danielle sie als völlig verrückt eingestuft, doch ich mochte die flinke, alte Dame. Sie erinnerte mich an jemanden...ich wusste bloß nicht...
Auf der vierten Etage hielt ich plötzlich inne, als ich etwas entscheidendes kapierte: Doch. Doch ich wusste es. Mrs. Jenkins erinnerte mich an niemand geringeren als Elaine Smith. Sophias Großmutter.
›Warum ist mir nie aufgefallen, wie viel Zeit ich früher mit den Smiths verbracht hatte?‹
Nicht Familie Samuels war immer wieder bei uns zu Gast gewesen, sondern die Smiths. Ruth, meine ältere Schwester, und Zoé, Sophias ältere Schwester, waren Freunde gewesen, als Sophia, Andy und ich noch im Kindergarten gewesen waren. Sie hatte Recht gehabt, als sie mir vorgeworfen hatte, ich hätte mich in ein gemachtes Nest gesetzt. Denn irgendwann war der Kontakt unserer Schwestern abgebrochen und wir hatten uns aus den Augen verloren. Solange, bis ich mich mit Andy angefreundet hatte. Andy, der anscheinend ein Herz für die Opfer der Schule hatte.
„Ich bin so dämlich", flüsterte ich und vergrub das Gesicht in meinen Händen. Viel früher hätte mir einfallen müssen, dass ich mich nicht nur bei meinen Freunden zu entschuldigen hatte. Auch Sophia hätte ich nicht einfach dort oben in der Kälte stehen lassen dürfen. Vielleicht war Hannah deswegen wütend auf mich gewesen?
„Na, na, nicht so streng, Jungchen." Mit einem Male stand die rüstige alte Mrs. Jenkins hinter mir und grinste mich an. Sie stützte sich auf ihren Stock und lief an mir vorbei. Nach fünf Stufen drehte sie sich um und rief mir grinsend zu: „Kommste endlich, oder biste fest gewachsen? Ich will dir helfen beim sauber machen, so wie de mir geholfen hast, wenn ich's brauchte."
Schon von weitem sah ich einen gelben Streifen an der Tür kleben. Hugh hatte Recht gehabt. Die Polizei hatte meine Wohnung abgeriegelt. „Scheiße", fluchte ich und atmete erst einmal tief durch. Sechs Stockwerke nach oben laufen gestaltete sich mit einer ausgewachsenen Raucherlunge schwieriger als erwartet. Die Hände in die Hüften gestemmt überlegte ich, wie ich die Sache am besten anstellen sollte.
Mrs. Jenkins sprach mir schließlich aus der Seele: „Haste einen guten Anwalt, Jungchen?" Ein teuflisch-schelmischer Glanz lag in ihren Augen und ich wusste sofort, worauf die Greisin auswollte. Die Pappnase von Lincoln & Partners konnte ich wohl kaum als ‚guten Anwalt' bezeichnen. „Lassen Sie mich kurz einen Anruf tätigen." Das Handy gezückt drückte ich kurzerhand auf Wahlwiederholung und kapselte mich etwas ab. Am Ende des Treppenhauses gab es ein kleines Fenster mit breiter Fensterbank, auf welche ich mich setzte, während das Freizeichen ertönte.
„Grüß dich, Junge. Wie ist die Lage?"
„Du hattest Recht. Hier klebt ein Siegel."
„Wie kann ich helfen?"
Kurz überlegte ich, ob es klug war Hugh, einem Anwalt, gegenüber einfach raus zu hauen, was ich dachte: „Wie teuer wird's wenn ich in mein eigenes Apartment einbreche?"
Durch den Hörer nahm ich sein schallendes Gelächter, was mich so sehr an seine Tochter erinnerte, wahr und lauschte schließlich gespannt, als er begann zu erklären: „Also. Ich bin kein Anwalt" – „Scheiße", rutschte es mir heraus. „Aber ich hab Jura studiert und vor den Prüfungen geschmissen. Ja, ich weiß das klingt dumm. Jedenfalls, ich hab einen alten Kumpel. Haste einen Stift und Zettel?" Nein. Hatte ich natürlich nicht. Mrs. Jenkins half mir aus und so schmierte ich die Nummer, die er mir nannte auf meine Handfläche.
