A für Absturz
LIAM ➜ 11. Januar 2016 Buenos Aires
Trotz der Sonne, ihrer heißen Strahlen und der schwülen Hitze, die sie mit sich brachte, trug ich einen Hoodie. Einen grauen Hoodie, schwarze Jogginghosen, Socken und dicke, schwere Turnschuhe. Die Sonnenbrille auf meiner Nase beschlug in regelmäßigen Abständen, durch den Schweiß, der mir von der Stirn rann.
Bisher hatte ich mich unerkannt davon stehlen können. Keine Menschen, die mich bedrängten. Kein Bodyguard, der mich bewachte, mir auf Schritt und Tritt folgte. Keine Presse, die weitere Lügen verbreiten konnte. Lügen, die nur alles verschlimmert hätte. Lügen, die mir ohnehin meine Zukunft ruiniert hatten.
Unbändige Wut kroch erneut in mir hoch. Zum wievielten Mal? In den Taschen meines Pullovers ballte ich die Hände zu Fäusten. Wieder die Kontrolle über mich zu verlieren, würde niemandem nützen. Nicht dem Mülleimer, der schuldlos an der Laterne hang und mich gerade zu anstrahlte, geradezu um Schläge bettelte. Nicht meinem Blutdruck und meinem Puls, welche brutal in die Höhe schnellten. Nicht dem Kind, dass Danielle kaltblütig hatte ermorden lassen, einfach weil sie zu feige war, es zu versuchen. Sie hatte Briana und Louis als Vorbild nehmen können. Doch sie wollte ihre Figur behalten, Karriere machen und alles, außer Mutter werden. Egoistisch und selbstsüchtig. Die einzigen zwei Wörter, die mir noch in den Sinn kamen, um diese Frau zu beschreiben. „Es ist meine Entscheidung!" hatte sie geschrien.
Ich konnte nicht verhindern, dass ich wieder einmal die Kontrolle verlor. Mein Fuß prallte gegen das Metall des Mülleimers. Es war bereits verrostet und sah mitgenommen aus. Wie alles in Argentinien, dass nicht im noblem Viertel lag. Somit war es nicht weiter verwunderlich, dass die Scharniere meinem Tritt nicht standhalten konnten. Mit einem Poltern knallte der marode Mülleimer zu Boden. Meine Schreie wurden von den wenigen Menschen auf der Straße ignoriert. Was hätten sie auch tun sollen? Jetzt wo ich mich aufführte, wie ein wildgewordenes Rhinozeros. Ich konnte nichts dagegen tun.
Ich konnte nichts dafür, dass sich jeder Tritt und jeder Schlag, gegen irgendetwas, anfühlte, als würden zehn Pfund meiner Last auf dem Rücken einfach so zerfallen, zerfallen wie Staub.
Als sich eine Hand sanft auf meine Schulter legte, erschrak ich und drehte mich ruckartig um, meine Hände zu Fäusten geballt. Mein Gegenüber zuckte ruckartig von mir weg, er trat einen Schritt zurück. Es dauerte, bis ich die Situation einordnen konnte. Mein Atem ging schnell, rasselte durch das Joggen und die Zigaretten, die ich seit längerer Zeit wieder genoss. Meine Lungen brannten, mein Puls raste. Langsam, sehr langsam aber gewillt entkrampfte ich meine Hand. Der angstvolle Blick meines besten Freundes wandelte sich. Er wandelte sich in diesen ekelhaften Blick. Dieser Blick, der mich rasend machte vor Wut. Sanfte Augen, ruhiger Atem, eine Stimme, triefend vor Besorgnis. Bevor Louis sich regen konnte, ging ich einfach weiter.
Zuerst langsam, doch je näher seine Schritte kamen, umso größer wurden meine, bis ich schließlich rannte. Die Musik, die durch meine Kopfhörer drang, war alles andere als entspannend. Nightwish schrie mich an, gerade zu, als wollten sie mich dazu ermutigen, einfach weiter zu rennen.
