N für Nie Wieder
LIAM ➜ 05. - 07. März 2016 London, England
„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ein einfaches Danke reicht einfach nicht." Mit ihren letzten an mich gerichteten Worten, hatte Sophia einfach so viel frei getreten, dass ich nicht recht wusste, wie ich damit umgehen sollte. Wenn ich an die letzten zwei Monate zurück dachte, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Es war einfach nur absolut ekelhaft, wie ich mich aufgeführt hatte und das bloß, weil ich geglaubt hatte es mir leisten zu können. Dabei hatte ich mehr Menschen auf den Schlips getreten, als ich jemals für möglich gehalten hatte. Und dieser Groschen war nur in Zeitlupe gefallen. Aber immer war er gefallen.
Ich wusste nicht warum Sophia wieder in mein Leben getreten war, oder warum sie es sich zur Aufgabe gemacht hatte, meinen Arsch aus der Scheiße zu ziehen, aber sie hatte es geschafft. Mit ihrer schroffen aber tollpatschigen und ehrgeizigen Art, war sie zu mir durchgedrungen und hatte in nur zwei Monaten geschafft, woran meine besten Freunde ein halbes Jahr lang gescheitert waren.
„Du musst dir da gar keine Gedanken drum machen, Liam. Ich hab es gerne getan!"
„Aber warum? Ich war ein absoluter Vollarsch!"
„Und das konnte ich nicht so stehen lassen." Ein verschmitztes Lächeln zierte ihre Lippen. Und es steckte mich an. Wie lange wir uns gegenseitig wirklich angrinsten, wusste ich nicht. Sophia war es schließlich, die die Stille brach. „Wir könnten beide eine gute Mütze Schlaf gebrauchen, meinst du nicht auch?"
Sie hatte Recht.
Wie so oft in den letzten Wochen.
Die Tür schloss sich langsam hinter ihr. Ich sah, wie sie das Licht im Flur löschte und hörte irgendwann kein Geräusch mehr. Kein Geräusch, abgesehen von meinen nervigen Gedanken, die sich widerlich im Kreis drehten.
Dank meiner gut gepolsterten Konten, konnte ich bereits morgen in mein Apartment zurück. Hier und da ein wenig Farbe, eine neue Couch und vielleicht ein neues Regal, in welchem ausnahmsweise mal kein Alkohol stünde. Aber wollte ich überhaupt zurück? Auch wenn ich es vorher absolut nicht für möglich gehalten hätte, gefiel mir das WG-Leben wirklich. Sollte ich mich vielleicht mit einem ausgiebigen Frühstück bedanken? Musste Sophia morgen wieder in die Uni? Dann würde sie sich sicher freuen? Oder hatte sie Wirtschaftswissenschaften schon an den Nagel gehangen? Wieso wusste ich es nicht? Ich hatte ihr doch zugehört?
Irgendwann musste ich schließlich doch eingeschlafen sein, nachdem ich alles möglich zerdacht hatte, was mir so in den Sinn gekommen war. Mein vibrierendes Handy weckte mich schließlich gegen sieben Uhr dreißig. Andys Mutter ließ mich wissen, dass es ihrem Sohn heute besser ging, als noch an den Tagen zu vor. Sein behandelnder Arzt habe die Verbände gewechselt und sei nicht nur überrascht, von Andys vorangeschrittener Heilung, sondern auch äußert zuversichtlich, dass alles Lehrbuchmäßig verheilen würde. Mit einem breiten Grinsen auf den Lippen bat ich sie, meinem besten Freund ganz liebe Grüße auszurichten.
Da sich das Schlafen ohnehin für mich nun erledigt hatte, stand ich auf und begann in der Küche so leise wie möglich Kaffee zu kochen und alles für das Frühstück bereit zu stellen. Dana zu liebe briet ich den Speck in einer extra Pfanne an und stellte erst viel zu spät fest, dass das Brot hart, das Toastbrot geschimmelt und die Brötchen alle waren.