„Du bist ein Engel, Hugh."
„Nichts zu danken, Junge. Meine Maus hat mich ja schon ausreichend in Kenntnis gesetzt."
Prompt hielt ich mir mit meiner Hand den Mund zu. Wenn ich jetzt schallend loslachen würde, hätte ich mir jegliche Sympathie mit ihm verspielt. Somit ignorierte ich den Kosenamen einfach und verabschiedete mich. Kurz bevor ich schließlich auflegte, setzte Hugh hinzu: „Also ich kann mich nicht genau festlegen aber kleiner Tipp: Richtlinie für Strafsätze bei Siegelbruch nach Paragraph 136 Absatz 2-" Kurz herrschte Stille und Hugh überlegte. Ich hörte, wie er schmatzend einen Kaugummi kaute und wartete nervös auf eine Antwort: „-Joa, rechne mal mit so 90 Tagessätzen á 15-20 Pfund."
Mein anschließendes Räuspern deute Hugh genau richtig und ich war froh, dass er aussprach, was ich dachte. So umging ich eine peinliche Situation, welche am Ende noch dazu führen würde, dass er mich falsch einschätzte: „Das tut deinem Geldbeutel absolut nicht weh, also mach auf den Mist", lachte er und verabschiedete sich schließlich.
Hughs Freund, ein gewisser Mr. Rivers, ähnelte Hannahs Vater sehr. Er war ebenso locker und direkt und schien das Gesetzt in meinem Fall auf die leichte Schulter zu nehmen. Er wies mich an zur Sicherheit einige Vorher-Nachher- Fotos zu schießen und Mrs. Jenkins freundlich zu bitten, nichts gesehen zu haben.
Durch das ganze Theater und die Frage, wie ich in meine Wohnung gelangen sollte, hatte ich eine Sache völlig verdrängt.
Ich hatte absolut nicht bedacht, wie sehr mich der Anblick meiner verkohlten Möbel aus der Bahn werfen würde.
Mit einmal Male hatte ich nicht nur die Flammen vor Augen. Nein. Ich sah Andy brennen. Brannte mit ihm. Roch sein verbranntes Fleisch. Mit einem Mal gaben meine Beine nach und ich saß mitten in der Asche. Für einen Moment setzte mein Herz aus. Mein Puls rauschte in meinen Ohren. Vorhänge, Küche, Sofa, Sessel, Teppich. Alles wurde dem Erdboden gleich gemacht. Mich wunderte es, dass der Balkon noch dort hing, wo er hingehörte und innerlich war ich einfach nur erleichtert, dass niemand meiner Nachbarn zu Schaden gekommen war. Die Tatsache, dass ich meinen besten Freund beinahe umgebracht hatte, schmerzte schon genug.
Wie durch Zufall ließ ich meinen Blick schweifen und sah mein feinsäuberlich sortiertes Schnapsregal. Selbstgemachte Obstbrände, Whiskey, Rum, Wodka. Alles war vertreten und alles widerte mich dermaßen an.
Pure Wut übertünchte meine nagenden Schuldgefühle. Ich stand auf, griff blind ins Regal und pfefferte eine Flasche nach der nächsten gegen die Wand. Ein widerliches Gebräu kroch in meine Nase, ich störte mich nicht an den Scherben und auch nicht an den Litern Alkohol zu meinen Füßen. Stattdessen warf ich schreiend die nächste Flasche gegen die Wand und führte mich zunehmend freier. Jeder Flasche, die klirrend an der Wand zerschmetterte, bedeutete eine Last weniger. Es fühlte sich an, als würde ich mich von meinen Sünden freiwaschen.
