I for Impulsive


SOPHIA   23. Februar - 27. Februar 2016 London, England

Es fiel mir unglaublich schwer, nicht vor Lachen beim Laufen den Boden zu küssen. Liam trug ein sexy anliegendes schwarzes Kleid, versehen mit unzähligen Pailletten und einem lilafarbenen Gürtel. Passend dazu hatte Marius ihm lila Smokey-Eyes geschminkt. („Gott, das ist total deine Farbe, Lee!")

In schwarzen Heels stöckelte er grazil, wie ein Storch im Salatbeet, über die Straße. Es wunderte mich, dass er dem Ganzen überhaupt zugestimmt hatte. Von Hannah und Sarah hatte ich, während meines Wochenendes in Wolverhampton, erfahren, dass Liam zu Beginn des Jahres unheimlich arrogant und ignorant gewesen war. Seit einigen Wochen schien er jedoch gegen sein altes Ich ankämpfen zu wollen. Dabei wollte ich ihm unbedingt helfen, denn noch immer zerfraßen mich meine Schuldgefühle. Nur deswegen hatte ich ihn gebeten, mich in Marius' Stammclub zu begleiten. Dass er sich tatsächlich darauf einlassen würde sich zu verkleiden, hätte ich niemals für möglich gehalten. Schließlich hatte Marius ihn bloß ein wenig ärgern wollen.

„Ja, ja. Lach du nur", fluchte er und stakste hinter uns her. „Alter, ich bin keine fünf Minuten am Laufen und mir fallen die Füße ab. Wie macht ihr Mädels"- Er unterbrach sich selbst und schaute neidisch zu Marius alias Violet und Alicia, welche eine graziler als die andere über das unebene Kopfsteinpflaster stolzierten. „- und Jungs das? Ich will mir am liebsten die Füße absägen."

„Wer schön sein will, muss leiden", grinste Marius frech und hielt uns die Tür auf.

Beeindruckt blickte ich mich um und wusste gar nicht, wo ich zuerst hinschauen sollte. Auf dem Weg ins »Graceland« hatte Marius mich mental darauf vorbereiten wollen, in welch künstlerischen Himmel ich mich begeben würde. Und er behielt Recht. Meine Augen wussten nicht, wohin sie zuerst sehen sollten. Obwohl die meisten Kostüme förmlich nach Aufmerksamkeit schrien, fühlte sich meine Muse geküsst. In meinem Kopf bastelte ich mir unzählige Skizzen und Entwürfe zurecht. Meine Finger kribbelten und ich konnte es beinahe schon nicht erwarten nach Hause an meinen Block zu kommen.

Liam hingegen hielt sich vornehm zurück. Er starrte wie festgewachsen auf die Bühne und als ich sah, wie sich ein Mann, geschminkt und verkleidet als Blondine und eine Frau, wiederum geschminkt und verkleidet, als ein Mann, lasziv aneinander rieben, schenkte ich der Musik zum ersten Mal wirkliche Beachtung.

Scheiße.

» I'm seeing the pain, seeing the pleasure. Nobody but you, 'body but me, 'body but us, bodies together. I love to hold you close, tonight and always «

Mir blieb die Spucke im Hals stecken. Das musste ein Scherz sein. Völlig überzogen rieb sich „Gigi" an „Zayn" und brachte das Lokal zum Kochen. Etwas panisch wanderte mein Blick sofort zu Liam. Erst gestern Abend hatte er sich bei mir entschuldigt. Auch wenn ich mir nie wirklich sicher war, was in ihm vorging, glaubte ich ihm. Wollte ihm glauben. Dieses Mal  nahm ich ihm wirklich ab, dass er es ernst meinte.