Die Sonne begann langsam im Meer zu versinken, als ich mich schließlich auf den Heimweg machte. Meine Kleidung fühlte sich schwer an. Schwer wie Blei durch das aufgesogene Meerwasser. Irgendwann hatte ich beschlossen, dass ich mich vor mir selbst ekelte. Zulange war ich in der prallen Sonne gerannt. Schweiß rann mir über die Stirn, an den Schläfen entlang und auch über den Rücken. Irgendwann kam mir wieder in den Sinn, wie sehr ich mich verändert hatte. Dieses Mal war es keine Wut, die in mir aufkeimte, sondern purer Ekel.
Meine Füße schliffen schwerfällig über den Boden. Meine Glieder fühlten sich schlapp an, brannten durch den Muskelkater. Meine Kehle lechzte geradezu nach Wasser oder jeglicher anderer Flüssigkeit. Dreckiges Wasser tropfte auf den edlen Teppich des Hotels, in dem wir untergekommen waren. Noch immer dröhnte Musik durch die Kopfhörer, in einer Lautstärke, die jedem anderen das Trommelfell durchreißen ließ, doch ich war es gewohnt angeschrien zu werden. Inzwischen war ich um geschwungen auf Verdi. Klassische Musik, dramatische Melodien.
Ich ignorierte alle abfälligen Blicke des Hotelpersonals, schottete mich vollkommen von der Außenwelt ab. Den gesamten Weg durch die Eingangshalle starrte ich auf den Boden. Permanent. Erst im Fahrstuhl angekommen atmete ich wieder durch. Mein Kopf sank gegen die kühle Wand des Metallkastens. Ich konnte es nicht verhindern, dass meine Gedanken wieder zu Danielle drifteten. Den dunklen Locken, dem breiten Grinsen, das ich immer für das Schönste der Welt gehalten hatte. Unwillkürlich verkrampfte sich meine gesamte Haltung und mit undefinierbaren Geräuschen aus meinem Mund knallte meine Hand gegen das Metall und brachte es leicht zum Vibrieren.
„Was zum-" Ganz zärtliches Flüstern drang an meine Ohren. Hätte nicht just in diesem Moment der Titel gewechselt, wäre es irgendwo zwischen Verdi und Beethoven untergegangen. Ich öffnete meine Augen und sah in das verängstigte Gesicht eines kleinen Jungen. Er war blond, nicht älter als fünf. Seine kleine hielt die Hand einer jungen Frau fest umschlossen. Weit aufgerissene, feuchte Augen starrten mich an. Mein Herz zog sich krampfhaft zusammen. In meinem inneren Ohr hörte ich, ein schadenfrohes Lachen, einer hellen Frauenstimme. Danielle, ohne Zweifel. Es war ein Zeichen, so viel stand fest. Ein Zeichen, welches ich nun wirklich nicht auch noch gebrauchen konnte.
Doch der Blick des Jungen hielt mich davon ab, weiter meiner Wut zu verfallen, weiter über diese Hexe nachzudenken. Ich ging in die Knie um ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Bevor ich etwas sagen konnte, versteckte sich der kleine Mann hinter dem Bein der Frau.
„E-Es tut mir Leid, Kleiner", seufzte ich beinahe schon bettelnd. Meine Stimme klang rau und gebrochen. Sie passte sich meiner Selbst an.
„Das können Sie sich sparen." Ich wurde angefaucht und mit einem fassungslosen Kopfschütteln ging die Frau weg. Ich stieg aus dem Fahrstuhl aus. Noch einmal traf der Blick des Jungen meinen. Er wischte sich eine Träne von der Wange.
Krampfhaft unterdrückte ich einen Schrei. Stattdessen ging ich auf direktem Weg zum Treppenhaus. Wie ein Wahnsinniger sprintete ich die Treppen hinauf in den sechsten Stock, nahm hier und da drei Stufen auf einmal. Wie ein Mantra sagte ich einen Satz vor mir her: „Du bist ein Monster!"