Wie sehr ich diesen Kontrollverlust wirklich gebraucht hatte, wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht.
Mit feuchten Händen, schlagendem Herzen und der puren Erleichterung im Blut, griff ich in das oberste Fach des Regals und holte eine kleine hölzerne Schachtel hervor. Vorsichtig strich ich über das feinsäuberlich geschnitzte Holz. Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden warf ich gute 300 Pfund in grasgrün, blau und lustig gelb in die Mülltonne und kniete mich letztendlich in die ekelhafte Suppe in meinem Wohnzimmer. Trennte Plastikdeckel, Papier-Etiketten und Glasscherben feinsäuberlich voneinander.
Von halb zehn bis elf Uhr lief ich vollkommen auf Autopilot, trennte mich von sämtlichen Alkohol und anderen Giften in meiner Wohnung. Regungslos zog ich einzelne Glassplitter aus meinen Handflächen, nahm meine verordneten Tabletten rechtzeitig ein und schmierte mir im Bad neue Entzündungshemmende Salbe auf die Brandwunden, da sich die Verbände mit Alkohol vollgesogen hatten.
Doch es war mir egal. Alles was ich jetzt noch wollte, war funktionieren.
Und das tat ich.
Ich kümmerte mich um die Vorbereitungen für bald anstehende Renovierungsarbeiten, Versicherungskram, telefonierte mit meinem neuen Anwalt, versprach mich auf seinen Ratschlag hin so bald wie möglich selbst anzuzeigen und fuhr schließlich frisch geduscht zum Krankenhaus.
„Sie können nicht zuhause bleiben, Mr. Payne", hatte Mr. Rivers streng betont. Dementsprechend überlegte ich, was ich tun könnte.
Doch zuerst musste ich mich um meinen besten Freund kümmern.
Funktionieren. Es war ein großartiges Wort. Ausdrucksstark, einprägsam, wundervoll. Ein tolles Gefühl, wenn man ‚Funktionierte'.
Dieses Gefühl verlor ich sobald ich Mrs. Samuels weinend vor Andys Zimmertür sitzen sah. Mein erster Gedanke war schrecklich und bevor ich ihn auch nur ansatzweise zu Ende denken konnte, ging ich auf die Mutter meines besten Freundes und nahm sie so lange stumm in den Arm, bis sie mich aufklärte. Es zerriss ihr das Herz ihn so zu sehen. Mir fiel ein immenser Stein vom Herzen.
Und wenn ich ehrlich war, traute ich mich gar nicht erst ihn mir erneut anzusehen. Noch immer war er nicht bei Bewusstsein, reagierte nur bedingt auf äußere Einflüsse. Die Schwestern und Ärzte kamen jeden Tag, um nach ihm zu sehen, wechselten die Verbände und sorgten dafür, dass entstehendes Wundwasser ablief und sich keine Entzündungen bildete. Soviel erklärte man mir. Ich hatte Mühe meinen Magen ruhig zu halten und wenn ich vorher noch geglaubte hatte, ich hätte Hunger, so war mir jetzt unglaublich schlecht.
Mr. Samuels legte mir mit einem Mal seine Hand auf die Schulter und erst jetzt bemerkte ich, dass ich noch immer mitten im Raum stand und ihn durch eine Glasscheibe anstarrte. Er selbst hatte seine sterile Kleidung schon abgelegt, während ich erst keine angelegt hatte. „Kannst du uns ablösen, Junge? Meine Frau braucht etwas Ruhe."
„Na-Natürlich", stammelte ich überrumpelt und versicherte ihm, dass ich mich sofort melden würde, sollte sich an seinem Zustand etwas ändern.
Doch es änderte sich nichts. Er blieb einfach still liegen und ließ sich von mir vorlesen.
Google hatte mir verraten, dass es durch aus Sinn ergeben würde, mit Koma-Patienten zu kommunizieren. Ob die Ärzte Andy in ein Koma gelegt hatten? Ich hatte nicht zugehört. Zu sehr war ich damit beschäftigt gewesen, mich selbst zu bemitleiden. „Gott bin ich dämlich!"