„Scheiße", fluchte ich leise und zuckte noch im selben Moment zusammen, als ich Dana durch den Flur poltern hörte. „Fuck", zischte auch sie und einen Moment später stellte ich auch fest warum. Seit der Arzt ihr nahegelegt hatte, sie solle die Krücken zumindest zuhause lieber links liegen lassen, stolperte sie noch mehr als zuvor. Obwohl die ärztliche Anweisung bloß gut gemeint war, um später ein Haltungsproblem zu vermeiden, schien Dana sich so sehr an ihre Krücken gewöhnt zu haben, dass es ihr nun schwer fiel auf jene zu verzichten.
Gut okay und Sophias Schuhe standen oft genug im Weg.
„Warte, ich helfe dir." Noch bevor ich sie unter den Armen packen und wieder aufrichten konnte, hatte sie sich an der Kommode selbst nach oben gestemmt. Ihre blonden Haare standen wirr vom Kopf ab und ihr Shirt war nach oben gerutscht. Trotz ihrer offensichtlichen Müdigkeit, war sie prima dazu im Stande mich böse anzufunkeln. Was genau hatte ich jetzt wieder falsch gemacht? War Rührei plötzlich nicht mehr vegetarisch?
„Ich muss mal mit dir reden, jetzt, wo Soso nicht an deinem Arsch klebt."
Plötzlich fühlte sich mein Hals völlig zugeschnürt an. Dass Dana mich nicht gerne hier sah, hatte ich schon sehr früh bemerkt. Doch dass sie mir jetzt so kühl gegenüber trat, ließ meine Beine wackeliger werden, als ich es gewohnt war. Angst wäre vielleicht zu hoch gegriffen. Doch gesunden Respekt hatte ich vor ihr allemal.
„Äh, okay?" stammelte ich daher unsicher und folgte ihr in die Küche.
Mir gegenüber ließ sie sich nieder und nahm sich erst einmal einen Schluck schwarzen Kaffee, bevor sie klar und deutlich sprach: „Also, kommen wir mal gleich zur Sache. Ich weiß nicht warum Sophia dich angeschleppt und um ehrlich zu sein, will ich's auch gar nicht wissen. Aber eine Sache, sei dir gesagt. Niall hat mir genug über dich erzählt, damit ich mir Sorgen mache. Wenn du Sophia auch nur ein Haar krümmst, dann werde ich dich finden und dir die Schmerzen deines Lebens bereiten, klar? Ich will sie nicht hier irgendwann heulend sitzen haben."
Wie bitte was?
„Äh, ja. Verstanden. Also...nicht dass ich das vorgehabt hätte, aber ja."
Artikulieren war nie meine Stärke, wie ich gerade feststellte.
„Dann ist ja gut."
„Was ist gut?"
Oh, dem Himmel sei Dank! Spontan fiel mir kein anderer Moment ein, indem ich froher gewesen war, dass Sophia aufgewacht war. Doch noch bevor ich irgendetwas hätte erwidern können, sprach Dana. „Das Rührei. Liams Rührei ist wirklich gut, hier probiere doch mal!" Ungeachtet der Tatsache, dass es grammatikalisch keinen Sinn machte, was sie da erzählte, stopfte sie nicht nur sich selbst eine Gabel voll meines – inzwischen sicher – kalten Rühreis in den Mund, sondern schob auch Sophia etwas zwischen die Lippen.
„Ja, stimmt. Das ist gut, Liam", richtete sie sich nun an mich und fuhr sich durch das strubbelige, braune Haar. Auch sie trug die Haare nur zu einem unordentlichen Dutt zusammen gebunden. Anhand ihrer äußerlichen Erscheinung und der Uhrzeit schloss ich, dass Sophia wohl doch nicht in die Schule musste.
Somit konnten wir in Ruhe frühstücken, denn auch Dana schien es nicht eilig zu haben. Naja, zumindest hätten wir in Ruhe frühstücken können, wenn wir irgendetwas Brot-ähnliches gehabt hätten und mir nicht noch etwas auf der Seele gebrannt hätte. Aus taktischen Gründen wartete ich allerdings bis Dana unter der Dusche stand.
