35 ✴ Der Preis des Fehlers

Ein Tag zuvor
in Distrikt 7

Zach's Sicht

"Nein...",hörte ich Tante Augustine neben mir flüstern, welche ihre Hände aneinanderpresste und angespannt in den Bildschirm schaute.

Überall lagen Teller und Gläser herum - angefangene Speisen. Die Hutchersons und ich verbrachten so gut wie jede freie Minute vor dem Fernseher unseres Wohnzimmers.
Geschweige denn Elio - welcher mittlerweile schon hier auf dem Sofa übernachtete.

Ich hatte ihn schon oftmals versucht zu beruhigen - er, der Tag für Tag zusehen musste, wie seine beste Freundin in diesen Spielen immer wie mehr zerbrach. Beste Freundin? Gut, es war wohl mehr zwischen den beiden, als nur das - und dies war warscheinlich schon immer so gewesen.
Was natürlich alles nur noch schrecklicher machte.

Es zerbrach mir tagtäglich das Herz, wenn ich ihn weinen sah - er solche Augenringe und gerötete Augen besass, dass er schon fast schlimmer aussah, als damals seine Mutter verstorben gewesen war.

Als Ayleen damals bewusstlos war, hatte ich Elio sogar schon ein Messer aus der Hand nehmen müssen - welches er auffällig lange mit gebrochenem Blick angestarrt hatte.

Ich selbst spielte all die Tage den Starken. Gab ermunternde Worte von mir - hatte sicher schon alle in diesem Haushalt mehr als zehnmal umarmt.
Hatte Cassidy schon viele Male aus einer Panikattacke raushelfen müssen.
Hatte Tante Augustine beim Kochen geholfen, auch wenn ich mir zweimal mit dem Messer in den Finger geschnitten hatte.
Onkel Wyll hatte am dritten Tag den Fernseher zusammenschlagen wollen - doch ich hatte ihn zum Glück noch davon abhalten können.

Doch ich zerbrach innerlich - genauso wie meine Schwester in der Arena.
Es zerriss mich, zuschauen zu müssen. Es fühlte sich an, als würde jemand die ganze Zeit mit einem Messer über meine Haut fahren - langsam, damit ich die Schmerzen vollends spürte.
Es war unaushaltbar.

Doch als wäre all dies nicht genug; mussten wir Fünf nun zuschauen, wie Ayleen dem Kapitol die Geschichte lieferte, wie ich und sie aus Distrikt 4 hier her gekommen waren.
Ich spürte, wie nun alles ineinander zusammenfiel.

Onkel Wyll reagierte als erster - stand auf und starrte wie gebannt auf den Bildschirm, auf welchem Ayleen Eddie die Story erzählte.
"Sie könnten die Szene wechseln! Sie könnten umschalten, verdammte Scheisse nochmal!",fluchte er dann heiser, worüber Tante Augustine zittrig aufstand und ihn am Arm festhielt. Sie fing leise an zu weinen.

"Vielleicht hat das Kapitol schon die ganze Zeit darauf gewartet...",hauchte sie verzweifelt. "Vielleicht haben sie sogar-..." Sie brach schwach und entrüstet ab und sprach ihren Satz somit nicht zu Ende.
Doch ich wusste, was sie sagen wollte; Vielleicht haben sie sogar mit Absicht dafür gesorgt, dass Ayleen zu den Hungerspielen auserwählt wird.

Wie in Trance starrte ich einen Moment ins Leere.
Ayleen wusste nicht die ganze Geschichte. Ich konnte mich noch erinnern - doch Ayleen nicht mehr. Und wenn, hatten wir es ihr schöner verpackt vorgestellt, als es eigentlich gewesen war.
Meine Tante und Onkel hatten mir ausdrücklich gesagt, dass es so besser wäre.
Doch es war es nicht gewesen. Überhaupt nicht. Es war ein Fehler gewesen.

