11 ✴ Appartment im Luxuspaket

Die nächsten Minuten gingen an mir vorbei wie in einem Zeitraffer.
Als Präsident Snow uns alle zu den alljährlichen 72. Hungerspielen begrüsst hatte, ein riesengrosser Applausrausch ertönte und die Kutschen schliesslich rechtsab fuhren, konnte ich das erste Mal wieder richtig atmen.

Tulip und Helio waren wieder die Ersten, welche sich zu unserer Kutsche stellten. Colyn stieg ab und schien sofort zu bemerken, dass meine Beine mittlerweile ziemlich zittrig waren.
Er hielt mich am Arm fest und half mir, von dem Absatz der Kutsche hinabzusteigen.

"Das war sehr gut",sagte Helio ehrlich lächelnd - aber auch recht formell. Die Stimmung schien sich angespannt zu haben, als alle das Malör des Mädchens aus Distrikt 3 gesehen hatten.
Vor allem Tulip sah man es an - sie wollte am liebsten schrill lachend auf und ab hüpfen. Aber irgendetwas - warscheinlich ihre Einfühlsamkeit - hinderte sie daran.
"Die Sponsoren sind auf jeden Fall aufmerksam auf euch geworden!",sagte sie stattdessen lächelnd.

Ich bedankte mich leise und atmete tief durch. Trotzdessen dass die Luft hier nach Pferd und zu viel Haarspray roch, tat es gut, wieder richtig atmen zu können.
Als ich mich nach Johanna und Blight umsah, riss mich Tulip aus meinen Gedanken.
"Sie sind schon ins Appartment gegangen, keine Angst. Es ist Tradition, dass ich euch eure Bleibe bis zu den Spielen zeigen darf!",informierte uns Tulip nun doch wieder aufgeregt.

Man konnte sagen was man wollte - über Tulip - aber eigentlich war sie ein herzensguter Mensch. Im falschen Job vielleicht, ja, aber sie probierte immerzu ihr Bestes.
Wir verabschiedeten uns von Helio und den anderen Stylisten, ehe wir uns von der Kutsche abwendeten. Wir gingen Tulip in ihrem sonnengelben Kleid und blonden Perrücke nach.

Als wir aus dem grossen Raum hinausgingen, sah ich als letztes, wie nun die Samariter die kleine Tributin aus Distrikt 3 verarzteten.
Noch immer sah sie bleich und nun mittlerweile mit tränenbenetzten Wangen umher.

Wir gingen eine Treppe hoch und danach schliesslich durch einen langen, sterilen Gang zu einem Fahrstuhl.
Ich fragte mich, ob man vorher abgesprochen hatte, welche Distrikte jeweils wann hier hin gehen würden. Sonst wären wir hier wohl nicht alleine und müssten zuerst warten, bis die anderen den Lift benutzt hatten.

Ich kam mir etwas unwohl vor, als wir zu Dritt in den modernen Fahrstuhl stiegen. Links von uns waren insgesamt fünfzehn Knöpfe zu sehen - ich hatte gezählt.

Zu unterst war der Knopf mit Training angeschrieben. Hier befanden wir uns gerade. Der Knopf weiter oben; Eingang.
Dann war jeder Knopf jeweils mit dem jeweiligen Distrikt angeschrieben - Eins bis Zwölf.
Zu oberst war noch Einer - angeschrieben mit Dach.
Ich fragte mich insgeheim, wie viele Tribute wohl schon probiert hatten, sich dort runter zu stürzen.

Der Knopf mit der 7 fing an zu leuchten, ehe die Tür des Lifts mit einem sanften Summen vor uns aufging.
Tulip ging mit ihren Stöckelschuhen tapp, tapp, tapp, tapp als Erste in den Eingangsbereich des Appartments.

Etwas zögernd und unsicher, betraten Colyn und ich den Raum. Ich dachte, der Luxus im Zug war schon zu viel es Guten - aber hier war es nochmal drei Level höher.