Während ich die Pfannen aufwusch, goss sich Sophia eine weitere Tasse ein. Wie genau sollte ich anfangen? Warum machte ich es mir überhaupt so schwer. „Sophia?" begann ich das Gespräch und hätte mich schon im nächsten Moment ohrfeigen können: „Hast du gleich noch irgendwas vor, also ich meine außer duschen?" Ich hörte mich an, als würde sie stinken. Sophias Blick bestätigte mir, dass ich absoluten Stuss redete. Somit schoss ich sofort hinterher: „Also ich meine nicht, dass du...also was ich eigentlich sagen wollte...Himmel Herr Gott!"
„Ist alles okay?" Lachend kam sie auf mich zu und nahm mir den Schwamm aus der Hand, bevor ich vor Nervosität noch die gesamte Beschichtung der Pfanne abschrubben konnte.
Tief durchatmend sprach ich schließlich unnötig schneller, als ich müsste: „Hast du später noch was vor? Ich könnte deine Hilfe beim zusammenbauen meiner Regale gebrauchen." Warum machte ich mich bitte so verrückt? Bloß, weil ich Gewohnheitstier nicht hier wegwollte? Oder weil ich insgeheim wusste, dass ich mich schon lange nicht mehr so ruhig und heimisch gefühlt hatte?
„Deine Wohnung ist fertig?" Große Augen mit einem undefinierbaren Blick sahen mich an. Der Schwamm sank zurück in das mittlerweile bräunlich verfärbte Wasser. Mehr als ein Nicken brachte ich nicht zustande. Vor allem nicht, als sie schluckte und dann ein hässlich, künstliches Lächeln auflegte, welches ich so noch nicht an ihr gesehen hatte. „Das ist doch toll. Klar, ich helfe dir gerne. Ich muss allerdings wirklich vorher noch duschen, nicht dass deine Wohnung dann noch mehr stinkt." Zwinkernd lief sie aus der Küche und ließ mich stehen.
Ich wusste, ich hätte es früher erwähnen sollen. Gestern Nacht hatte ich jedes mögliche Szenario dieses Gespräches durchgespielt. Aber dass sie tatsächlich einen enttäuschten, traurigen Eindruck machen würde (sollte mich meine Menschenkenntnis nicht vollends im Stich lassen), damit hatte ich nicht gerechnet.
Auch mit der Stille im Taxi hatte ich nicht gerechnet.
Nachdem Sophia sich geduscht und ich meine Klamotten zusammengepackt hatte, waren wir zunächst zu meinem Loft gefahren und hatten meine Sachen dort abgestellt. Es war ein seltsames Gefühl in meine vier Wände einzutreten. Mir kam es so vor, als würde noch immer alles nach Ruß und Gas riechen. Ich schmeckte den bitteren Geschmack des Tequilas auf der Zunge, als ich durch das Wohnzimmer Richtung Balkon schlurfte.
„Kommen die Jungs noch zum Streichen? Dieses weiß ist ganz schön kühl und unpersönlich." Mit ihrem ersten richtigen Satz seit dem Frühstück traf sie schon wieder mitten ins Schwarze.
„Nein. Sie sind beschäftigt."
„Ist dir das auch aufgefallen?" Ihre Stimme wurde mit einem Male lauter und höher, sie klang, als hätte sie die Entdeckung ihres Lebens gemacht. Es fehlt bloß noch ein freudiges ❛Heureka❜.
„Was?"
„Na, dass wir nur mit Pärchen beziehungsweise verliebten befreundet sind. Hannah und Harry. Louis und Eleanor. Sarah und Finn. Niall und Dana."
Sie hatte Recht. Warum war mir das nicht schon vorher aufgefallen? Sophia und meine Wenigkeit waren die einzig normalen in unserem Freundeskreis. Andy war schließlich auch unsterblich in Dana verliebt. Genau, wie Sarah – meiner Meinung nach immer noch unserem Iren – Moment mal. „Hast du gerade gesagt, dass Sarah und Finn ein Paar wären?"
„Sind sie das nicht?"