Jeden Tag musste er deutliche Fortschritte gemacht haben, was ich alleine an seiner Reaktion im Krankenhaus bemerkt hatte. Doch jetzt? Jetzt hatte ich Angst, dass dieser kleine Vorfall ihn zurück werfen könnte. Wenn ich vorher gewusst hätte, dass ein befreundetes Paar von Alicia und Marius Liams Ex-Bandkollegen und seine Modelfreundin parodierten, hätte ich ihn niemals mit hier her genommen.

Bevor ich mir allerdings die schlimmsten Szenarien hatte ausmalen können, hörte ich schallendes Gelächter zu meiner Linken. Seine Augen strahlten, ich fand kleine Fältchen, Grübchen und ein breites Grinsen. Er schaffte es beinahe nicht mehr aufzuhören und alleine der Klang fegte jegliche Bedenken beiseite. Er schien völlig darüber zu stehen und sich nicht mehr zurück werfen lassen zu wollen. Leichter Anflug von Stolz überkam mich und mein Lächeln ließ sich gar nicht mehr abschrauben.

„Das muss ich den"- er unterbrach sich selbst, als er feststellte, dass sein Handy nicht in seiner Hosentasche stecken konnte. „Wo hab ich mein Handy hingesteckt?"

Nun war ich diejenige, die in Gelächter ausbrach. Nachdem ich ihn zuhause davon abhalten konnte, sein Handy in die Unterhose zu stecken, hatte er es sich kurzerhand in seinen BH geschoben, anstatt es mir zu überlassen. Immerhin war ich diejenige mit einer großen Tasche, in welcher sich zwei Paar Wechsel - Ballerina befanden. Eines passend zu seinem Kleid und ein anderes passend zu meinem schwarzen Jumpsuit. „Du hast es...", mit dem Finger zeigte ich vorsichtig und sehr dezent in Richtung seines Dekolletés. „Was?" Planlos suchte er noch immer und war kurz davor in der Strumpfhose nachzusehen.

„Herr Gott nochmal", nur weil ich nicht direkt auf seine falschen Brüste hatte zeigen wollen, verstand er mich nicht. Kurzerhand zog ich ihn am Arm näher und – ich konnte es selbst nicht glauben – griff in das gebastelte Dekolleté eines jungen Mannes.

„Sag das doch gleich", tat er die Sache ab, als wäre es überhaupt nicht peinlich gewesen und richtete unbeirrt sein Handy auf „Zayn" und „Gigi".

„Schön, dass ihr zwei euch so gut versteht", zwinkerte Marius und hielt zwei Martini in der Hand. Dankend nahm ich einen an und nahm einen großen Schluck. Zu absurd war dieser Abend. Dabei hatte er gerade erst begonnen. Den anderen streckte er in Liams Richtung, der zunächst überlegte und es doch schließlich ausschlug. „Darf ich?" Er nickte nur und in einem Zug kippte ich mein Glas nach unten, nur um gleich danach seines in die Hand zu nehmen.

„Also, Sophia"- Noch bevor Marius seinen Satz zu Ende sprechen konnte, klingelte mein Handy. Aiden. „Sorry Jungs, da muss ich ran gehen."

„Hey, gib mir einen Moment", meldete ich mich während ich mich nach draußen an die frische Luft grub. Vor der Tür hatte sich eine kleine Schlange gebildet, weshalb ich mich ein wenig von dem Club entfernte. Bei einem großen, säulenförmigen Briefkasten blieb ich stehen und stellte mein Martiniglas auf der Oberfläche ab, bevor ich Aiden bat, zu sprechen. ›Also Maus, ich hab wie versprochen den Käfer  in Stratford-upon-Avon abgeholt.‹

Erleichtert atmete ich aus. „Du bist ein Engel! Sag mir, was ich dir schuldig bin."

