3 ♛ Bühnenmaske
Früher hatte ich mich immer gefragt, wieso die Sieger der Hungerspiele bei ihren Reden immer so unsympathisch und unreal wirkten - Sachen von sich gaben, welche sie als Distriktbewohner warscheinlich sonst niemals gesagt hätten.
Ich hatte sie teilweise sogar verachtet - mich gefragt, wie sie bloss solche Sätze sagen konnten, ohne nicht darüber laut los zu lachen oder sich selbst eine Ohrfeige zu verpassen.
Heute verstand ich es.
Es waren nicht die Sieger, die aus ihnen sprachen - es war Präsident Snow.
Wie eine Puppe stellte er uns auf die Bühnen der Distrikte und verpackte unsere Worte schon fast glaubwürdig persönlich - sodass man uns glaubte, wenn man uns nicht näher kannte.
Mein Herz pochte so unfassbar schnell, als meine Schritte über die Bühne von Distrikt 12 hallten - alle Augen der Distriktbewohner auf mich gerichtet waren, während ich hervortrat.
Die Tatsache, dass ich dies noch mindestens zehn Mal machen werden musste - war wie ein riesiger, angsteinflössender Berg, welcher vor mir ragte.
Mein Atem war zittrig. Verlor den Verstand - konnte keiner der Blicke erwidern, ohne dass es sich wie ein in meine Brust rammendes Messer anfühlte.
Der Bürgermeister schüttelte mir höflich die Hand, bevor er mir den Rednerplatz übergab.
Er war ein grosser, glatzköpfiger Mann. Schien nicht aufgedreht oder äusserst leidenschaftlich über seine kleine Willkommensrede zu sein.
Als Bürgermeister eines solchen Distriktes war es wohl nicht unbedingt ein toller Job, welchen er hatte.
Aber darüber konnte ich in diesem Moment nicht mehr nachdenken.
Hinten auf der Bühne - an der Fassade des Bürgermeisterhauses aufgereiht - sassen die wenigen Sieger in ihren Stühlen.
Darunter Haymitch Abernathy - welcher wie immer schon ziemlich angeheitert zu sein schien. Er hob eine Augenbraue, als sich unsere Blicke für ein, zwei Sekunden trafen.
Seine fast schulterlangen, blonden Haare schienen etwas fettig zu sein - sein Bart ebenso schon seit ein paar Tagen nicht mehr rasiert. Augenringe - müder und gebrochener Blick.
Wenn er nicht ein schönes, hellblaues - wenn auch zerknittertes - Hemd und schwarze Cordhosen tragen würde, könnte man meinen, er würde nicht im Dorf der Sieger wohnen.
Ich schluckte leer, nachdem ich ein leichtes Lächeln aufgesetzt hatte. Nun vor dem Mikrofon stand und die Rednerkarten in meinen Händen zitterten. Zum Glück war die Schrift gross genug - sodass ich sie trotz des Zittern lesen konnte.
"Ich danke Distrikt 12 für die wunderschöne Willkommensrede.",begann ich schliesslich - denn ich musste. Ich wusste, dass ich keine andere Wahl hatte.
Rechts und links hinter den Bewohnermengen waren zwei grosse Leinwände eingerichtet - mit je den Tributen dieses Distriktes. Wie immer.
Dieses Jahr Yessica und Alayn.
"Es ist mir eine grosse Ehre, die Tour der Sieger durchführen zu dürfen.",redete ich weiter, nachdem ich noch einmal auf meine Karten schaute.
Rechts schaute mich Yessica Snake an. Ich wusste, dass ich es mir nur einbildete - aber ihr Blick war verurteilend.
Vor dieser Leinwand standen zwei Männer, ein Mädchen in meinem Alter und ein kleiner Junge, welcher wohl nicht einmal zehn Jahre alt war.
Ebenso schaute mich der kleine Alayn Wyatts mit unsicherem Blick an.
Vor dessen Bild standen bloss eine Frau und ein Mann - sehr warscheinlich seine Eltern. Seine Mutter weinte schon leise. Sein Vater hatte seinen Arm um sie gelegt.
Es fühlte sich an, als würde mein Atem nicht bis ganz in meine Lunge reichen - wie stark ich auch immer versuchte.
"Die Tour der Sieger, ist dafür da, die gefallenen Tribute zu ehren - ihren Verlust. Welcher gezahlt wurde, damit in den Distrikten und Kapitol ewiger Frieden herrschen kann."
Das Mädchen vor Yessica's Leinwand schüttelte als Reaktion abwertend den Kopf.
Mein Herz schmerzte - ich wusste nicht, was ich tun sollte. Denn ich konnte nunmal nichts tun.
Doch, ich könnte - tat es aber nicht. Feige und verzweifelt tat ich nichts.