Da ich mir kein Lachen verkneifen konnte, lief Sophia rot an und stammelte sofort irgendwas davon, dass sie Finn nur kurz kennen gelernt hätte und er Sarah so lieb angesehen hätte. „Das liegt daran, dass Finn nur ein paar Minuten älter ist, als Sarah – eine knappe halbe Stunde oder so- und das reibt er ihr nur zu gerne unter die Nase."
Dieses kleine Malheur schien bei Sophia den nötigen Knoten zum Platzen gebracht zu haben. Selbst im Möbelhaus, wo ich eine neue Couch und ein schönes neues Regal erstand, plapperte sie wie ein Wasserfall, als wäre nie etwas gewesen. Vermutlich war ihr nun bewusst geworden, dass sie mich jetzt doch endlich losgeworden war und in der WG nun ihre Ruhe hatte.
„Willst du deine weißen Wände nicht ein bisschen bunter gestalten?" Während ich den Bausatz des Regals durch die Gänge schob, hatte Sophia kurz vor der Kasse bei den Farben angehalten. Wirklich Unrecht hatte sie nicht. Das weiß wirkte trist und ich war mir sicher, dass ich hier und da noch Rußflecken finden würde.
„Und was stellst du dir vor?"
Falsche Frage. Ganz falsche Frage. Sophia ging voll in ihrem Element auf. Faselte etwas von Steintapete, anthrazit, welches grandios mit diesem dunklen-türkis-blau-Zeug harmonieren würde. Davon, dass ich die bestellte Couch doch lieber abbestellen und dafür die anthrazit-farbene nehmen sollte und wie gut sie zu dem metallenen Gitter-Schalen-Regal und vor allen Dingen zu dem dunklen Holz passen würde. Mir rauschte der Kopf, schlicht und einfach. „Okay", meinte ich schließlich nur und ließ sie machen.
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich ihr meine Kreditkarte in die Hand gedrückt und auf die Lautsprecherdurchsage: ❛Der kleine Liam möchte bitte aus dem Spieleparadies abgeholt werden❜ gewartet. Aber nein, ich durfte tragen. Ob sie mich nun nach meiner Meinung fragte, oder in China fiel ein Sack Reis um. Es war egal, denn ich ließ sie einfach machen.
Erst, als wir nach einer guten Pizza, die Tapete im gräulichen Mauer-Look angebracht hatten, begann ich zu sehen, wovon sie gesprochen hatte. Während sie die irgendwas-blaue Farbe in der einen Ecke anbrachte, pinselte ich neben der Tapete alles grau. Zunächst hatte ich befürchtet, es würde zu dunkel werden, doch Sophia bewies wahres Geschick. Meine Fensterfront brachte genug Licht und auch der neue Strahler in der rechten Ecke der Couch würde seinen Dienst tun.
Völlig erschöpft und wortwörtlich eingekleistert ließ ich mich schließlich neben Sophia fallen. Die Uhr zeigte bereits 19:54 Uhr an und wie auf Kommando meldete sich mein Magen.
„Hast du irgendwas zu Essen da? Vermutlich nicht oder?" Den Kopf schüttelnd seufzte ich auf und unterbreitete Sophia unsere zwei Möglichkeiten: „Entweder, wir schneien mal bei der alten Mrs. Jenkins rein und hoffen, dass sie etwas da hat oder du gehst duschen und ich hole uns beim Inder um die Ecke was."
„Definitiv Option zwei", schnaufte Sophia und ließ sich von mir nach oben ziehen.
Mit einem flinken „Erste Tür oben links ist das Badezimmer, dritte oben rechts mein Schlafzimmer samt Kleiderschrank; fühle dich wie zuhause", schloss ich die Tür hinter mir. Um eine weitere peinliche Situation zu vermeiden, hatte ich angeboten zu laufen, während sie sich von dem Tapetenkleister und der Farbe befreite. Um ein Haar wäre mir nämlich heraus gerutscht, dass sie die Dusche nötiger hatte als ich. Doch noch so eine Blöße hatte ich mir nicht geben wollen. Aufgrund ihrer geringeren Körpergröße hatte sie sich allerdings beim Streichen mehr anstrengen müssen, um überall heran zu kommen. Somit hatte sie sich, anstatt meine Hilfe anzunehmen, ordentlich mit Farbe bekleckert. Wenn ich das früher gewusst hätte, hätten wir auch sie in Farbe tunken und über die Wand rollen können.