Direkter, als ich es erwartet hatte, antwortete mein guter Freund, wie aus der Pistole geschossen: ›Irgendwann brauche ich Asyl.‹

Noch bevor ich nach dem Hintergrund seiner seltsamen Forderung fragen konnte, hörte ich Julia im Hintergrund meckern. ›Pass auf, Süße. Wir reden zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal ja? Vielleicht melde ich mich morgen bei dir, sofern sich die Wogen hier dann geglättet haben.‹

Im Endeffekt kam ich nicht einmal dazu, mich ordentlich bei ihm zu bedanken. Schließlich war er es gewesen, der es mir überhaupt ermöglicht hatte nach Hause zu Andy zu kommen. Über der Nähmaschine war ich eingeschlafen und erst am späten Mittag im Haus meiner Granny aufgewacht. Viel zu spät hatte ich sowohl Eleanors und Hannahs, als auch Liams Nachrichten bekommen. Panisch hatte ich mich an Aiden gewendet, welcher mir sofort aus der Patsche geholfen hatte. Durch einen kleinen Zuschuss meiner Granny war es mir möglich gewesen, Aiden die Summe zu hinterlegen, welche die Reparatur von Marius' Käfer verlangte. Er hatte mir völlig selbstverständlich die Schlüssel zu seinem Wagen in die Hände gedrückt und mir angeboten den Käfer nach London zu bringen und dort mit seinem eigenen Wagen wieder zurück zu fahren. Für seine völlig selbstlose Hilfe würde ich lange Zeit in seiner Schuld stehen! Vor allem, wenn ich recht behalten sollte. Julia war schon immer eifersüchtig veranlagt und hatte erst durch Aidens Hilfe lernen müssen, zu Vertrauen. Den Hintergrundgeräuschen nach zu urteilen, hatte meine Tollpatschigkeit zu einer Beziehungskrise geführt, die Aiden nun auszubaden hatte.

Schuldbewusst öffnete ich WhatsApp und schickte eine Nachricht an Aiden: »Ich habe dir einiges zu verdanken! Nicht nur, dass du mir heute den Arsch gerettet hast, Großer. Erkläre Jules einfach, dass ich dich bekniet habe—obwohl? Eine andere Wortwahl wäre besser, wer weiß, was sie sonst denkt. Kopf hoch, das bekommt ihr wieder hin! *Fügen Sie hier bitte einen beliebigen Emoji ihrer Wahl ein, da der Absender nicht lebensmüde genug ist, um Ihnen ein Herz zu senden*«

„Sophia?" Gerade, als ich nach meinem Glas griff und mein Handy zurück in die Tasche schob, tauchte Alicia hinter mir auf. Zu meiner Überraschung hatte sie eine Zigarette zwischen den Fingern und ein Glas Whiskey in der Hand.

„Ist alles in Ordnung?" fragte ich besorgt und sah dabei zu, wie sie sich die Zigarette anzündete. „Ja. Ich hab bloß ein wenig Kopfschmerzen. Manche von Marius' Kollegen übertreiben es mit dem Parfum." In der Tat. Nicht nur grelle Farben und bunte Lichter hatten mir beim Betreten des Clubs den Atem verschlagen. Auch die Wand aus Parfum und Haarspray hatten mir Tränen in die Augen getrieben. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass Alicia etwas bedrückte. Vorsichtig fragte ich nach. Sie seufzte auf, zog erneut an ihrer Zigarette und sprach schließlich: „Meine Mutter ist schwerkrank. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, dass ich nach diesem Semester zurück nach Schweden muss." Mir stand der Mund offen. Um ehrlich zu sein, hatte ich eher geglaubt, dass sie genervt von Marius' Darstellungszwang war. Doch, dass es ihr tatsächlich so schlecht ging, hätte ich nicht vermutet. „Das tut mir Leid!"

„Ich weiß einfach nicht, wie ich es Marius erzählen soll. Außerdem bedeutet das über kurz oder lang, dass wir uns trennen werden. Ich kann schlecht von ihm verlangen, dass er mich nach Göteborg begleitet und sein Leben hier zurück lässt."

„Hast du mal daran gedacht, dass er es für dich gerne machen könnte?" So wie ich Marius in letzter Zeit näher kennengelernt hatte, würde er für seine Alicia selbst am Südpol ein nettes kleines Domizil mit bloßen Händen errichten.