Es klopfte an der Tür - und ohne eine Antwort abzuwarten, trat Victoria in das Haus.
Sie weinte - wodurch ich sofort vom Sofa aufsprang und auf sie zulief.

Ihre blonden Haare hatte sie schnell zu einem Pferdeschwanz gebunden - ihre graugrünen Augen waren mit Panik erfüllt.
Sie sah unfassbar verzweifelt aus, was mich nur noch mehr anspannen liess.

"Vic! Vic, ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht...",flüsterte ich leise und sah kurz unsicher umher, ehe ich sie an mich ziehen wollte - doch sie schüttelte ängstlich den Kopf.
"Zach! Die Friedenswächter werden kommen! Präsident Snow hat vorhin gerade meinen Vater angerufen! Ich bin so schnell ich konnte aus dem Haus gerannt. Ich weiss nicht, wie viel Zeit ihr noch habt!"

Ich hörte, wie Tante Augustine einen erstickten Schrei ausstiess und Cassidy anfing zu weinen.
"Wieso! Wieso, was ist denn los!",schluchzte sie ängstlich.

Onkel Wyll schnappte sich eine Glasflasche vom Tisch und schmiss sie voller Wut gegen die Wohnzimmerwand.
Ich sah, wie Elio mit vor Angst geweiteten Augen aufsprang und sich mit dem Rücken an die Wand in die hinterste Ecke vom Wohnzimmer drückte.

"Du machst ihr doch nicht ernsthaft Vorwürfe, oder?",fragte ich dann mit einer solchen Wut in meiner Stimme, worüber ich sogar selbst Gänsehaut bekam. Sah meinen Onkel todernst an.
Ich wusste, wie viel er verloren hatte - doch trotzdessen hatte er einen Fehler gemacht, Ayleen nicht die Wahrheit zu sagen.

"Papa, was ist denn los? Mama?",meldete sich Cassidy schluchzend abermals zu Wort, welche zittrig auf dem Sofa sass und ihren Plüschfuchs an sich drückte.

"Zachary, bitte...",begann Tante Augustine schlichtend - wenn auch ihre Stimme vor Furcht bebte.
"Sie konnte es ja nicht wissen! Weil ihr es ihr verdammt nochmal niemals erzählt habt!", rief ich verzweifelt aus.
"Wenn wir es ihr erzählt hätten, dann würde sie sich ihr ganzes Leben lang Vowürfe machen - genau wie du es tust!"
Dies liess mich verstummen und ich spürte Victoria's Hand an meinem Arm.
Mein Onkel hatte ins Schwarze getroffen. Spürte, wie meine Augen brannten.

Das alles hätte niemals so kommen dürfen. Niemals.

"Onkel Wyll. Bitte, erzähl es ihnen.",flüsterte ich nun mit überaus dünner und schwacher Stimme. Sah zu Cassidy und Elio - zu Victoria neben mir.

Onkel Wyll atmete stockend durch - schwieg aber. Sah bloss stur an die Wand, bei welcher die Scherben der Flasche am Boden lagen.

"ERZÄHL ES IHNEN, VERDAMMT!",stiess ich nun endlich mit tränenden Augen laut aus. Hatte seit der Ernte nie geweint - noch nie. Doch nun konnte auch ich nicht mehr.
Konnte nicht mehr stark spielen.
Konnte keine Lügen mehr aussprechen.
Ich konnte nicht mehr.

Mein Onkel schloss mit schmerzhaft verzogenem Gesicht einen Moment die Augen - während meine Tante beruhigend über seinen Arm strich und nach seiner Hand griff.

"Meine Eltern und meine Schwester starben bei dem Versuch, Zach und Ayleen nach Sieben zu bringen. Wurden ermordet auf der illegalen Zugfahrt nach Vier.",begann Onkel Wyll mit heiserer Stimme.