Da ich nicht wirklich wusste, was genau Sophia eigentlich essen wollte und ich auch nicht daran gedacht hatte, sie danach zu fragen, bestellte ich kurzerhand völlig ahnungslos die ersten drei Gerichte aus der Hauptspeisen-Kategorie.
Einmal PARUPPU CURRY, ein Gericht mit gelben Linsen, Kokosmilch, Ingwer, Knoblauch und schwarzem Pfeffer.
Eine Portion simplem Lamm Curry mit grünem Chili.
So wie einmal JAFFNA BRIYANI. Ein Reisgericht mit Eiern, Hühnerschenkeln, Nüssen und Sultaninen.
Irgendetwas davon konnte man ganz sicher essen.
Hoffte ich zumindest.
Wie genau ich es schaffte ungesehen durch die kühle Nacht zu huschen, wusste ich nicht. Was ich allerdings wusste, war, dass es ein grandioses Gefühl war, meine Haustür aufzuschließen und zu wissen, dass man mich erwartete. Als ich Stufen nach oben lief, überkam mich ein wohliges Gefühl. Als ich die Tür aufschloss lächelte ich schon fast. In meinem weißen Bademantel saß Sophia auf der Couch, die noch mitten im Raum stand. Der Nachteil an dem offenen Wohnbereich war, dass auch die Küche nach Farbe roch, weshalb sie nicht nur das Fenster in der Küche, sondern auch die Terrassentür geöffnet hatte, damit der Gestank heraus ziehen konnte.
„Wenn so in dem Durchzug sitzen bleibst, erkältest du dich nur wieder."
Da Sophia bereits Teller und Besteckt auf den neuen Couchtisch gestellt hatte, brauchte ich nur die Tüte dort abzustellen und meine Klamotte an der Garderobe zu lassen. Erst, als ich mich neben sie fallen ließ, fiel mir auf, dass die Idee mit der neuen Couch gar nicht so schlecht gewesen war. Meine alte, war ziemlich mitgenommen – von der Brandstelle an der Fensterseite mal abgesehen – und durchgesessen.
„Ich wollte nicht einfach an deinen Schrank. So heimisch wollte ich mich dann doch nicht benehmen. Ich rieche ja schon nach dir und hab deinen Bademantel ausgeliehen." Fast schon schüchtern fuhr sie sich durch die noch feuchten Haare. „Aber wenn du auch schnell unter die Dusche springst, kann ich die Waschmaschine und den Trockner anschmeißen", nach kurzer Überlegung setzte sie hinzu: „Gut, dann würde ich mich nicht weniger heimisch benehmen, aber egal." Lachend schob sie sich eine Gabel des Lamm Currys in den Mund und spuckte es keine zwei Sekunden später einmal über den Tisch. Hustend versuchte sie so schnell es ging Milch aufzutreiben. „Willst du mich vergiften? Bah!"
„Schärfe ist nicht so deins, kann es sein?" Schälmisch grinsend schob ich mir ebenfalls eine Gabel voll in den Mund. Normalerweise aß ich hin und wieder gerne scharfe Gerichte. Dieses hier brannte mir jedoch alles weg. Mund, Zunge, Rachen, Speiseröhre. Alles tot. Tränen schossen in meine Augen und ich hatte Mühe, mich ‚cool' aufzuführen.
„Dann kannst du ja das Curry essen und ich probiere mich an dem Rest."
Scheiße.
Gegen dreiundzwanzig Uhr schlüpfte ich aus der Dusche und wickelte mir ein großes Handtuch um die Hüfte. Sophia schien bereits zu schlafen, denn im Gästezimmer war es absolut still. Nachdem sie nach dem Essen festgestellt hatte, dass es spät geworden war, hatte ich ihr dieses als eine Art des Revanchierens angeboten. Nun schlief sie vermutlich schon und trug immerhin eines meiner alten, langen T-Shirts.
