3 ✴ Ungewollte Vorfreude

"Finnick Odair! Mum, Finnick Odair ist im Interview! Schau doch!"
Ich hielt mir mit verzerrtem Gesicht gespielt die Ohren zu - wegen dem Gekreische meiner Cousine.
Zach neben mir grinste dadurch kopfschüttelnd und lehnte sich etwas zurück.
Seine halblangen, ebenso kupferroten Haare wie meine, waren noch etwas nass. Er war nach dem Feierabend noch in den Waldsee schwimmen gegangen.

Mittlerweile war mir klar, dass er dies immer regelmässiger tat, weil er sich so mit Victoria traf.
Und ich glaubte zu wissen, dass er wusste, dass ich es wusste.

Cassidy hatte ihre dunkelblonden Haare hübsch zu zwei Zöpfen gebunden. Als würde sie erwarten, dass Finnick Odair sie durch den Bildschirm hier sitzen sehen könnte.

Wir Drei sassen auf dem alten Sofa in unserem Wohnzimmer, wo wir gleich im abgenutzten Fernseher die allabendlichen Interviews von Caesar anschauen würden.

Unser Wohnzimmer war spärlich eingerichtet - aber trotzdessen war es der gemütlichste Ort im ganzen Haus.
Unsere Tante und Onkel waren nicht reich, aber hatten auch nie Hungersnot leiden müssen.
Dies war ein Privileg, welches wir zu schätzen wussten.

Onkel Wyll war stellvertretende Leitung der Papeterieabteilung - daher verdiente er gut.
Tante Augustine dagegen, arbeitete bei unserem Bürgermeister. Sie nannte es "Sekretärin", jedoch waren die häufigsten Aufgaben, welcher er ihr tagtäglich aufgab - seine Schuhe zu putzen, sein Büro zu entstauben oder ihm ein Brot von der nächstgelegenen Bäckerei zu holen.

Sie waren beide zwei herzensgute Menschen, denn sonst hätten sie damals nicht den Kampf angefochten, uns aus Distrikt 4 hier her bringen zu können.
Es war im Kapitol nicht sonderlich gerne gesehen, dass Anwohner einfach so ihren Heimat-Distrikt wechselten. Normalerweise wären Zach und ich einfach ins Waisenheim von 4 gesteckt worden.
Aber wir hatten mehr Glück.

Tante Augustine stand unserer Mutter immer noch sehr nahe, seit sie selbst mit gut 20 Jahren damals aus Distrikt 4 - hier nach Sieben gezogen war.
Es schien damals eine recht tragische Liebesgeschichte gewesen zu sein - zwischen ihr und unserem Onkel.
Aber Onkel Wyll erzählte diese immer wieder anders, wenn wir Kinder danach fragten.

Mittlerweile war ich alt genug um zu verstehen, dass diese Geschichte warscheinlich einfach zu traurig war - um wirklich ehrlich erzählt zu werden. Denn von Onkel Wyll's Familie lebte niemand mehr.

Unsere Tante hätte damals nicht zusehen können, wie die Kinder ihrer Schwester einfach so in ein Heim gesteckt - und dadurch nur noch mehr Leid erleiden würden, als sonst schon.
Also holte sie uns hier nach Distrikt 7. Ich erinnerte mich nicht mehr wirklich, aber Zach erzählte mir, dass es ein ziemlicher Kulturschock für uns gewesen war.

Wo zuerst Wasser, brennende Sonne, Fischeintopf und Luft mit salzigem Geschmack war - hatte es auf einmal überall Bäume, nachaktive Waldtiere, Rauch der Fabriken und der liebliche Klang von Motorsägen in der Luft.

Doch wir waren gleichermassen in beide Welten verliebt - Zach und ich. Wir gehörten an beiden Orten dazu, auch wenn wir bisher niemals mehr im Fischer-Distrikt gewesen waren.

Immer, wenn ich Distrikt 4 im Kapitols-Sender sah, fühlte ich eine Wärme in meiner Brust. Es war einfach ein Gefühl, welches man schwierig beschreiben konnte.
Eine vergangene, uns weggenommene Heimat.