Als ich die fünfte Etage erreicht hatte, hielt ich kurz inne. Skeptisch rieb ich mir die Augen. Die Tür bewegte sich, oder? Sie ging bloß einen Spalt weit auf, fiel immer wieder mit einem leisen Knallen zu. Als ich mir Stimmen einbildete, zweifelte ich endgültig an meinem Verstand. Gerade als ich meinen Fuß auf die erste Stufe setzen wollte, ging die Tür einen Spalt weiter auf und ein erleichterter Seufzer ließ mich inne halten. Ich drehte mich um und erblickte denselben kleinen Jungen. Sein Blick war ehrfürchtig, doch Angst schien er keine mehr zu haben. Auch die Tränen waren vertrocknet. Dennoch zog sich meine Brust bei dem Gedanken, dass ich es war, der ihn überhaupt zum Weinen gebracht hatte, schmerzhaft zusammen.
„Immer wenn ich wütend bin, dann knuddle ich Mr. Twixxel und dann geht es mir wieder gut." Vorsichtig, mit ausreichend Sicherheitsabstand hielt mir der Kleine einen abgewetzten Teddy entgegen. Er hatte große Knopfaugen und ein zerfleddertes blaues Halsband, mit weißen Punkten und trug eine verwaschene Jeanshose. Als ich es musterte und nichts sagend auf das Stofftier starrte, schien der Kleine nervös zu werden. „Meine Mami hat gesagt, du wärst böse auf etwas und wütend. Da dachte ich, ich helfe dir." Unruhig tippelte er auf seinen Füßen umher, während ich ihm schweigend dabei zu sah.„Weißt du, wir sind hier nur im Urlaub und fliegen morgen mit dem großen Flugzeug wieder nach Hause also musst du ihn jetzt knuddeln, bevor meine Mami kommt." Verdutzt sah ich ihn an, beobachtete ihn, wie er einen Schritt näher kam und dennoch weiter nervös hin und her tippelte , bis ich den Teddy schließlich nahm und mit einem Lächeln an mich drückte. „Siehst du, Mr. Twixxel macht alles besser!"
Und damit war für den kleinen Mann das Eis gebrochen. Er setzte sich strahlend neben mich auf die Treppe und sah mich an. „Ich bin Chase und wie heißt du?" Nach einem kurzen Moment der Stille antwortete ich mit einem freundlichen „Liam." Mit großen Augen musterte mich Chase. Seine Augenbrauen runzelnd schwieg er, als würde er scharf nachdenken. „Bist du dieser coole Actionheld, den mein Dad immer so gerne geguckt hat? Der so ganz, ganz lange sein Kind gesucht hat?"
Es dauerte, bis ich verstand, dass er auf Liam Neesons „96 Hours" anspielte. Lachend verneinte ich.
Wie lange ich dort saß, den Teddy in der Hand und Chase neben mir wusste ich nicht. Was ich allerdings immer bemerkte, war die Tatsache, dass Enttäuschung in mir Fuß fasste. Enttäuschung, dass ich in nächster Zeit kein Vater werden würde. Und auch kein Patenonkel. Briana hatte Harry festgelegt. Ich würde weiter durch die Welt wandern und Lieder verbreiten, in denen ich die große Liebe besang, die es für mich nicht mehr gab.
Chase bemerkte ziemlich fix, dass ich nicht bei bester Laune an. Er sah mich an und fragte: „Was ist denn?"
„Das verstehst du noch nicht." Ich dachte, er beließ es einfach dabei. Doch ich hatte vergessen, dass Kinder grundsätzlich alles in Frage stellten. Auch meine forsche Art, seine Frage abzutun, hatte ihn nicht abgeschreckt.
„Warum nicht? Ich dachte wir sind Freunde?" Gegen Ende des Satzes wurde seine Stimme immer leiser, sein Blick sank mehr gen Boden und seine Mimik entgleiste. Nichts machte ich richtig.
„Natürlich sind wir das!" Schnell versuchte ich die Situation zu retten. Ich wollte ihn nicht noch einmal traurig sehen, doch- „Oh nein, das seid ihr nicht!" Seine Mutter fuhr forsch dazwischen und griff nach dem Arm ihres Sohnes. Grob zog sie ihn hoch und ignorierte seine Argumente und sein Gezeter. „Mein Sohn wird nicht mit einem gewalttätigen Popstar im kühlen Treppenhaus sitzen!" Und damit schleifte sie Chase von mir weg. Ich konnte ihm gerade noch so seinen Teddy wieder zurückgeben.