Nur in Boxershorts und mit noch nassen Haaren legte ich mich ins Bett und löschte das Licht.
Schlafen konnte ich allerdings nicht.
Meine Gedanken kreisten um jenen verhängnisvollen Abend. Hier her hatte ich Paige nehmen wollen, während mein bester Freund bei lebendigem Leibe brannte. Ohne es erklären zu können, hatte ich schon wieder den süßlichen Geruch von verbranntem Fleisch in der Nase. Ich sah die Flammen vor mir und bekam plötzlich nicht mehr richtig Luft. Hustend öffnete ich das Fenster und starrte an den Sternenhimmel. Beruhigen tat es mich allerdings nicht.
Ob Sophia wirklich schlief?
Im Laufen striff ich mir ein T-Shirt über und klopfte leise an ihre Tür. „Herein?" flüsterte sie. Noch brannte Licht, also hatte ich sie nicht geweckt. Aber was wollte ich hier? Mit genau dieser Frage in den Augen sah sie mich an. „Eh...ich dachte..." Ja, was dachte ich eigentlich? Mit schweifendem Blick blieb ich schließlich bei Sophias Handy hängen. Es lag herum gedreht auf dem Nachttisch. Und offenbarte den Blick auf ihre König der Löwen-Handyhülle. „Ich dachte, du hast vielleicht Lust einen Film zu schauen?"
Wenn ich ganz viel Glück hatte, würde sie zustimmen. Wir würden bei mir im Zimmer schauen, weil sich dort nicht nur meine VHS-Kassetten-Sammlung und der zugehörige Videorecorder dort befanden, sondern – wenn das Glück ausnahmsweise mal auf meiner Seite sein sollte – würde sie bei mir im Bett einschlafen und ich war nicht alleine.
„Klar, wieso nicht. Aber nur, wenn's ein Disney-Film ist, zu dem man schön einschlafen kann."
Natürlich entschied sie sich für den Klassiker ‚Der König der Löwen'. Doch mir war so ziemlich alles Recht. Hauptsache, ich musste nicht alleine sein. Dies war ein weiterer Vorzug der WG gewesen. Für einen kurzen Moment hatte ich darüber nachgedacht, wieder einen Hund zu adoptieren, nachdem Danielle Loki mitgenommen hatte. Wenn ich allerdings realistisch bleiben wollte, musste ich einsehen, dass ich definitiv keine Zeit für ein Haustier hatte.
„Hast du deine Verbände eigentlich nochmal gewechselt", fragte Sophia kurz bevor Scar seinen kleinen Neffen in die Schlucht lockte in die Stille hinein.
„Jap, vor dem Duschen. Und der Kontrolltermin ist erst am 10.", antwortete ich und machte mich schon auf eine Sintflut an Tränen bereit. Dass ich der einzige, der sich eine Träne verdrücken musste, während der kleine Simba versuchte nicht vom Ast abzurutschen, hatte ich nicht wissen können. Selbst als Mufasa leblos vor seinem Sohn lag, sah ich nicht eine Träne ihre Wange hinab kullern.
Noch bevor Simba neben Timon und Pumba aufwuchs, war Sophia eingeschlafen. Den Kopf leicht an meiner Schulter eingelegt schlummerte sie friedlich vor mich hin. Ohne mich zu sehr zu bewegen, machte ich den Fernseher aus und zog eine Decke über uns. Ihre langsame Atmung beruhigte mich und ließ mich solange, ruhig schlafen, bis ich meinen besten Freund vor meinem inneren Auge sah.
Der festen Überzeugung, er baumle von meinem Balkon und stürzte jeden Moment in die Tiefe, räumte ich sämtliche Möbel und Werkzeuge von der Tür weg, kam aber einfach nicht an ihn heran. Erst, als ich aus lauter Verzweiflung die Glastür versuchte einzutreten, kroch ich langsam aber sicher aus meinem Traum heraus.
Jammernd saß Sophia auf dem Boden und hielt sich japsend die Brust.
„Sophia, was zum?"
„Du hast mich aus dem Bett gekickt."