"Ich stand weder Yessica, noch Alayn sehr nahe. Was ich aber wusste, war, dass sie mutig und kämpfend ihren Platz als Tribut der 72. Hungerspiele beschritten hatten - und..."
Ich wusste, dass ich nicht zu lange mit diesem schmerzverzerrtem Zögern eine Pause machen durfte. Aber die Blicke der Familien brannten sich in meine Haut. Liessen meine Augen ebenso brennen.
"...und dass sie in Ehre ihr Leben verloren haben."
Ohne zu schauen, wusste ich, wie sehr mich hier jeder Distriktbewohner verachtete. Die meisten es zwar wegen Angst vor Bestrafungen nicht zeigten - aber ich spürte es.
Wie sich der Hass durch meine Haut brannte. Bis auf meine Knochen. Bis zu meinem Herz.
"Ihr Preis, welchen sie und deren Familien zahlen mussten - wird niemals vergessen werden."
Ich sah, wie nun auch der Mann vor Yessica's Bild anfing, stockend zu weinen.
Es war die Hölle. Es war die beissende, mich verbrennende Hölle.
"Panem heute, Panem morgen..."
Ich atmete leicht zittrig die Luft ein.
"Panem für immer."
Wohl etwas zu ruckartig als nötig, drehte ich mich von der Menge um. Versuchte so ruhig wie möglich meine Schritte gehen zu lassen, während ich über die Bühne wieder zur sich öffnenden Tür schritt.
"Whooo!",kam sogleich lallend von Haymitch, welcher etwas wackelig von seinem Stuhl aufstand und anfing, überenthusiastisch in die Hände zu klatschen.
Einige schauten den Mann verstört und kopfschüttelnd an - ebenso ich blieb kurz zögernd etwas stehen und schaute ihn verwirrt an.
Ansonsten leiser, gezwängter Applaus. Natürlich gab es keinen wirklichen Applaus. Nicht für so etwas. Und nicht hier.
Ausser man war dauerbetrunken wie Haymitch.
"Das hast du gut gemacht, Ayleen.",hörte ich Johanna's Stimme neben mir, als sie im wieder geschlossenen Bürgermeisterhaus an meine Seite trat.
Ich machte ein abwertendes Geräusch als Antwort - ehe ich mich kopfschüttelnd von ihr, Blight, Tulip und Helio abwendete.
Tyson, Zoë und Queenie - das Stylingteam von Helio, welches damals bei meinen Hungerspielen schon für mich zuständig war - schauten mich verwirrt an, als ich so fahrig an ihnen vorbeilief.
×
"Wie zur Hölle soll ich das noch so viele Male schaffen?",hauchte ich kopfschüttelnd, als wir uns schliesslich wieder im Zug befanden - in Richtung Distrikt 11.
Ich sass auf dem hellblauen, feingesäuberten Sofa des Zugabteils - hatte die Knie angezogen und schaute ins Leere. Müde - durchgekämpft.
Johanna und Tulip sassen bei mir - spürte, wie Johanna ihre Hand auf meine Schulter legte. Kurz schaute ich zu ihr, aber sogleich wieder stur ins Leere.
"Du musst es danach nie wieder machen..."
"Wie hast du es geschafft? Wie hat es Blight geschafft?",sprach ich ihr etwas wütender ins Wort, als ich eigentlich wollte.
Seit den Spielen hatten mich meine Gefühle mehr unter Kontrolle, als ich sie selbst kontrollierte.
Johanna jedoch verstand dies - zuckte im Gegensatz zu Tulip gegenüber von mir nicht zusammen. Liess nicht wie sie fast ihr Tablet auf den Boden fallen.
Johanna öffnete den Mund um etwas zu sagen - schielte kurz zu Tulip rüber, ehe sie mich ansah. Atmete tief durch und lächelte traurig.
"Wenn du wüsstest, wie sehr auch wir gelitten haben..."
Etwas überrascht runzelte ich die Stirn. Schaute Johanna mitfühlend an.
"In die Augen von den Familien zu schauen - den Hinterbliebenen von denjenigen, welche man getötet hat. Oder irgendwie mitgeholfen hat, sie zu töten - geschweige denn denen, mit welchen man vielleicht verbündet war und nicht retten konnte..."
Johanna's Stimme klang etwas heiser - ehrlich und wirklich frei von der Seele. Dies bekamen nicht viele Leute zu Gesicht - dies wusste ich.
In den Hungerspielen hatten sie eine Rolle gespielt - in dieser Reality-Show.
Das Mädchen, welches zuerst schüchtern und schwach wirkte - sich mit einer Gruppe von grösstenteils Karrieros zusammen tat und letztendlich, als nur noch wenige Tribute übrig waren, ihr wahres Gesicht gezeigt hatte.
