34 ✴ Stärke
Dies war die erste Nacht in den Hungerspielen, in welcher ich so ziemlich wieder einmal schlafen konnte.
Vielleicht war ich auch einfach so erschöpft von allem was passiert war und dem ganzen Erzählen - dass ich einfach schlafen musste.
Doch diese Ruhe war mir nicht lange gelassen - wie man es nunmal in den Spielen kannte.
Vor allem in den diesjährigen Spielen.
Ein Kanonenknall weckte mich am nächsten Morgen auf.
Geschockt zog ich die Luft ein und setzte mich sogleich zittrig auf.
"Eddie?"
Mir wurde übel. Alles in mir verzog sich - stiess einen geschockten Schluchzer aus.
Alles drehte sich und blieb gleichzeitig komplett stehen.
Er lag neben mir.
Die Augen zu - mit einer Nadel in seinem Hals. Atmete nicht mehr.
Dort eine Nadel - und du schläfst dich während etwa drei Minuten in einen friedlichen Tod., hallte seine Stimme in meinen Erinnerungen nach.
Ich schüttelte den Blonden verzweifelt - immer noch in der Hoffnung, dass die Kanone nicht seinetwegen ertönt war.
Doch er bewegte sich nicht mehr.
Entspannt lag er da - mit der Nadel im Hals. Sogar mit einem ganz leichten, entspannten Lächeln auf den Lippen - aber wohlmöglich bildete ich mir dies bloss ein.
Er hatte sich umgebracht - hatte sich selbst in den Tod schlafen lassen.
Nein. Nein!
Mein Atem verschnellerte sich und ich raufte mir schluchzend durch meine roten, mittlerweile fettigen Haaren.
Der Schmerz drang gleichzeitig nicht zu mir durch - und doch mit voller Dosis.
Ich konnte all dies nicht mehr spüren - gar nicht mehr alles in mich aufnehmen!
Ich war schon so voller Schmerz.
Starrte eine Weile einfach bloss ins Leere - ohne, dass ich irgendetwas hätte verarbeiten können.
Ich war gelähmt.
Wusste nicht mehr, wie ich damit umgehen sollte. Oder musste.
Mein Körper durchfuhr ein solcher Schmerz. Einen Schmerz, den ich gar nicht mehr zuordnen konnte.
Mein Kopf wollte es nicht glauben - und mein Herz zerbrach daran gleichzeitig.
Ich wünschte mir, dass ich gleich aufwachen würde - das all dies gerade bloss ein unfassbar schlimmer Albtraum war.
Doch ich wachte nicht auf.
Wusste, dass dies hier kein Traum war.
Nein, ein Albtraum wäre weniger schrecklich.
Irgendwann griff ich wimmernd nach Eddie's Händen - doch runzelte dann die Stirn.
Ich entdeckte etwas in seiner rechten Hand - welche vorhin während wir schliefen, noch auf meiner Schulter gelegen hatte.
Einen zusammengefalteter Zettel.
Zittrig nahm ich ihn ihm aus der kalten Hand und öffnete ihn schluchzend.
Seine Schrift war schön - lässig. Als wäre er ein Künstler.
Und das war er auch.
Er war ein Künstler.
Du hast es verdient zu gewinnen, Fuchs.
Richte deinem Elio einen Gruss von mir aus, wenn du nach Hause kommst.
Ich danke dir, dass du meine Wunden geheilt hast.
Aus tiefstem Herzen.
Ganz ehrlich.
In Liebe
Nadel
"Wieso!",stiess ich abrupt verzweifelt aus und begann fürchterlich an zu weinen.
Mein Körper bebte - während ich mich wimmernd über den Körper von Eddie lehnte.
Legte meine Hände an seinen leblosen Körper.
Er umarmte mich nicht mehr.
Strich mir nicht mehr die Tränen weg.
Mein Anker war er gestern gewesen - welcher mich aus den tiefen Ozean meiner schlimmen Erinnerungen gerettet hatte.
Und ich ihn aus seinen.
Und auch wenn ich gewusst hatte, dass jemand von uns beiden sterben musste - hatte ich all dies niemals so gewollt. Niemals so erwartet.