Völlig verwirrt versuchte ich die Situation richtig einzuordnen. So wie es aussah, hatte ich mich nicht nur im Schlaf so gedreht, dass mein Gesicht auf Höhe ihrer Füße lag, sondern hatte solchen Stuss geträumt, dass ich nun völlig verschwitzt auf der Matratze saß und auf Sophia herabblickte, die ich mit einem kräftigen Tritt aus dem Bett befördert hatte.
„Geht's dir gut?" Besorgt sah sie mich an und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sie mein Tritt gehörig außer Atem gebracht hatte. Wie es aussah hatte ich sie mitten am Brustkorb getroffen.
„Das fragst du mich?! Viel wichtiger ist es, wie es dir geht? Hab ich sehr wehgetan, komm her." Hektisch schaltete ich die Nachttischlampe ein und half Sophia zurück ins Bett. Durch meine schwitzigen Hände wäre sie mir beim Versuch sie nach oben zu ziehen, beinahe wieder entglitten. Zwar sah ich meinen Abdruck auf ihrem Brustkorb, konnte jedoch äußerlich nichts erkennen.
„Bist du sicher, dass alles okay ist?"
„Ja. Die Frage ist, was hast du geträumt?"
„Ach, das hab ich schon wieder vergessen."
„Verarsche mich nicht, Liam."
Warum zum Teufel konnte ich sie partout nicht anlügen? Natürlich hatte ich es nicht vergessen. Im Gegenteil. Ich fragte mich, warum mein Hirn Scars Mord an seinem Bruder mit Andys Unfall verknüpfte. Die logischste Erklärung war, dass auch ich in Andy meinen Bruder sah.
„Das ist doch Quatsch", sprach Sophia sofort nachdem ich ihr meinen Traum bis ins kleinste Detail erläutert hatte. „Es war nicht deine Schuld und du würdest ihn niemals umbringen, denk doch nicht so einen Mist."
Etwas überrumpelt saß ich da, als sie mit einem Male ihre Arme um mich schlang, um mich zu trösten. Sollte nicht ich derjenige sein, der sie tröstet? Immerhin hatte ich sie aus dem Schlaf getreten und verletzt. „Versuche einfach jetzt noch ein bisschen zu schlafen. Denk an etwas Schönes. Du könntest zum Beispiel überlegen, was du Hannah zum Geburtstag schenken möchtest? Nur bitte versprich mir, dass du dir keine Sorgen mehr um Andy machst, ja?"
Auch wenn ich es ihr versprochen hatte, tat ich in dieser Nacht kein Auge mehr zu. Im Gegenteil. Einerseits hatte ich Angst, wenn ich erneut einen Albtraum haben würde, könnte ich Sophia wieder verletzten. Das Bett wechseln wollte ich nicht, denn auf der anderen Seite wollte ich nicht alleine sein. Somit beschloss ich, dass es heute Zeit für eine Einweihungsparty war. Ich würde einfach früher aufstehen und die Möbel soweit es ging aufbauen. Noch eine ganze Weile blieb ich einfach neben ihr liegen, bis die Uhr sechs Uhr dreißig anzeigte, stand auf und beschloss dass ich mich mal wieder meinem Körper widmen sollte.
Völlig verschwitzt stand ich also gegen sieben Uhr morgens in meinem Fitnessraum und ärgerte mich, dass mein Gehirn noch immer nicht die Fresse halten wollte. Normalerweise wäre ich einfach nach unten gegangen, hätte meine hölzerne Schachtel hervor geholt und mir einen saftigen Dübel gedreht. Aber was war schon normal, seit ich meinen besten Freund beinahe umgebracht hatte?
Da mir auch das Training nicht dabei half, meine Gedanken abzustellen, lief ich nach unten ins Wohnzimmer und kochte erst einmal eine Kanne Kaffee. Leise war meine Aktion nicht wirklich, das Mahlen der Kaffeebohnen glich einem Maschinengewehr. Sophia schien es allerdings nicht aufgeweckt zu haben. Vermutlich war sie tot müde, nachdem ich sie heute Nacht wortwörtlich aus dem Bett geschmissen hatte.