Ein grosser, etwas angehobener Essbereich mit einem Glastisch und sechs Stühlen - in gelb und grünen Farbtönen.
Rechts davon ein grosser Flachbildschirm-Fernseher, mit gemütlich aussehenden Sofas und Sesseln.
An der Decke glitzerten riesige Kronleuchter und die Wände des Appartments waren in vielen verschiedenen Farben gestrichen.

Gegenüber von uns ging ein Gang zu einigen anderen Zimmern - warscheinlich den Schlafzimmern.
In gefühlt jeder Ecke stand eine komisch gekleidete Avox, welche darauf wartete, Befehle ausführen zu können.
Alles hier sah so modern - schrill aus.

Ob das Kapitol mit Absicht alles so herausstechend dekorierte, damit man auch ja den Unterschied zwischen ihnen und den Distrikten bemerkte?
Dies würde ebenso Tulip's Outfits erklären - bei welchem sie gerade etwas peinlich berührt eine Plastik-Sonnenblume wieder in ihre Perücke stecken musste, da diese ihr zu Boden gefallen war.

Mit grossem Enthusiasmus zeigte Tulip uns unsere eigenen Zimmer. Ich musste kein Wort von Colyn hören, um zu wissen, dass er das Gleiche dachte wie ich.
Wir würden beide irgendwie probieren, diese überflutende und reiche Zeit hier zu geniessen. Sich nun auch noch darüber aufregen, wie unfair und übertrieben das alles hier war - brachte sowieso nichts.

Ehe ich es mir versah, stand ich alleine in meinem ruhigen Schlafzimmer. Mit der Zeit bemerkte ich nun auch, dass mein Wagenparade-Outfit alles andere als bequem war - jedenfalls auf Zeit.
Also zog ich dieses aus, legte es sorgsam auf den Sessel beim Kleiderschrank, und verschwand ins Bad.

Dieses Mal weinte ich nicht unter der Dusche - aber vielleicht auch nur, weil ich durch das Lavendel-Shampoo so entspannt wurde. Vor dem Spiegel kämmte ich meine Haare und flocht sie zugleich wieder zu einem Zopf.

Ich strich mit meinen Fingern neben meinen nun wieder ungeschminkten Augen durch, und sah in den Spiegel.
Es fühlte sich an, als wäre ich die letzten Tage in einer Art Trance. Als hätte ich zwar realisiert, in die Hungerspiele zu müssen - und gleichzeitig verdrängte ich diesen Fakt noch um jeden Preis.

Zwar konnte ich Gefühle gut erkennen bei Menschen - aber verstehen? Tat ich nicht einmal meine eigenen.

Ich zog mir einen dunkelroten, gemütlichen Pullover und eine schwarze Jeans an.
Der Kleiderschrank hier im Kapitol war noch reichhaltiger als im Zug. Niemals würde man all die Klamotten in den fünf Tagen hier tragen können.
Was für ein sadistischer Schrank.

Das Abendessen verging ereignislos - alle waren müde und einfach erschöpft von dem ganzen Tag. Tulip versuchte zwar einige Male ein Gespräch anzufangen - aber nach einem etwas säuerlichen Blick von Johanna, beliess sie es schliesslich dann doch beim Schweigen.

Wie schon im Zug, gingen Colyn und ich nebeneinander zu unseren jeweilig eigenen Schlafzimmern.
"Lust noch etwas zu reden?",kam es vom Schwarzhaarigen neben mir leise. Dass sowas von ihm selbst kam - schien ihn viel Überwindung gekostet zu haben.

Ich grinste etwas verschmitzt.
"Klar",sagte ich nickend und sah zu meiner Zimmertür. "Aber wennschon, dieses Mal in meinem Zimmer. In deinem räumt sicher noch eine ganze Avox-Armee das Chaos auf."
Ich entlockte ihm ebenso ein Grinsen, ehe er nach mir in mein Zimmer trat und die Tür hinter sich zumachte.

"Sieht nicht sonderlich anders als meins aus.",stellte er etwas enttäuscht fest.
"Was hättest du erwartet? Schminktisch, rosarote Vorhänge und herzförmige Kissen?"
"Ach, halt die Klappe."