„In der Tat! Hast du sie noch alle? Du hättest mich viel, viel früher anrufen müssen, du beschissener Idiot!"
Ehe ich wusste, was überhaupt vor sich ging, klatschte eine Hand mit einer Wucht gegen meine Wange, dass ich weder wusste, wo vorne und hinten war.
Sophia interessierte es nicht die Bohne. Sie zischte weiter auf mich ein und ehe sie mir erneut eine Backpfeife verpassen konnte, schnappte ich mir ihre Hand, stand auf und schloss das weinende Häufchen Elend in meine Arme.
Schon wieder war ich egoistisch.
Ich brauchte eine Umarmung, weil es mich fertig machte, wie ein Vollidiot auf Andy einzureden, ihm „Die kleine Raupe Nimmersatt" vorzulesen, weil es das erste war, was ich gefunden hatte und nicht den Hauch einer Reaktion zu bekommen.
Süßes Parfum kroch mir in die Nase und ich spürte, wie sich ihre gemachten Fingernägel in meine Schulter bohrten.
„W-Wie konnte das passieren, Liam?"
In diesem Moment tat ich das, was für mich am Richtigsten erschien: „Er kann nichts dafür. Es war meine Schuld. Ich hab nicht richtig aufgepasst."
„Sophia!?", jaulte eine weibliche Stimme während wir gemeinsam ihre Wohnung betraten. Noch im Krankenhaus hatte ich ihr alles Notwendige erzählt. Ich berichtete davon, dass ich den Fehler gemacht hätte mit einem Joint in der Hand am Gasgrill zu spielen, dass ich Glück gehabt hatte und dass Andy mich zum falschen Zeitpunkt weggeschoben hatte. Ich wollte nicht, dass sie Andy Vorwürfe machte und hoffte einfach, dass er mitspielen würde, sobald er aufgewacht war. Wenn ich ehrlich war, war es nicht Sophia, die einiges wieder gutzumachen hatte. Ich war es.
Mittlerweile war ich an einem Punkt angelangt, an dem ich sie verstand. Sie hatte gewollt, dass man wenigstens aufhörte sie zu piesacken, wenn sie schon ihren einzigen Freund an mich verloren hatte. Zwar hatte sie einen fragwürdigen Weg gewählt, doch zumindest verstand ich endlich warum.
„Sophia?"
„Ja?" schrie die angesprochene zurück, bevor sie mich anwies meine Schuhe auszuziehen.
Mittlerweile war es 18 Uhr abends, weshalb ich in die Küche ging und Sophia um eine Tasse Tee bat. Während unseres mageren Mittagessens im Krankenhaus hatte Sophia nach meiner Wohnsituation gefragt. Somit kam ich nicht darum herum ihr von Hannahs Rauswurf zu erzählen. Woher auch immer sie wusste, wo Sarah, Eleanor, Niall und Louis sich aufhielten: Sie bot mir direkt an im leeren Zimmer ihres Ex-Mitbewohners Jake zu übernachten, bis ich die Sache mit der Polizei geregelt hatte. Ihre Frage, wieso ich mich nicht in ein Hotel eingemietet hätte, beantwortete sie sich selbst: „Okay, nein schon gut. Auf Presse hätte ich dann auch keine Lust."
Tatsache war: Soweit hatte ich bis dato noch gar nicht gedacht. Hannah hatte mir sofort Hilfe angeboten und ich hatte sie angenommen. Nachdem sie mich rausgeworfen hatte, hatte ich zuerst auf meine Freunde gehofft, bevor ich auf die logischste Lösung gekommen war. Ich hatte nicht alleine sein wollen.
„Sophia, kannst du mir bitte helfen?" rief ihre Mitbewohnerin wieder.