„Das will ich ihm nicht antun."

Ironischerweise gab ich ihr einen Ratschlag, für den mein älteres Ich mich gekreuzigt hätte: „Du solltest einfach mit ihm reden. Anders wird sich das Problem nicht lösen." Ein Wunder, dass mir die Zunge nicht im Hals stecken blieb.

Widerwillig stimmte sie mir zu und bat mich wieder mit ihr nach drinnen zu gehen. Vor der Tür sah ich, dass Aiden mir geantwortet hatte und lachte. Ein kurzes „Ja Muddi", mehr hatte er nicht geschrieben.

In dem Etablissement mussten Alicia und ich uns erst durchquetschen und durchfragen, bis wir Liam und Marius in der Umkleide fanden. Zwei „Damen" wollten sich gerade auf Liam stürzen, als wir durch die Tür kamen. „Sophia! Hilf mir!" bettelte er sogleich. Mit einem Grinsen auf den Lippen nahm ich seine Hand entgegen und half ihm auf. Lady Grey und Miss Franky ließen schmollend die Pinsel sinken.

Es war interessant sich mit den beiden über ihr Hobby zu unterhalten. Überrascht erfuhr ich, dass die Mehrheit im »Graceland« heterosexuell und liiert war. So viel zu Vorurteilen.

„Wusstest du, dass Drag Queens, Drag Kings und Grundschulkinder die meisten Klebestifte kaufen?" Verdattert sahen Liam und ich zu Marius. „Ehrlich!" bekräftigte er und wie aufs Stichwort tauchten „Gigi" und „Zayn" von eben auf und stellten sich als Lea und Zack vor. Beide schminkten sich ab, doch Lea, welche eben noch Zayn verkörpert hatte, schminkte Zack zu Demonstrationszwecken erneut. Und tatsächlich. Um seine buschigen Augenbrauen verschwinden zu lassen und neue, fein definierte zu malen, „klebte" sie ihm wortwörtlich seine Augenbrauen zu.

„Krass", war alles, was Liam und mir über die Lippen kam.






Spät am Abend torkelte ich an Liams Seite durch die Straßen. Inzwischen hatte er sich abgeschminkt und trug flache Schuhe, während ich mit angekratztem Stolz und schmerzenden Füßen neben ihm her stolperte. „Weißte, ich will einfach nicht einsehen, dass die Jungs das besser können als ich. Verstehste?" Zu sagen, ich wäre völlig betrunken, wäre übertrieben. Es ging mir lediglich wirklich, wirklich gut und es erschien mir leichter mit Liam zu sprechen. Es machte keinen Sinn sich ständig darüber den Kopf zu zerbrechen, wie er etwas meinte. Ich nahm ihn beim Wort und glaubte ihm.

Liam hingegen war völlig nüchtern und dies war das einzige, worüber ich mir den Kopf zerbrach. „Warum haste eigentlich nicht mit getrunken?"

Zu meiner Überraschung sprach er einfach gerade heraus: „Wegen Andy. Ich hab betrunken meinen besten Freund verletzt. Das passiert mir sicherlich nicht nochmal."

„Okay. Macht Sinn. Aber es war doch gar nicht deine Schuld?"

„Doch. Ich hätte aufpassen müssen."

„Er ist doch alt genug?"

„Trotzdem." Und somit hakte er die Diskussion ab. Das Thema war für ihn beendet und es würde keinen Sinn machen, ihm weiterhin klar machen zu wollen, dass es nicht seine Schuld war. Apropos Andy. Ob Dana schon bei ihm gewesen war? Ob Andy sie noch liebte? Ob es clever wäre Liam danach zu fragen? „Wir sind da", durchbrach er meinen Gedankengang nüchtern. Erst jetzt sah ich hoch und erkannte das Haus, in wessen zweitem Stock sich unsere WG befand. „Endlich!" Erleichterung überflutete mich und ich kickte im hohen Bogen die High Heels von den Füßen. „Bist du bescheuert?" fuhr Liam mich an. „Du holst dir den Tod!"