Doch auch Johanna war ein Mensch. Kein Monster.
"Und wie habt ihr es geschafft?",flüsterte ich unsicher und etwas atemlos. Schaute in die Augen von Johanna.
"Wir haben's einfach gemacht. Durchgebissen." Johanna zuckte etwas mit den Schultern und sah mich mitfühlend seufzend an. Grinste schwach.
Ich spürte, wie meine Augen begannen zu brennen - ehe ich einen Moment zu Boden schaute und versuchte, nicht laut los zu schreien.
Fühlte mich schwach - nicht stark genug, diesen Scheiss hier einfach durchziehen zu können.
Und über meinen baldigen Job als Mentorin konnte ich noch gar nicht nachdenken.
"Das Kapitol mag es, wenn Emotionen gezeigt werden, Ayleen.",meldete sich zu meiner Überraschung Tulip leise zu Wort. Sah mich sanft an. Sie sass gerade auf ihrem Sessel und hatte ihr Tablet auf den Kaffeetisch zwischen uns gelegt.
"Du darfst sogar weinen, wenn es um... Eddie oder Silija gehen wird. Solange du dich nicht rebellisch oder gegen die Spiele zeigen wirst - wird Präsident Snow nichts dagegen unternehmen."
"Toll, ich weine auf einer Bühne - wunderbar!",antwortete ich zischend und wusste, dass ich mich stur und kindisch benahm - aber die Beiden verstanden mich zum Glück. Wussten, dass ich den Ratschlag durchaus dankbar annahm.
Was mir aber auffiel, war, dass Tulip wenn sie vom Kapitol redete - sich selbst nicht mit zu zählen schien.
Sie schien schon fast auf unserer Seite zu sein. Und immer wie mehr machte ich mir Sorgen um sie.
Tulip war sensibel und emotional - war sie doch erst 23 Jahre alt und in diesem Job letztes Jahr neu zugeteilt worden.
Sie fühlte mit den Menschen mit - und dies war eine risikoreiche Charaktereigenschaft, wenn sie ihre Tribute in den Tod begleiten musste.
Und auch wenn sie aufgedreht, manchmal nervig und naiv war - hatte ich doch tatsächlich die Kapitolsdame Tulip in mein Herz geschlossen.
Ich wollte nicht, dass ihr etwas passieren würde. Vor allem nicht, wenn sie sich für mich gegen das Kapitol auflehnen würde.
×
Die Rede in Distrikt 11 war nicht viel besser als diese in Zwölf.
Trotzdessen, dass er zu den ärmeren Distrikten von Panem gehörte - war die Atmosphäre um einiges angenehmer.
Üppige Obsthaine reihten sich an den Hügeln um das Dorf an. Bäume, Ackerland - seien es nun Maisfelder oder angebaute Kartoffeln. Und grösstenteils Bauernhöfe. Vor allem das Gackern von Gänsen war immer wieder mal zu hören.
Vielleicht war es die Natur, welcher den Aufenthalt hier angenehmer machte.
Denn ich wusste, wie brutal die Regierung gerade in dem Distrikt war, von welchem die Hauptnahrungsquelle kam - den Distrikt der Landwirtschaft.
Man hörte oft Geschichten, wie das Stehlen von Lebensmitteln hier ohne zu zögern mit dem Tod bestraft wurde. Auch wenn Hungersnot herrschte - die Sachen wurden ins Kapitol geliefert.
Das Kapitol schien hier besonders ihren Griff verstärkt zu halten - auch der Bürgermeister schien ein fieser und hinterhältiger Mann zu sein, welcher wohl das beste Leben hier hatte.
Die Sieger des Distriktes schienen zwar gesünder auszusehen - Chaff Mitchell schenkte mir sogar ein Lächeln, als sich unsere Blicke kurz auf der Bühne trafen - aber die Stimmung war irgendwie gedrückt.
Kein Wunder, wenn man mich fragte.
Ich sagte fast diesselben Dinge - da ich weder Sheena, noch Christophe nahe gestanden war. Sheena hatte mich damals zwar fast umgebracht - wäre Mitchel nicht gewesen - doch dies schien das Kapitol nicht wirklich zu scheren.
Was mich bei Sheena besonders überraschte, war, dass vor ihrer Leinwand - auf welcher mich ihr Gesicht mit Todesblick anstarrte - nur ein junger Mann stand.
Welcher die ganze Zeit keine einzige Mimik verzogen hatte. Mich bloss mit einem emotionslosen Blick anstarrte, während ich diese scheinheiligen Wörter vom Kapitol in das Mikrofon gesagt hatte.
Bei Christophe jedoch stand eine Grossfamilie - wie es in den ärmeren Distrikten üblich war. Einige davon weinten - und ich war froh, dass ich durch die Distanz nicht jeden Schluchzer genau hatte hören können.