Als Sophia aus dem Bett kroch war es bereits halb zehn und ich konnte ihr nicht nur einen gedeckten Frühstückstisch, sondern auch ein halbfertiges Wohnzimmer stolz präsentieren. „Guck, ich hab das Regal ganz alleine aufgebaut", stolz zeigte ich auf das Gitter-Obstschalen-Was-auch-immer-Ding.
„Hätte ich ein Fleißbienchen, würde ich's dir geben", konterte sie frech grinsend und schüttete sich eine Schale mit Müsli voll.
„Ha-ha." Die Zunge rausstreckend setzte ich mich zu ihr und beschmierte ein Brötchen mit Marmelade. „Aber mal ehrlich, deine Idee war wirklich gut." Stolz schaute ich mich um. Sowohl das blau, als auch dieser dunkle Grauton passten super zu den teils rustikalen Möbeln und dem Laminat.
„Na, dann muss ja nur noch ein bisschen Deko her."
„Och nö oder?"
Und ob.
Sophia schleifte mich allen Ernstes an diesem Nachmittag in die Stadt. Sicher, ich hätte ohnehin los gemusst, um für die spontane Einweihungsparty ein paar Kleinigkeiten zu besorgen, aber den Sinn hinter zwei Stunden Ramschläden-durchstöbern, fand ich einfach nicht. Während sie Kerzenständer, Bilder, Bücher und Kissen besorgte, kümmerte ich mich um Fleisch, Salat und Bier. Nachdem ich eine Einladung rundgeschickt hatte, bot Harry sich sogleich an den Grilldienst zu übernehmen. Da mein Gasgrill im hohen Bogen aus dem Loft verband worden war, machte ich mir weniger Gedanken darum, als um diese blöden vegetarischen Alternativen.
„Ach komm, das hat Hannah verdient, nachdem sie dich so lieb aufgenommen hat", meinte sie lachend und fügte schließlich leise flüsternd, eher zu sich selbst, hinzu: „ Aber von dem Grillen halte ich noch nicht so viel."
Und wieder hatte Sophia Recht.
Während sich meine Freunde an dem Bier bedienten oder wahlweise Sekt schlürften, hielt ich mich mit Cola und dem ein oder anderen Energydrink bei Laune.
„Ich bin wirklich stolz auf dich, Liam. Die Wohnung ist klasse geworden." Erschrocken zuckte ich zusammen, als Hannah mit einem Male neben mir auftauchte. „Besonders dieses rustikale gefällt mir wirklich gut."
„Das war alles Sophias Idee. Das Kompliment musst du an sie weiter geben", lächelte ich ehrlich und schenkte ihr noch einmal Sekt nach.
„Sophia, also. Interessant", ich sah sie anzüglich zwinkern, ignorierte es aber. Was sollte das denn? Als könnten Männer und Frauen nicht befreundet sein.
Noch bevor ich mich bei Hannah über dieses dämliche Klischee aufregen konnte, kam Niall auf mich zu gelaufen: „Liam, kommst du mal schnell, bitte?" Der panische Ausdruck in seinem Gesicht bereitete mir regelrecht Magenschmerzen. Als ich auf den großen Balkon trat, wusste ich auch wieso.
Harry der Vollidiot hatte zu viel Grillanzünder auf die Kohle gekippt. Einen Meter hohe Flammen schossen aus dem steinernen Grill hervor und schnürten mir die Kehle zu. Ich konnte nichts weiter tun, als in das Rot zu starren, den Qualm zu riechen und vor Schock zurück zu stolpern. Zurück in Richtung Whirlpool.
Ich stolperte, rutschte auf dem verspritzten Wasser aus und schlug auf den harten Beton auf. Wenn ich geglaubt hatte, dass mir nach der peinlichen Eislauf-Aktion der Arm wehgetan hatte, hatte ich mich gehörig getäuscht. In meinem inneren Ohr hörte ich es knacken und hielt mir den vor Schmerz pochenden Arm.
Eines stand fest: Ich würde Harry nie wieder an meinen Grill lassen.
Und nie wieder gäbe es eine Whirlpool-Einweihungsparty in meinen vier Wänden.
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