7. Kleine Anfänge
"Don't be pushed around by the fears in your mind. Be led by the dreams in your heart." — Roy T. Bennett
Mich von meiner Familie zu trennen, fiel mir schwer. Ich hatte meine Eltern und Dari nach so langer Zeit erst wieder gesehen, aber ich wusste, dass es besser so war. Das war alles zu aufwühlend und zu viel auf einmal gewesen. Es war zwar beruhigend zu wissen, dass sie mich liebten und immer zu mir halten würden, doch ich war immer noch verwirrt und musste mich mit allem neu arrangieren.
Als wir vom Quartier aufgebrochen waren, hatten wir schon unsere Sachen mitgenommen. Aus dem Haus meiner Großeltern hatte ich noch weitere Sachen gepackt, um nun bei Reed leben zu können, besser gesagt in Reeds derzeitigem Versteck.
Es war nicht leicht gewesen sich zu entscheiden, was aus meinem alten Leben wichtig genug wäre, mitgenommen zu werden. Klamotten natürlich, aber es ging viel mehr um Gegenstände mit einem besonderen Wert. Ich hatte so kurz gezögert die Sachen aus dem Versteck unter dem Boden mitzunehmen, meine Sachen, die ich dort versteckt hatte, aber sie waren dort gut aufgehoben. So nahm ich am Ende nur mein Handy und einen Rucksack voller Kleidung und einigen Gegenständen aus dem Bad mit, ließ den Rest von meinem Leben für erste zurück.
Die Lagerhalle, in der Reed seine Leute untergebracht hatte, war deprimierend und mir gefiel die Aussicht nicht, wie wenig Licht es hier drinnen gab, umso erstaunter war ich, als ich das Schlafzimmer betrat, das Reed für uns beansprucht hatte. Damit hatte ich an so einem Ort nun wirklich nicht gerechnet.
„Ich dachte mir, ich ziehe in einen Raum mit mehr Licht", sagte Reed, der meine Taschen ablegte und beinahe verlegen wirkte. Staunend sah ich zu dem großen Fenster, das fast eine ganze Wand ausmachte und von wo aus man einen herrlichen Ausblick nach außen hatte. Die Umgebung sah natürlich eher trist aus, immerhin war das ein Industriegebet, doch dadurch, dass das Zimmer weiter oben lag, konnte ich in der Ferne einen Teil der Londoner Stadt sehen, konnte den Waldrand sehen. Dadurch war das Zimmer von Licht durchflutet, dadurch würde es tagsüber nie dunkel sein und selbst für die Nacht wurde schon gesorgt. Ich sah in jeder Ecke des Raums Lampen stehen, die Reed von sich aus sicher nicht in solch einer Summe gebraucht hätte. Dass er solch eine Geduld mit mir hatte, war rührend. Nicht viele wären bereit, ihre Nächte in hell beleuchteten Zimmern zu verbringen.
„Danke", sagte ich gerührt von der Mühe. Ein Zimmer ohne Licht wäre ein Albtraum gewesen. Die Dunkelheit ängstigte mich einfach immer noch viel zu sehr.
Ich setzte mich vor dem Fenster auf den Boden, sah mir den Ausblick genauer an und sah zu, wie die Sonne langsam unterging. Wie würde es von nun an weitergehen? Eine Hürde war mit dem Treffen meiner Familie geschafft, so viele weitere würden noch auf uns zukommen. Rowan war frei, ich war nicht in der Lage damit konfrontiert zu werden und wir alle schwebten in Gefahr. Ich dachte an den vergangenen Schrecken, was er alles in dieser Zeit und damals getan hatte. Ich erinnerte mich an die vielen Toten, an die Freunde, die er mir genommen hatte. Es waren so viele gewesen. Er hatte mir so viel genommen, für so viel Elend gesorgt, nur wie sollte man ihn je stoppen?
Ich merkte erst, dass ich weinte, als Reed sich zu mir setzte und in seine Arme zog. Es half die Ängste kurz in den Griff zu kriegen, es half mich für einen Moment sicher zu fühlen.
„Es wird alles gut. Egal was nun auch kommen mag, wir stehen das gemeinsam durch. Wir haben Rowan schon einmal einsperren können, wir werden ihn dieses Mal ganz beseitigen. Irgendwie werden wir das schaffen und dann sind wir frei und glücklich und die ganze Welt wird uns offen stehen."
Und so war es die nächsten Tage auch. Reed war bei mir. Immer. Wir schliefen nebeneinander, aßen zusammen, gingen durchgehend spazieren und blieben nie lange im Zimmer, außer wenn die Dunkelheit kam. Ich hatte Stück für Stück all seine Leute wieder neu kennen lernen können und es war weniger schlimm als erwartet. Anders als im Quartier hatte hier nämlich jeder gewusst, wer ich eigentlich war. Arnold hatte mich überschwänglich willkommen geheißen, Palina hatte nur knapp erwähnt, dass sie erleichtert war, dass ich noch lebe, und der Rest ignorierte mich meistens. Es war angenehm. Hier war ich kein Freak. Hier war ich einfach ein Teil dieser Gruppe und es war schön. Es war befreiend normal zu sein.