Unsere Eltern waren damals Fischersleute gewesen. Genug zu Essen hatten wir nur knapp gehabt - wurde mir erzählt. Doch wir waren trotzdem zufrieden mit unserem Leben gewesen.

Als aber eines Tages, an einem bewölkten Vormittag, unsere Eltern mit dem Fischerboot rausfuhren, kam ein heftiger Sturm auf.
Sie kamen niemals mehr an die Küste zurück - nicht einmal mehr ihr Boot. Die mörderischen Wellen hatten sie verschlungen. Einfach so.

Ich hatte nichts mehr von ihnen, ausser gelegentlichen Albträumen davon - sie unter Wasser voller Angst und Schmerz, ertrinken zu sehen. Und die einzige wirkliche Erinnerung an Distrikt 4, war die Narbe auf meiner Wange.
Dieses Erlebnis war damals so prägend für mich gewesen, dass ich mich wohl für immer daran erinnern würde.

"Cassie, jetzt beruhig' dich doch!",tadelte Tante Augustine kopfschüttelnd ihre Tochter, wodurch ich aus meinen Erinnerungen gerissen wurde.
Sie und Onkel Wyll traten ins Wohnzimmer und gesellten sich zu uns.
Ich musste amüsiert lächeln, da Cassidy sich zuvorderst auf die Sofakante setzte, als der Sunnyboy Finnick Odair charmant die Zuschauer begrüsste.

Das Interview interessierte mich nicht wirklich, also lehnte ich mich an die Schulter meines Bruders, welcher wie auf Knopfdruck seinen Arm um mich legte.

Caesar und Finnick unterhielten sich über die Hungerspiele, welche Finnick damals gewonnen hatte. Mit 14 Jahren war er seither der jüngste Sieger gewesen.
Cassidy war über diese sich schon oft wiederholende Geschichte, total gebannt und starrte lächelnd in den Bildschirm.

"Wie viele Tuben Haarfarbe Caesar wohl in einem Monat verbraucht?",fragte ich leise und etwas gelangweilt, als man ihn heute mit türkisen Haaren sah.

Ich erntete zwar einen ungeduldigen und genervten Blick seitens Cassidy ab, jedoch grinste mich meine Tante kurz an.
"Das sollte man echt mal nachrechnen gehen..",sagte sie besonders leise zu mir, und sah dann wieder lächelnd zum Interview.

Eine solch' glückliche Familie hatte nicht Jeder hier in Distrikt 7. Natürlich war auch bei uns nicht alles perfekt; Wenn Onkel Wyll schlechte Laune hatte, konnte auch er manchmal ausfallend gegenüber uns anderen werden. Und wenn Zach wieder einmal zu lange wegblieb, konnte dies auch sehr oft in einen lauten Streit ausarten.
Aber alles in allem waren wir glücklich - so glücklich, wie man es in einem Distrikt Panems nunmal sein konnte.

Gerade stellte Caesar grinsend seine nächste Frage, als es einige Male an der Tür klopfte.
"Ich geh schon",sagte ich sofort, löste mich von Zach und ging zur Tür - nachdem ich mich kurz durchgestreckt hatte.

Um diese Uhrzeit durfte man eigentlich nicht mehr draussen sein - ausser man liess sich nicht erwischen und wusste, wo die Friedenswächter jeweils patroullierten und wo nicht.

Mit dem allbekannten Quietschen öffnete ich unsere Holztür - und Elio stand vor mir.
Seine glasigen Augen sagten mir schon alles.
"Hey",brachte er heraus und wie so oft lächelte er gezwängt. So war er; Er versteckte seinen Stress, so gut er konnte, hinter einer beruhigenden Fassade.
Ich wusste das - denn ich war genauso.