Mit einem ebenso zögerndem Applaus trat ich mit zittrigen Beinen wieder von der Bühne - dann hörte ich einen schmerzvollen Aufschrei eines Mannes in der ersten Reihe - und sogleich wurde der Applaus lauter und fröhlicher.
Überfordert drehte ich mich noch einmal zum Publikum um - sah, wie sich der Mann seinen Bauch hielt, während der Friedenswächter wieder in seine Reihe stand.
Den Bürgermeister schien dies nicht zu scheren, als ich entsetzt zu ihm geschaut hatte. Dass ein Mann geschlagen wurde, nur damit ich einen Applaus auf eine solche scheiss Rede bekam.
Wie in Trance trat ich wieder zurück in das Bürgermeistergebäude und zitterte sogleich am ganzen Körper.
×
Als ich Liana in die Augen schaute - welche mich auf der Leinwand mit einem etwas amüsiert hochgezogenem Mundwinkel anschaute - hätte ich am liebsten angefangen zu schreien.
Meine Hände zitterten. Hatte Angst, dass ich gleich die Rednerkarten fallen lassen würde - und ich mich vor Kamera zum Affen machte, wenn ich sie runter von der Bühne holen gehen müsste.
Doch ich liess sie nicht fallen. Und auf einmal wurde mir klar, dass mir diese Blamage noch fast lieber gewesen wäre - als diese Worte auf zu sagen.
Ich sagte die allbekannten Worte am Anfang - und schaute dann zu Liana. Yan hatte ich nicht gekannt - die Blicke seiner Eltern und vier Geschwistern waren aber ebenso durchdringlich, wie etwa die Blicke von Liana's Familie.
Ihr Vater besass nur noch einen Arm - vielleicht hatte er ihn bei einem Unfall auf dem Bauernhof verloren.
Kühe muhten - Hühner gackerten und der Geruch von Pferdestall drang mir in die Nase. Untermalten die Atmosphäre von Distrikt 10 - welcher für die Viehzucht zuständig war.
Die Armut war auch hier nicht weniger als etwa in Distrikt 11.
Liana's Mutter war eine korpulente Frau, welche schon die ganze Zeit die Hand ihres nun noch einzigen Sohnes hielt - und weinte.
"Liana war meine Verbündete während den Spielen - auch wenn..." Ich grinste schwach etwas - auf der Karte stand zwar Schmunzeln, aber wie zur Hölle konnte ich bei einer Rede um tote Jugendlichen lachen?
"Auch wenn sie mich wohl nicht wirklich hatte leiden können." Ich erwartete gar kein zustimmendes Grinsen, wie es wohl das Kapitol erwartet hatte - und redete weiter.
"Trotzdessen waren wir eine kurze Zeit zusammen im Kampf um den Sieg der 72.Hungerspielen. Liana war tapfer und gerissen - und..." Mir wurde bei den nächsten Worten noch übler, als mir sonst schon war.
"...und hat einen mutigen und dramatischen Abgang gemacht, wie Liana selbst wohl sagen würde." Ich konnte nun wirklich nicht mehr verhindern, dass meine Stimme etwas heiser und zittrig klang. Diese Worte schienen irgendwie einen sarkastischen, schwarzen Humor hinterherjagen zu wollen - aber wie zum Teufel sollten dies die Leute aus Distrikt 10 amüsant finden?
Ich schämte mich regelrecht, als ich mich schliesslich ebenso von den Distriktbewohnern aus Zehn verabschiedete.
×
Das Rauschen des Windes, welcher durch die weiten Getreidefelder fuhr - untermalte uns in Distrikt 9 die Szenerie.
Auch wenn es sich sehr armseelig anhörte, war die Rede hier mittlerweile etwas einfacher für mich - weniger höllisch - da ich weder Stephan, noch Kath gekannt hatte.
Ich sagte also meine Wörter auf - spürte die Blicke deren Familien auf mir, welche wohl nie wieder ein gutes Leben führen konnten - und drehte mich mit Panem heute, Panem morgen - Panem für immer wieder um.
Ging von der Bühne und wurde von Johanna, Blight und co. erwartet.
Doch als wir nun letztendlich auf dem Weg zu Distrikt 8 waren - im Zug sassen und nur noch eine Stunde vom Distrikt von Eddie entfernt waren - ja, da schien ich durch zu drehen.
Wie zur Hölle würde ich in die blauen, lebendigen und doch toten Augen von Eddie - Nadel - schauen können?
Wie würde ich meine Sprache finden können, wenn ich seinen Blick auf mir spüren würde?
Ich wusste nicht, ob ich dies schaffen würde. Ganz ehrlich.
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