„Mir egal", kicherte ich und begann um die Laterne zu tanzen.

Ohne zu Zögern nahm er mich hoch und trug mich ins Haus, die Treppen nach oben. „Diesen Luxus sollte ich mir öfter gönnen", grübelte ich laut und sah ihn lachend an. Schon im ersten Stock flossen kleine Schweißperlen an seiner Schläfe entlang. „Ich wusste ja, dass ich fett bin, ne? Aber so fett hätt ich jetzt nicht gedacht." Grinsend tupfe ich seine Stirn mit seinem Blazer ab.

„Ach was! Das ist doch- Ach du Scheiße." Schockiert starrte er hinter mich und ließ mich beinahe fallen. „Was denn? Hat sich ein besoffener Penner vor unsere -- Zoé?!"

Völlig fassungslos sah ich meine ältere Schwester zwischen Taschentüchern und Babysachen auf der Stufe vor unserer Wohnung sitzen. Eigentlich hätte ich gar nicht fragen müssen, was passiert war. Ich konnte es mir bereits denken, fragte aber trotzdem nach.

„Scott hat mich sitzen lassen. Für so 'ne 21 Jährige Praktikantin-Schnepfe", schluchzte sie wortwörtlich am Boden und herzzerreißend. Sanft ließ Liam mich runter, sodass ich mich auf wackligen Beinen zu ihr vorarbeiten konnte. Jenna lag hinter ihr friedlich in ihrer Babyschale und schlief eingewickelt in zwei Decken. Unweigerlich kam mir Julian Fields in den Sinn. Ein 28 Jähriger Medizinstudent. Seit dem Kindergarten kannte er meine Schwester und seit der Mittelstufe war er in sie verschossen. Allerdings hatte er es sich nie getraut, ihr das auch zu sagen. In einem schwachen Moment bei ihrem 25. Geburtstag hatte er mit mir darüber sprechen wollen. Wie es ihm wohl jetzt erging? Lebte er noch immer in Wolverhampton?

Seufzend ließ ich mich fallen und legte einen Arm um meine Schwester. „Ich hab's ja gleich gesagt", dachte ich.

Zumindest dachte ich, ich hätte es gedacht.

Liams große Augen und Zoés Blick verdeutlichten mir ziemlich gut, dass ich meine Gedanken laut ausgesprochen haben musste. Anscheinend war ich nicht nur zu dusselig, sondern auch zu impulsiv für diese Welt.

„Ich weiß", schluchzte Zoé nur, auch wenn ich erwartet hatte, dass sie mir nun die Hölle heiß machen würde. Doch sie tat es nicht.

Stattdessen begleitete sie mich nach drinnen, wo ich feststellte, dass Dana wohl bei einer neuen Eroberung untergekommen war. Meine gute Freundin wechselte ihre Bekanntschaften, wie ich meine Bettwäsche. Langsam aber sicher verlor ich die Übersicht. „Also, was willste machen, Schwesterherz?"

„Ich würde sagen, duschen, Schokolade, Film?" schlug Liam kurzerhand vor und riss sich meine Nichte unter die Arme, um sie in Jakes altes Zimmer zu bringen.

„In genau dieser Reihenfolge", seufzte Zoé, während sie sich aus ihren Sachen schälte. Ich hingegen folgte Liam in Jakes altes Zimmer.

„Was machste?"

„Ich räume es für Zoé."

„Aber ich will nicht, dass du gehst." Verdattert sah er mich an. Mindestens so verdattert, wie ich es selbst war. Das letzte Glas Martini hätte ich doch lieber weg lassen sollen. Mir war  zwar selbst schon aufgefallen, dass ich mich auf erschreckende Weise unheimlich an Liams Anwesenheit gewöhnt hatte, doch dass ich es ihm jemals wirklich sagen würde, hätte ich von mir selbst nicht erwartet. Liam anscheinend auch nicht.