"Hey, willst du hier pennen?",fragte ich ihn sofort und sah ihn sanft an - ehe ich leicht nach seinem Arm griff, um ihn hinein zu bitten.
Er grinste schwach und nickte leicht. "Bloss wenns keine Umstände macht..",murmelte er leise und sah kurz zu Boden, als Tante Augustine ebenso zur Tür gekommen war.

Diese betrachtete meinen besten Freund besorgt und seufzte etwas.
"Ist es wieder schlimmer geworden, Elio?",fragte sie ihn, woraufhin er jedoch bloss etwas mit den Schultern zuckte.
Er sah ganz anders aus, als heute in der Schule. Eigentlich war das fast immer so - denn wenn er zu Hause war, schien er all seine Energie zu verlieren.

Sein Vater schlug ihn nicht. Ebenso würde er ihn niemals beledigen oder sonst freiwillig misshandeln. Sie hatten wenig Geld, da sein Vater sehr viel davon für hochprozentigen Alkohol ausgab.
Seit Gabriela - Elio's Mutter - gestorben war, war sein Vater ein Wrack. Er arbeitete in der gleiche Gruppe wie Zach im Forstbau - redete aber bloss wenig und ging immer gleich nach Hause am Feierabend.

Für Elio war dies die Hölle. Zwar hatte er keine Geschwister, um welche er sich kümmern müsste, jedoch war die Stimmung bei ihm zu Hause unaushaltbar.

Sein Vater sass bloss Stunde um Stunde am Fenster und wenn er nicht trank - dann starrte er bloss ins Leere.
An schlechten Tagen schlug er Möbel oder Geschirr kaputt, aber meistens nur wenn er wusste, dass Elio nicht zu Hause war.
Er liess niemanden an sich heran. Wenn Jemand helfen wollte, wurde man stets abgewiesen.
Leider war ein solches Leid nichts Besonderes in einem Distrikt Panems.

"Er sollte für mich was für die Schule unterschreiben. Aber als ich ihn darauf angesprochen habe, fing er an zu weinen und hat mir einen betrunkenen Monolog darüber gehalten, was für ein schlimmer Vater er doch sei..." Elio's Stimme war heiser und ich bemerkte, wie sehr er damit kämpfen musste, dass keine Tränen seine Wangen hinabrannen.

Tante Augustine schien dies ebenso zu bemerken, weshalb sie das Thema erst einmal dabei beliess.
"Du bist hier immer Willkommen, Elio",sagte sie sanft und nickte.
Ich musste lächeln. Meine Tante war so ein herzlicher Mensch. Wenn sie könnte, hätte sie wohl bisher jedes traurige Kind bei sich aufgenommen.
Aber irgendwann würde das Haus dann auch zu eng werden.

"Schaust du noch mit uns das Interview?",fragte ich dann meinen Freund und sah ihn aufmunternd und sarkastisch aufgeregt an.
Seine Laune schien sich schon zu verbessern - denn sein Lächeln war dieses Mal echt.

"Ist der sexy Sunnyboy noch im Interview?",murmelte der Schwarzhaarige verschmitzt, worüber ich kichern musste und meine Tante mit einem gespielt schockierten Gesichtsausdruck uns beide wieder alleine liess - indem sie ins Wohnzimmer zurückging.

"Ist er. Aber tut mir leid - in diesem Haus ist Cassidy der Nummer Eins-Fan von ihm",erklärte ich ihm grinsend und ich bemerkte, wie sich Elio langsam aber sicher wieder entspannte. Seine Energie und Freude kam zurück.
"Schade",flüsterte er und sah kurz grinsend zu Boden, ehe er mich mit einem dankbaren Blick betrachtete.
Ich schenkte ihm ein liebevolles Lächeln und griff nach seiner Hand.

In ein paar Tagen war unsere letzte Ernte. Wenn wir da nicht ausgelost werden, konnten wir endlich unser Leben in Distrikt 7 anfangen.

Wie es genau aussehen würde, wussten wir Beide noch nicht.
Aber wenn man die richtigen Leute um sich hatte, brauchte man letztendlich auch gar keinen ausgeklügelten Plan dafür.

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