„Was?" gestresst pfefferte Sophia ihre Stiefel in die Ecke und warf ihre Jacke über den Küchenstuhl.
„Ich stecke in der Dusche fest. Der Müllbeutel hat sich irgendwie in die Tür geklemmt und mein Gipsbein ist zu fett. Und wenn du schon dabei bist, sei ein Schatz und gib mir ein langes Lineal oder so, die Scheiße juckt, wie Sau."
Sophia sah mich an und legte ihren Zeigefinger auf die Lippen. Ein falscher Satz und wir würden-- „Hast du zufällig eine Idee, wie ich es hinbekomme dass mein Bein nicht stinkt wie ein Iltis?"
Vorbei war es mit der Selbstbeherrschung. Sophia konnte sich kaum halten vor Lachen und auch ich hielt mir den Bauch. Ich wusste nicht, wann ich die letzten Tage mal so herzhaft gelacht hatte.
Am Abend, als Sophia Danas Dilemma mit einem breiten Grinsen auf den vollen Lippen gelöst hatte, stellten wir uns zusammen an den Herd. Ich schälte Kartoffeln, schnitt Zwiebeln und fühlte mich herrlich normal, als Dana mir stolz erklärte, dass sie die besten Bratkartoffeln der Welt mache. Und sie übertrieb nicht. Es schmeckte göttlich und die Mädels freuten sich über meine ausgegebenen Steaks. Zwar hatte Sophia diese einkaufen müssen, doch ich hatte es tatsächlich geschafft sie anzubraten, ohne dass sie schmeckten, wie Schuhsohlen.
„Ach und Dana?" Die Blondine blieb in der Tür stehen. „Ich war Scheiße zu euch, als wir uns in Argentinien getroffen haben. Das tut mir ehrlich Leid." „Schon okay. Schlaft gut." Mit einem Lächeln auf den Lippen humpelte Sophias Mitbewohnerin in ihr Zimmer.
Zwischen uns kam Schweigen auf. Stumm spülte sie die Pfannen per Hand, während ich die Teller in die Geschirrspülmaschine stellte und den Tisch mit einem Lappen abwischte. Wir drei hatten uns so sehr verquatscht, dass die Uhr mittlerweile zweiundzwanzig Uhr anzeigte. Etwas überrascht hatte ich drein geschaut, als Dana verkündete, sie müsse Schlafen gehen. Vorsichtig balancierte ich die Weingläser zur Geschirrspülmaschine, als Sophia mich stoppte und mir ihres wieder aus der Hand nahm. „Das brauche ich heute noch." Müde rieb sie sich über die Augen. „Was hast du vor?"
„Ich muss noch einen Freundschaftsdienst beenden", winkte sie ab und goss sich den letzten Rest Rotwein ins Glas.
„Wenn du mir verrätst, worum es dabei geht, kann ich dir vielleicht helfen", bot ich an und stellte nur Danas Glas in die Maschine.
Dass ich an diesem Abend bis zum nächsten Morgen um vier Uhr Pailletten an ein selbstgeschneidertes Kleid kleben würde, hätte ich in diesem Moment nicht vermutet.
Doch ich war zutiefst beeindruckt und hörte gar nicht mehr auf, Sophia auszuquetschen:
„Wie lange sitzt du schon da dran?" „Wie kamst du auf diese Idee?" „Was ist das für ein Stoff?" „Warum gerade dieser Stoff?"
Irgendwann hatte Sophia mich nur noch schmunzelnd beäugt und immer wieder verhindert, dass ich meine Finger zusammenklebte. Feinmotorik hatte noch nie zu meinen Stärken gehört, weshalb es für mich unheimlich nervenzerreißend war mit einer Pinzette winzig kleine, grüne Teilchen akkurat anzukleben.
„Darf ich dir noch eine letzte Fragen stellen, Sophia?"
Müde strich sie sich eine lose braune Haarsträhne hinter das rechte Ohr bevor sie zustimmend nickte.
„Wieso studierst du Wirtschaftswissenschaften?"