Nicht so.
Nicht... so.
Schluchzend küsste ich seine Wange und strich ihm sanft die blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht. Strich über seine Sommersprossen.
Er hatte so viel verdient - so viel Liebe und Zuneigung.
Alle Liebe der Welt.
Doch sie blieb ihm so lange verwährt - so lange.
Er hätte diese Spiele gewinnen können - und auf einmal wurde mir klar, dass er dies vielleicht gar nie gewollt hatte.
So selbstbewusst war er damals auf die Bühne gekommen bei der Ernte in Distrikt 8. Entspannt. Lässig.
Doch er hatte sich nicht freiwillig gemeldet.
Er hatte niemanden mehr in Distrikt 8. Niemanden, der auf ihn zu Hause warten würde.
Mein Herz zerbrach.
Es brauchte all meine Willenskraft, dass ich aufstand.
Ich wollte nicht mehr aufstehen - und doch wusste ich, dass ich es nun nur noch mehr musste.
Für Eddie.
Ich trat in Trance aus dem Füllhorn - nachdem ich die Falle voller Wut kaputtgemacht hatte. Meine Arme und Hände waren zerkratzt vom Draht - spürte dies aber nicht. Rasend hatte ich alles weggerissen.
Sollten sie nur kommen - die anderen Drei.
Sollten sie nur kommen.
Die Sonne schien wieder - aber am sechsten Tag kamen ebenso einige düstere Wolken auf, die langsam aber sicher alles etwas verdunkelten. Epischer machen wollten.
Der Hovercraft hatte Eddie vor drei Stunden geholt. Hatte mich abwenden müssen - hatte nicht mitansehen können, wie er verschwand.
Wie von Zauberhand hatte sich das Füllhorn geöffnet - wie einen Deckel hatte sich die oberste Etage des Schiffes abgehoben.
Mir wurde klar, dass er so wenigstens keinen schmerzhaften oder brutalen Tod hatte erleiden müssen - war an mich angekuschelt eingeschlafen.
Was für ein unfassbar schlimmer und trotzdem beruhigender Gedanke dies war.
Und ich hatte Angst davor, diesen Gedanken zu denken.
Ich wünschte mir, ich hätte Eddie nicht in den Hungerspielen kennengelernt. Ich wünschte mir, dass wir uns wie normale Menschen kennengelernt hätten.
Auf der Strasse. In der Bäckerei. Nachdem wir aus Versehen ineinander reingestolpert wären.
Ich wünschte mir, dass alles anders wäre.
Während ich mich nun vor dem Füllhorn positioniert hatte - ging ich noch einmal meine Mittribute durch.
Es waren noch drei.
Nur noch drei.
Newell, Slytha und...
Exakt in diesem Moment ertönte ein unfassbar lauter, schmerzhafter Schrei aus dem Wald - abermals ein Knall der Kanone - und Mitchel's Bild erschien bewölkten Himmel.
Donnergrollen war zu hören, als sein Bild wieder verblasste.
Zwei.
Da waren's also nur noch zwei.
Ich atmete schwer.
Nun musste ich funktionieren.
Durfte in keiner Sekunde aufgeben - wie Eddie es mir gesagt hatte.
Wie Colyn es mir gesagt hatte.
Wie Zach es mir gesagt hatte.
Wie Elio es mir gesagt hatte.
Wie die Hutchersons es mir gesagt hatten.
Wie Johanna es mir gesagt hatte.
Und wie Helio es mir gesagt hatte.
Langsam stand ich auf und drehte mich Richtung Wald.
Ich hatte keine Ahnung, wo Slytha oder Newell waren.
Ich hatte mir einen neuen Gurt von Wurfmessern umgebunden - die fünf letzten Messer, welche ich hier benutzen würde.
Ich würde sie benutzen.
Ohne zu zögern.
Ich würde nicht mehr zögern.
Nicht mehr.
Und dann ertönten Schreie - sowohl von Ureinwohnern, als auch von Tributen.
Weibliche und männliche Schreie - welche immer wie näher zum Füllhorn zu kommen schienen.