Doch die Frau hatte Recht. Ich hatte mich in die falsche Richtung entwickelt. Ließ mich von Wut und Enttäuschung auffressen. Dem Kleinen ging es eindeutig besser bei ihr. Mit starrem Blick setzte ich meinen Weg fort. Stellte mich unter in meinem Zimmer angekommen unter die Dusche. Das Louis' Sachen nicht mehr an Ort und Stelle waren, bemerkte ich erst, als ich nicht wie die letzten Tage immer wieder, über seine dreckige Wäsche und all seinen Müll stolperte. Auf meinem Handy befand sich eine Nachricht, wie ich eine halbe Stunde später feststellte. Sie war von Rául. Er hatte mich auf einen Drink eingeladen.
Erfrischt und sauber lief ich also später durch die Nacht. Es hatte sich deutlich abgekühlt und auch die Straßen waren deutlich leerer. Erst, als ich in die Nähe des Clubs kam, dessen Standort Rául mir zugesendet hatte, wurde es voller auf den Gehwegen.
Ohne Probleme kam ich in ein Etablissement, dass ich ohne Rául nicht betreten hätte. Kurzum: Es handelte sich um ein brasilianisches Bordell; Ráuls Stamm-Bordell, um präzise zu sein. Ich hingegen warf mich eher an die Bar, als an die nahezu nackten Damen.
Für heute Abend hatte ich eine Sache beschlossen: Ich würde alles annehmen, was Rául mir unter die Nase hielt. Kokain hatte ich seit dem Klinikaufenthalt von Justin nicht mehr angerührt. Allerdings hatte ich durch Biebs und Rául auch einen guten Joint zu schätzen gelernt. Ersteren besuchte ich zweimal im Jahr. Somit hielt sich mein Marihuana- Konsum in Grenzen. Zwei bis dreimal im Jahr. Meistens.
Für diesen Tag hatte ich mir genug Stress gemacht, dessen war ich mir sicher. Meine Nerven waren angeschlagen genug und mein Pensum an Wut und Enttäuschung war erreicht. Niemand konnte mir verübeln, wenn ich meine Sinne betäubte.
Je mehr ich trank, umso ruhiger wurde ich.
Und je ruhiger ich war, umso ungefährlicher war ich auch. Es war also besser für alle, wenn die Bestie ruhig gestellt war.
Der Tatsache, dass mir Alkohol wunderbar schmeckte, taten auch Etablissement- Wechsel keinen Abbruch. Die Argentinier hatten großartigen Geschmack, was Whiskey und Scotch betraf. Bei den Damen war ich mir nicht so sicher.
Zu fortgeschrittener Stunde beschloss ich dem Qualm, dem Schweiß und der Hitze des Clubs, dessen Namen ich schon wieder vergessen hatte zu entfliehen. Die frische Luft knallte mir entgegen, als liefe ich vor eine Wand. Ich taumelte, verlor kurzzeitig den Halt. Doch ich war ein starker Mann. Und die Laterne sicher einbetoniert. Nikotin durchströmte meine Adern und meine Lungen füllten sich mit Rauch und ein wenig frischer Luft. Ich entspannte meine Muskeln und sah einfach rauf in den schwarzen Nachthimmel. Durch meinen Kopf flogen vereinzelte Wortfetzen und Zeilen, die ich später unbedingt aufschreiben musste, so fern ich mich noch daran erinnerte.
Zum ersten Mal an diesem Tag, war ich schlichtweg ruhig. Ich war entspannt und verschwendete keinen Gedanken an Danielle.
Bis mich ein Mann anrempelte, weil er einen braunen Lockenkopf in einem sexy Kleid küssen musste, während sie liefen, anstatt seine verdammten Augen zu öffnen.
Und wie aus heiterem Himmeln knallte bei mir eine Sicherung durch.
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