„Weil's mir Spaß macht", antwortete sie viel zu schnell. Sie sah mir nicht einmal in die Augen, sondern schob sich ihre schwarze Lesebrille, welche sie erst aus Scham nicht aufsetzen wollte, weiter auf der Nase.
„Du lügst."
„Nein."
„Wegen deinem Vater, oder?"
„Ich will nicht darüber reden."
Mit meiner Frage hatte ich die Stimmung endgültig gekillt. Statt lockeren Gesprächen durchbrach nun das leise Radio die erdrückende Stille. Nicht ein einziges Mal sah sie mich wirklich an. Nicht, als sie verkündete, sie müsste bloß noch Oberteil und Rock miteinander verbinden, nicht als sie mich ins Bett schickte und auch nicht, als sie mir frische Bettwäsche in die Hand drückte. „Sophia?" Noch einmal drehte sie sich um. „Es tut mir Leid." Fragend sah sie mich an. „Es tut mir Leid, dass ich dich hab stehen lassen auf dem Dach. Es tut mir Leid, dass ich Andy verletzt habe. Es tut mir Leid, dass ich ein Arschloch bin und es tut mir Leid, dass ich dir das Gefühl gegeben habe, dass Andy dich nicht mehr liebt. Das tut er. Du bist die kleine Schwester, die er sich immer gewünscht hat."
Sophia wirkte unheimlich überrumpelt. Ihr Mund stand einen kleinen Spalt offen und im seichten Licht, welches den sonst dunklen Flur erhellte, sah ich ihre Hände zittern.
„Liam- Ich."
„Danke, dass du mich aufgenommen hast. Ich mache die Scheiße, die ich verzapft habe, wieder gut. Versprochen!"
Bevor ich die Schlafzimmertür hinter mir schließen konnte, fand Sophia ihre Stimme wieder.
„Liam? Darf ich mir zwei Dinge wünschen?"
„Alles."
„Nicht zu voreilig."
„Was wünscht du dir?"
„Kämpfe um sein Vertrauen. Andy will dir verzeihen und er ist auf einem guten Weg. Außerdem hab ich mit einer gewissen Violet gesprochen: Du hast mich angelogen. Ich weiß, dass es sein Fehler war."
Peinlich berührt starrte ich sie an. Woher? Was? Wieso? Blut schoss in mein Gesicht, doch Sophia fuhr einfach fort. „Und zweitens möchte ich, dass du mich und meine Freunde morgen in einen Club begleitest."
„Das dürfte ich hinbekommen", stotterte ich mehr oder weniger.
Wenn ich gewusst hätte, dass ich nur 16 Stunden später mit High Heels über die Straße laufen würde, wäre ich schreiend weggelaufen, anstatt peinlich berührt und grübelnd ins Bett zu kriechen.
Der Morgen hatte normal begonnen. Um sieben Uhr wurde ich von Dana geweckt, ich half ihr beim Kaffee kochen und brachte nach einer Joggingrunde Brötchen vom Bäcker mit. Wir frühstückten zu dritt und ich fragte mich, warum ich in Argentinien so ein Arsch gewesen war. Unauffällig horchte ich Dana aus und bekam mit, dass sie einen Narren an Niall gefressen hatte. Nichts wünschte ich meinem Kumpel mehr. Dass er in diesem Moment mit seiner Ex-Freundin in seiner Heimat Mullingar war, ließ ich lieber unausgesprochen.
Während Sophia und Dana schließlich zur Uni aufbrachen, überlegte ich, was ich den beiden zum Mittag kochen könnte und fühlte mich zum ersten Mal nach einer Ewigkeit entspannt und vor allem wirklich gebraucht.
Der erste seltsame Moment kam jedoch bereits um 14 Uhr. Andys Mitbewohner Marius und Alicia klingelten an Sophias Tür und starrten mich seltsam verwirrt an. Es dauerte einen Moment, bis ich ihnen die Situation erklärt hatte. Nur zehn Minuten nach den beiden stolzierte auch Sophia durch die Wohnungstür und begrüßte alle anwesenden mit einer Umarmung.