"Es war ein abgekartetes Spiel der Friedenswächter aus Distrikt 4 gewesen - welche schon damals Ayleen fast getötet hatten. Es war eine regelrechte Revolution der Friedenswächter gewesen, in Distrikt 4. Nein, nicht einmal nur in Distrikt 4 - es war damals schon verbreitet gewesen." Er schüttelte mit glasigen Augen den Kopf und schaute ins Leere - war zurück in seinen Erinnerungen, wie Lee vorhin.

"Das Kapitol fühlte sich schuldig durch diesen offensichtlichen, unnötig brutalen Fehler - oder besser gesagt mussten sie schlichten, damit dies kein zu grosses Drama werden würde. Eine Revolution von Friedenswächtern - stellt euch das mal vor... Und dadurch machten sie eine Ausnahme. Wir durften Zach und Ayleen zu uns holen. Aber bloss... wenn niemand davon erfahren würde."

Einen Moment war es still.
Ich sah zu, wie Elio langsam aus seiner Ecke trat und die Stirn runzelte.
"Heisst das..." Er schüttelte komplett verwirrt den Kopf. "Was heisst das jetzt?!"

Abermals klopfte es an die Tür - dieses Mal stärker.
Ich schluckte leer und zog Victoria näher zu mir, welche ebenso anfing zu zittern, wie ich.

Doch keine Friedenswächter traten in unser Haus ein - sondern unser Bürgermeister höchstpersönlich.

Mr. Quentins trat an der Seite seines Sohnes ein - Glenn. Dieser sah schon fast unsicher umher - schien ganz bleich im Gesicht zu sein.
Ich spürte, wie Victoria sich etwas von mir löste, um ihrem kleinen Bruder beruhigend über den Arm zu streicheln.

"Mr. Quentins, was tun sie denn hier!",begrüsste meine Tante ihren Chef entrüstet und wischte sich schnell ihre Tränen von den Wangen ab.

Mr. Quentins hob etwas schlichtend die Hände - schien das erste Mal wirklich besorgt oder mitfühlend zu sein.
Ansonsten war mir unser Bürgermeister stets wie ein Arschloch vorgekommen - welcher noch dazu seinen Sohn schlug. Victoria hatte es mir einmal unter Tränen erzählt gehabt.

"Wir wissen alle, was für eine überaus risikoreiche Situation gerade tobt...",begann Mr. Quentins formell, doch wurde von meinem Onkel sogleich unterbrochen.
"Sie liefern uns aus, hab ich recht? Snow hat es Ihnen gesagt!" Onkel Wyll war ausser sich vor Wut - und ich konnte es ihm letztendlich nicht verübeln.

Mr. Quentins seufzte und sah einen Moment alle im Raum an. Das fahle Licht unserer Lampe flackerte zwischendurch etwas - doch dies war für uns nichts Neues. Draussen war mittlerweile tiefste Nacht.

"Ihr wisst alle, wie sehr das Kapitol Drama liebt..."
"Kommen Sie bitte zum Punkt, Mr. Quentins...",meldete sich nun überraschender Weise auch meine Tante zu Wort - verzweifelt und überaus bittend sah sie ihren Chef an.

"Ich konnte einen Deal mit dem Präsidenten aushandeln, okay?",sagte uns Mr. Quentins behutsam.
"Ach, einen Deal? Dann sagen Sie uns doch mal diesen Deal, Herr Bürgermeister!",spie Onkel Wyll verächtlich aus, wodurch Tante Augustine ihn verzweifelt versuchte zu beruhigen.

"Wenn Ayleen gewinnt - lässt euch Präsident Snow leben. Wenn nicht - dann werdet ihr das gleiche Schicksal erfahren, wie sie. Den gleichen Tod erleiden, wie sie es in der Arena tun wird."

Es war totenstill im Wohnzimmer - sodass man nur noch die Stimme des Jungen aus Distrikt 8 hörte, welche aus dem Fernseher erklang;
"Du und ich, Fuchs. Am Ende der Welt."

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