Ich setzte mich schmunzelnd im Schneidersitz auf mein Bett, ehe sich Colyn neben mich setzte.
Einen Moment schwiegen wir beide - überanstrengt von dem ganzen Tag. Es war wie eine ganz neue Welt - das Kapitol.

Und ich fragte mich abermals, ob dies so gewollt war. Den Tributen nochmal einen Schlag ins Gesicht geben, in dem man ihnen zeigt, wie armseelig sie eigentlich lebten.

"Nach der Ernte kam Elio noch zu mir...",fing Colyn auf einmal kleinlaut an zu erzählen. Ich erstarrte etwas bei dem Namen meines besten Freundes. Eine Trauer überkam mich bei dem Gedanken an ihn - er war nun alleine und mit noch mehr belastenden Gedankenkreisen, als sonst schon.

Ich sah ihn vor mir. Sitzt in seinem düsteren, heruntergekommenen Zimmer in Distrikt 7. Unten schlägt sein Vater wieder Möbel zu Grunde in seiner betrunkenen Raserei. Normalerweise würde Elio in solchen Momenten zu mir kommen.

Aber ich wusste nicht, ob er nun den Mut aufbrachte, zu den Hutchersons und Zach zu gehen, wenn ich nicht mehr da war.
Es zerriss mir das Herz.

"Wieso kam er denn zu dir?",fragte ich etwas heiser und Colyn schien zu bemerken, dass ich gerade sehr mit mir kämpfte.
Er räusperte sich etwas und kratzte sich kopfschüttelnd am Hinterkopf.
"Sags mir.",sagte ich etwas fester und merkte, wie meine Augen anfingen zu brennen.

Colyn atmete zittrig, und etwas flacher als sonst, ein und aus - bevor er wieder redete.
"Er hat mir erstmal ne Ohrfeige gegeben...aber man, der Typ hat ja mal überhaupt keine Muskeln. War eher wie etwas strengeres Streicheln meiner Wange..."

Ich konnte nicht anders, als anfangen zu lachen. Schluchzend grinste ich zu Boden und nickte.
Colyn lächelte mich von der Seite an und ich merkte, wie sanft sein Gesichtsausdruck aufeinmal war.
Ein Gefühl der Sicherheit umgab uns. Angenehm. Entspannend. Ohne dieses beklemmende Gefühl der ständigen Panik darüber, was in sechs Tagen geschehen würde.

"Er hat mir gesagt, dass ich ein Idiot sei. Ein Möchtegern-Held...",erzählte er schliesslich weiter.
Ich hob eine Augenbraue und sah zu ihm rüber - mit einem ganz leichten Grinsen auf den Lippen.
"Jaja, schon klar.", murmelte er mit einem bitteren Grinsen.

"Jedenfalls hat er mir geschworen, dass...wenn er sehen würde, dass ich dich nicht beschützen würde, wenn sich die Möglichkeit ergibt - er mich höchstpersönlich umbringen würde, wenn ich als Sieger nach Sieben zurückkomme..."
Ein trauriges Lächeln formte sich auf meinen Lippen und ich sah als Antwort einen Moment zu Boden.

"Uns ist beiden klar, dass wir beide gewinnen möchten...",begann ich leise, aber Colyn sprach mir sanft ins Wort.
"Ja, so ist es. Aber ich möchte echt nicht der Grund dafür sein, dass du da drinn stirbst. Auch wenn ichs um ehrlich zu sein nie geglaubt hätte, dass ich dies irgendwann nicht möchte"

Colyn's Worte überraschten mich und meine mittlerweile wieder tränenfreien Augen - wurden nun wieder etwas glasig.
Ich schwieg eine Weile und musste es verdauen. Irgendwann grinste Colyn zu mir rüber.

"Du könntest vielleicht mit Oh ja, Colyn. Mir geht es nicht anders, ich würde dich nie mit Absicht töten! antworten..",murmelte er mit einem verschmitzten Grinsen, während er mich nachäffte.

Ich stiess ihm schmunzelnd an die Schulter - sah ihn aber danach nickend und ernst an.
"Versprochen."

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