„Ich hab gekocht", verkündete ich stolz und öffnete den Topf. Sogleich glitt mir alles aus dem Gesicht. „Fuck!"
Sophia, Marius und Alicia wollten meiner Spargelsuppe zwar eine Chance geben, doch die Tatsache, dass ich á la Bridget Jones die falschen Fäden benutzt hatte und meine Suppe eine eklig grüne Farbe angenommen hatte, minimierte unseren Appetit gewaltig. Also beschmierte sich Sophia ein Sandwich während Marius sie ganz hibbelig anfeuerte schneller zu essen.
Mich wunderte diese Situation zwar, doch ich beschloss es einfach dabei zu belassen, schließlich wusste ich nicht, was Sophia und Andys Mitbewohner miteinander verband.
„Trommelwirbel bitte", verkündete Sophia grinsend, nachdem ich ihr dabei geholfen hatte die Art Schaufensterpuppe mit dem fertigen Kleid ins Wohnzimmer zu wuchten. Gespannt schaute ich auf Alicia und für einen kurzen Moment blieb mein Herz stehen, bevor Sophia den schwarzen Stoff vom Kleid nahm und es ihren ‚Auftraggebern' präsentierte.
Zu meinem Schock war es nicht Alicia, die auf quiekte und sich freute, sondern Marius.
Ich brauchte genau zweieinhalb Stunden, um zu verstehen, was genau vor sich ging.
In diesen zweieinhalb Stunden wurde die neidische Alicia mit einem schwarzen Korsettartigen Oberteil vertröstet, welches Sophia einmal für sich selbst geschneidert hatte. „Ich hab zu wenig an der richtigen und zu viel an der falschen Stelle", rechtfertigte sie sich und drückte Alicia das schwarze Leder in die Hände. Blödsinn, wenn man mich fragte. Aber wer tat das schon. In der Zwischenzeit holte Marius seinen Schminkkoffer aus dem Kofferraum und wenig später stand Violett vor meiner Nase.
„Das ist absolut abgefahren", war mein folgenschwerer Kommentar.
Um Punkt 19 Uhr 12 stolzierte ich in sieben Zentimeter Höllenhacken über die Straße und versuchte meine Beine zusammen zu halten.
„Und wie fühlst du dich?" fragte Sophia schadenfroh. Beinahe segelte ich zu Boden, doch sie stützte mich lachend mit ihrem Arm und leitete mich zum Eingang des »Graceland«, einer schrillen Transvestit-Bar.
„Wie soll ich mich schon fühlen?" zischte ich zurück. „Meine Eier und mein Schwanz sind irgendwo in mir verschwunden, ich hab wortwörtlich Kleber im Gesicht und ich trage einen Rock! Ich fühle mich wie ein gottverdammtes Zebra!"
Sophia konnte sich kaum mehr halten vor Lachen und ich fragte wirklich und wahrhaftig, was ich nicht mitbekommen hatte. Warum half sie mir einfach so und warum nahm sie mich tatsächlich mit hier hin? Dass sie sich einen üblen Scherz erlaubte, glaubte ich nicht. Wollte ich nicht glauben.
Zumindest nicht, bis einer/eine – was auch immer – Dolly Parton die Show ankündigte.
Mir blieb die Spucke im Hals stecken. Das musste ein Scherz sein. Ich wollte nicht glauben, dass Sophia das geplant hatte.
„Macht mal richtig Lärm: Für unseren eigenen Zayn Malik, seine Gigi Hadid und ihren ‚Pillowtalk'!"
_________________________________
Zum Abschluss noch: Marius' neues Kleid, entworfen mit Hilfe von Granny Smith :)
https://youtu.be/uK98jrF_0Og
Ihr bedeutet mir unheimlich viel♥
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top