Aus erstem Reflex fing ich an, die Leiter raufzuklettern - damit ich ganz oben auf dem alten Frachtschiff war.
Und dies war keineswegs zu spät - denn sogleich kamen die zwei Tribute aus Distrikt 2 angesprintet.
Blutüberströmt waren sie beide - hinter ihnen trieben sie eine Gruppe von wütenden Ureinwohnern.
Ein starker Gewittersturm türmte sich an - verdunkelte die Sonne und liessen die Schreie von Donnergrollen untermalen.
Ebenso Blitze zischten durch den Himmel.
Newell entdeckte mich zuerst und rannte sogleich auf das Schiff zu.
Meine Haare peitschten mir um das Gesicht, während ich mir wie ein Pirat auf diesem Schiff vorkam.
Slytha war einige Meter hinter ihm und schrie immer wieder vor Angst auf, wenn sie ein Ureinwohner fast in seinen Krallen gehabt hatte.
Gerade wollte ich dafür sorgen, dass Newell nicht die Leiter hinaufklettern konnte - indem ich zur Leiter rannte und ihm den Weg versperren wollte.
Aber dann passierte etwas, was mich geschockt am verrosteten Geländer festkrallen liess.
Ich strauchelte auf die Knie hinab und schlug das eine so sogleich an einer Metallstange auf.
Die Insel bewegte sich.
Die ganze verdammte Insel fing an, sich auseinander zu bewegen.
Der Strandteil, worauf das Füllhorn platziert war - löste sich vom Wald ab.
Die Ureinwohner blieben auf einmal wie von selbst am Waldrand stehen und schauten unbeeindruckt dabei zu, wie sich der Strand von ihnen weglöste.
Es war ein ohrenbetäubender Lärm, wodurch ich sogar Newell entsetzt aufschreien hörte - welcher es letztendlich dann mit viel Kraft doch zu mir auf das Schiff geschafft hatte.
Der Inselteil löste sich immer wie mehr, manövrierte uns wie ein Schiff eine Weile über das schier unendliche Meer - bis der restliche Teil der Insel nur noch klein am Horizont zu sehen war.
Ich keuchte, als die Insel endlich anhielt. Mein ganzer Körper zitterte wie Espenlaub - und mein Kopf wollte erst einmal gar nicht verstehen, was gerade passiert war.
Doch dann versuchte ich mich aufzurappeln und sah angespannt umher.
Das Finale - es hatte nun begonnen.
Fünf Jahre zuvor...
"Was ist, wenn ich für die Spiele ausgewählt werde?" Meine Stimme klang unsicher und ängstlich - sah hoch zu meinem Bruder, während er neben mir sass.
Meine Chancen wurden von Jahr zu Jahr grösser - geschweige denn die meines Bruders.
"Wenn du gezogen werden würdest - Lee, wenn!... dann würdest du gewinnen. Du würdest durchhalten. Und ich auch."
Zach wusste, dass ich mittlerweile Sachen wie Das wird nie passieren nicht mehr glauben konnte.
Denn die Möglichkeit war da - und konnte eintreffen. Die Chance war da. Das Risiko war allgegenwärtig.
"Naja, aber der Sieg sieht jetzt auch nicht gerade rosig aus..."
Ich hatte gesehen, was den Siegern blühte - gestern, als Johanna schreiend in Distrikt 7 angekommen war und sich gleich für die Beerdigung ihrer Familie umziehen hatte können.
Erinnerte mich an ihren Blick auf mir - diesen gebrochenen Blick.
Wie sie geschrien hatte, auch wenn es so ausgesehen hatte, als hätte sie eigentlich gar keine Energie mehr zum Schreien gehabt.
Sie war mir während den Spielen so stark und unerschrocken vorgekommen - doch war sie dies wirklich gewesen?
War sie etwa die ganze Zeit am zerbrechen gewesen?
Musste man dies tun - in den Spielen?
Ich wusste es nicht. Noch nicht.
"Wir haben so viel durchgemacht, Lee. Du hast so viel durchgemacht... Dann würden wir auch das durchstehen. Irgendwie."
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