Umso dankbarer war ich meiner Schwester, als sie in meinem Bademantel durch die Tür gehuscht kam. „Hast du ein Handtuch für mich, Maus?" „Hm, ja." Verwirrt lief ich sofort aus dem Zimmer und ließ Liam einfach stehen. Erst im Wohnzimmer sah ich ihn wieder. Er hielt Jenna auf dem Arm und blickte ruhig und friedlich auf sie hinab. Zoé saß inzwischen in der Badewanne und hatte sich von mir das Versprechen aus den Rippen leiern lassen, dass wir solange ihre Lieblingsserie „Reign" schauen würden, bis sie einschlief.

Als Liam mich sah, zuckte er erschrocken zusammen, als hätte ich ihn bei irgendwas Verbotenem erwischt. „Sie hat geweint und ihr habt mich nicht gehört also dachte ich-" „Ich sag doch gar nichts."

„Sie ist unheimlich süß. Und noch so unschuldig. Sie hat keine Ahnung, in was für eine Welt sie rein geplumpst ist..."

„Die Kleine hat dich ja richtig weichgespült." Erschöpft ließ ich mich neben Liam auf die Couch fallen. Ich traute mich fast gar nicht auf die Uhr zu sehen, so müde fühlte ich mich mit einem Mal.

„Ich war ein Arsch, ja. Aber ich will keiner mehr sein..."





Am nächsten Morgen wachte ich mit immensen Rückenschmerzen auf. Meine Beine lagen über dem Couchtisch, Zoés Kopf lehnte an meinem Po und ich lehnte seitlich an Liams Schulter. Jenna schlief selig behütet in einem riesigen Kissen, gehalten von Liam. Der Fernseher zeigte den Abspann irgendeiner Folge ‚Reign'. Vorsichtig aufzustehen würde mindestens einen der beiden wach machen, weshalb ich mir gar nicht erst wirkliche Mühe gab. Zoés Kopf rauschte auf die Couch, doch es interessierte es nicht. Auch Liam schlummerte friedlich weiter, dafür blinzelte Jenna mich an. „Ich weiß doch gar nichts mit dir anzufangen", flüsterte ich ihr panisch zu. Als hätte sie mich verstanden, schloss sie einfach wieder ihre Augen. Leise und auf Zehenspitzen tapste ich aus dem Wohnzimmer. Wenn sie jetzt wach würde, würde sie ihre Mutter mit aufwecken, somit kam ich aus der Sache ganz angenehm raus.

Meine Kehle war trocken und mein Hals kratzte, weshalb ich auf meinen morgendlichen Kaffee verzichtete und mir stattdessen einen Tee kochte, bevor ich mich unter die Dusche stellte. Die Uhr völlig unbeachtet lassend, machte ich mich gemütlich fertig und schlenderte zurück in die Küche, wo ich Zoé und Liam eine Notiz hinterließ.

Völlig unmotiviert stieg ich aus der U-Bahn und lief auf die Uni zu. Schon lange hatte mich nicht mehr solch eine immense Unlust überfallen, wie an diesem Morgen. Noch bevor ich überhaupt den Campus erreicht hatte, bereute ich es, bloß einen Apfel zum Frühstück gegessen zu haben. Mein Magen knurrte und mein Hals kratzte. Missmutig zog ich den Schal enger um mich und wünschte mir einen fröhlichen Andy an meiner Seite, der nicht nur einen Tee für mich hatte und meine Laune puschte, sondern der auch auf mich einreden würden, alles würde sich schon fügen. Generell war Andy der positivste Mensch, den ich bisher hatte kennenlernen dürfen. Umso schmerzhafter hatte sich meine Brust zusammen gezogen, als ich von seinem Unfall erfahren hatte. Auf dem Weg zum Hörsaal nahm ich mein Handy aus der Hosentasche und schrieb Liam eine Nachricht, in welcher ich ihn bat, mich über Andys Gesundheitszustand zu informieren, sollte er  ihn besuchen fahren.

Es half nichts.

Ich blieb vor der Tür zum Hörsaal stehen und starrte auf das helle Holz. Liam hatte Recht. Ich studierte diesen Mist für meinen Vater und auch nur für meinen Vater. Niemals hatte ich davon gesprochen, dass ich das Autohaus übernehmen wollte. Niemals. Zwar konnte ich hin und wieder ein Auto reparieren, vorausgesetzt ich hatte die nötigen Ersatzteile und das nötige Werkzeug und dank Aiden hätte ich sicherlich auch den ein oder anderen Wagen testfahren können, doch das Autohaus wollte ich nie übernehmen. Mathe war nicht meine Stärke und für Personalmanagement war ich zu sensibel und schwach.

Also schwänzte ich.

Ich schulterte meine Tasche, steckte mir Kopfhörer in die Ohren und hörte mir furchtbar alte Memos an, in welchen Aiden ‚Billie Jean' oder irgendwelche Musical-Nummern schmetterte. Mein Weg führte mich quer durch die Stadt. Irgendwann landete ich in der Nähe der South Ealing Station, war klitschnass, dank des Regens und fragte mich, wie ich mich so hatte verlaufen können. Völlig in Gedanken daran, wie ich meinem Dad am besten beibringen sollte, dass ich vor hatte mein Studium zu schmeißen, war ich einfach herum geirrt und schließlich hier gelandet.



Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits 13.27 Uhr war. Pünktlich, wie auf die Minute meldete sich mein Magen und ich beschloss mir bei dem kleinen Chinesen, welchen ich am Ende der Straße ausmachte, etwas zu essen zu holen.

Kurz bevor ich nach dem Türgriff greifen konnte, bekam ich selbigen in den Bauch gerammt. Die hölzerne Tür wurde von innen geöffnet. „Oh Sorry, ich hab dich gar nicht -- Sophia?" Völlig verdattert starrte ich in braune Augen.

„Hannah?"

„Verdammt. Jetzt verschlägt es dich tatsächlich in meine Gegend und ich muss heim, packen."

Im Laufe des Gesprächs stellte Harrys Freundin mich nicht nur ihren Freundinnen Maggie und Ghighi vor, sondern erzählte mir auch stolz von der bevorstehenden Geburt ihres Patenkindes.  „Also Mädels, ich muss leider los, aber dafür habt ihr ja jetzt Soph hier." Und damit verschwand sie einfach.

Zuerst hatte ich vermutet, es würde peinliche Stille entstehen, doch Ghighi war eine so fröhliche, bunte Person, dass sie das Gespräch einfach am Laufen hielt. Auch Maggie war mir sofort sympathisch. Diese hing allerdings eher, wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Sie hustete und schniefte vor sich hin, bis auch sie sich schließlich verabschiedete. „Sorry, aber das hat so keinen Zweck mehr." „Du gehörst definitiv ins Bett", setzte Ghighi hinzu und ich schloss: „Es war schön dich kennen zu lernen. Vielleicht sieht man sich mal wieder?"

„Gerne", lächelte sie, zahlte ihr Mittagessen und verschwand.

„Arme Sau. Die hat's voll erwischt", meinte Ghighi trocken, während ich Maggie ebenfalls bemitleidete. Grippe war fies und sie schien es wahrhaftig erwischt zu haben.









Am 25. Februar  ging es mir genauso. Ich wachte mit Fieber auf und schaffte es weder meine laufende Nase noch meinen schmerzenden Hals unter Kontrolle zu bekommen. Schon als ich mit Marius, Alicia und Liam im Club war, hatte es in meinem Hals gekratzt, doch dort hatte ich es auf den Alkohol und den Zigarettenrauch geschoben. Das Barfußlaufen, sowie der Marsch durch die Stadt mussten mir nun den Rest gegeben haben.

Doch Liam, dessen Wohnung noch immer renoviert wurde, und Zoé, welche nun ernsthaft darüber nachdachte sich in Jakes Zimmer einzumieten, bemutterten mich liebevoll. Zoé machte mir Grannys Wadenwickel und Liam brachte mir Tee.

Zwischendurch parkten mich die zwei in Decken eingewickelt vor dem Fernseher im Wohnzimmer, um „die Bazillen aus meinem Zimmer zu entfernen", wie Liam gemeint hatte. Im Klartext hieß das: Fenster sperrangelweit auf, Kissen in Waschmaschine und Trockner stopfen, sowie Bettwäsche tauschen. Meine schweren Glieder wurden während diesen Stunden eiskalt vor „Reign" geparkt und Zoé gesellte sich zu mir, legte sich einen Schal über die Lippen, um meine Bazillen nicht einzuatmen, trank aber cleverer Weise aus meiner Wasserflasche. „Du bist doch doof", hatte ich zu Anfang noch geschmollt und schließlich einfach akzeptiert, dass man mich isolierte.






Es dauerte bis zum Abend des 27. Februars, bis ich mich freiwillig aus dem Bett erhob. Erst dann fühlte ich mich nicht mehr wie überfahren. Zoé hatte sich auf Wohnungssuche begeben, nachdem Dana, welche bloß am 26. kurz nach Hause gekommen war, um ihre Klamotten zu wechseln, hatte verlauten lassen, dass sie keine zwei Smiths in ihrer WG gebrauchen konnte. Wo meine Freundin hin verschwunden war, konnte ich nicht sagen. Langsam aber sicher hatte ich den Überblick verloren.

Somit blieben Liam und ich alleine zurück. Meinen Hintern hatte er bereits auf dem Sofa geparkt. Grinsend kam er mit einem Tablett zu mir und stellte es auf dem Couchtisch ab. Noch im Fallen auf das Sofa schaltete er die neue Folge ein.

„Du entwickelst dich noch zur WG-Mutti, wenn du so weiter machst", lachte ich bei einem flüchtigen Blick auf das Tablett: Zwei Teller Suppe und eine Tasse seltsam riechender Tee.

„Ha-Ha. Nein mal ehrlich, trink das hier, dann geht's dir besser." Er reichte mir die Tasse und begann stattdessen seinen Teller Suppe leer zu löffeln, während er Bash und Francis dabei zusah, wie sie sich auf einem Friedhof um Mary kloppten.

Angeekelt roch ich an der Plörre und sah Liam fassungslos an, als ich das Gebräu identifiziert hatte. „Willst du mich abfüllen?"

Und wie er das wollte. Pisswarmes Bier war ein alter Hausfrauentrick. Auch meine Granny hatte es mir insgeheim mit vierzehn in die Hand gedrückt und es hatte tatsächlich gewirkt. Allerdings hatte es zur Folge, dass ich ziemlich schnell, ziemlich leichtfüßig wurde. Es ging mir verdammt gut. So verdammt gut, dass ich irgendwann, nach der keine Ahnung wievielten Tasse lachend halb in Liams Schoß lag und sein Gesicht seltsam nah an meinem war.

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So meine Lieben

Ab jetzt gilt es: Noch 3 Kapitel und dann ist Sophias und Liams Geschichte (fürs erste) fertig erzählt und es geht mit "a conas álaind" weiter :3

P.S.: Vielen Dank an dich Hannah, dass ich dein Versuchskaninchen spielen darf :*




Ein riesen Danke geht auch an Aprilia aka LittleMissSwyles für deine  Unterstützung und vor allem für die tollen Moodboards! Eines seht ihr zu  Beginn des Kapitels und eine zweite findet ihr oben im übernächsten Kapitel  :3 Danke dir dafür

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