Reeds Leuten missfiel es zwar etwas, wie sehr er meinetwegen alles schleifen ließ, doch sie versuchten die Geschäfte eben in jeder Möglichkeit voranzubringen, die ihnen geboten wurde. Wenn ich mal auf dem Klo war – denn da ließen wir uns ausnahmsweise allein – oder wenn wir gerade durch die Gänge liefen, dann wurde Reed immer irgendwie von jemanden beansprucht. Sicher hätte es auch mit mir an seiner Seite geklappt, wie gewohnt weiterzumachen, doch eindeutig gab es immer noch Dinge, die er vor mir verborgen hielt. Es stimmte mich nervös, ließ mich immerzu an damals erinnern, wie alles zerbrochen ist, nur dieses Mal ließ er mich nicht für Tage allein, dieses Mal wurde ich von seiner Aufmerksamkeit beinahe erdrückt und ich liebte es. Ich liebte es, wie er mir half, wenn ich drohte abzuschweifen, ich liebte es, wie er mich hielt, mich beruhigte, mir versprach, mich nie wieder zu verlassen. Er brachte mich zum Lachen, lenkte mich ab und half mir langsam meinen Kopf zu richten, die Gedanken zu ordnen. Ich stellte Fragen, wenn ich mir unsicher war, ob etwas wirklich geschehen ist und wenn ja in welcher meiner beiden Leben.
Daraus entwickelte sich ein ganzes Spiel. Er erzählte mir etwas, das geschehen ist, und ließ mich raten, wann es geschehen war. Und wann immer ich von einer neuen Erinnerung heimgesucht wurde, musste ich raten, was ich denn dachte, wann das geschehen sein könnte.
Es wurde einfacher. Ich lernte meine zwei Leben zu trennen und doch auch die Gemeinsamkeiten zu erkennen. Es war alles weniger schlimm als ich es anfangs glaubte und ich lernte zu verstehen, dass mein eines Leben nicht plötzlich vorbei war, nur weil das andere Leben nun da war.
In dieser neuen Unterkunft besuchte Hayden uns leider seltener, da Reed anfangs keinem zeigen wollte, wo er sich versteckt hielt, doch nach viel Betteln vertraute er seinem Bruder und Sam genug, um sie her zulassen. Ich verstand das Misstrauen, wir hatten in der Vergangenheit genug Leuten vertraut und es bereut. Rowan war einer von ihnen. Jedes Mal, wenn ich an ihn dachte, wurde mir schlecht, dann dachte ich an die Schmerzen, die er verursacht hatte und ich wurde unruhig, weinte, wollte rennen und Reed war da, um mich zu halten.
Bisher fehlte nur immer noch jede Spur von ihm und was genau geplant wurde, um ihn zu stoppen, wusste ich nicht. Keiner weihte mich ein, keiner sprach mit mir über solche Dinge und anfangs war ich froh drum gewesen, da ich befürchtete mein Kopf würde anderenfalls platzen, doch mittlerweile verlangte ein Teil in mir nach mehr Antworten.
„Was wird bezüglich Rowan eigentlich geplant?", fragte ich eine Woche, nachdem ich hier eingezogen war, und überraschte Reed so sehr mit der Frage, dass er sein Handy fallen ließ und mich erschrocken ansah. Ich saß auf unserem Bett und wartete, dass er irgendwelche geheimen Nachrichten verschickt, ehe wir zusammen rausgehen würden.
„Rowan?", fragte er, als hätte er den Namen noch nie gehört.
„Du weißt schon, unheimlicher Mann mit hellen Augen, zu vielen Namen, zu vielen Gesichtern."
„Ich weiß, wer Rowan ist, aber... was willst du wissen? Ich denke ja, dass du dir Ruhe verdient hast."
„Jeder von uns hat das, aber das wird ihn nicht aufhalten, also, was planst du?"
Er seufzte, hob sein Handy auf und steckte es weg, ehe er sich zu mir aufs Bett setzte.
„Kellin spürt ihn auf, zusammen mit deinen Brüdern. Wir haben eine ungefähre Ahnung, wo er sein könnte und wo er auch Iran und andere Gefangene halten könnte."
„Und wann schlagt ihr zu?"
Er erschauderte von der Frage. „Sobald wir uns im Klaren sind, was auf uns wartet. Orte, an denen Reite sich verstecken, sind oft nicht ohne."
„Rowan Haus war friedlich." Es war zumindest keine Gruft oder Folterkammer gewesen.
„Ja, weil er dort wohnte, aber wenn es um Stützpunkte geht, sieht die Sache anders aus. Es ist egal, du wirst währenddessen schön in Sicherheit bleiben und nie wieder in seine Nähe kommen."
Empört schlug ich mit einem Kissen nach ihm. „Ich will helfen! Irgendwie zumindest. Ich kann nicht nur hier sitzen und hoffen, dass ihr alle das richtet. Rowan hat mir genauso viele Schmerzen verursacht wie allen anderen auch, teilweise noch mehr als das. Ich will ihn aufhalten, ich muss ihn aufhalten!"
Fassungslos sah Reed mich an, zupfte sich eine Feder aus dem Haar. „Hast du mich gerade mit einem Kissen geschlagen?" Er hob die Brauen und ich biss mir unschuldig auf die Lippe.
„Vielleicht?" Reeds Blick verdunkelte sich und ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, das alle Schmetterlinge in meinem Bauch zum Durchdrehen brachte. Ganz langsam erhob er sich vom Bett, strich sich seine Kleidung glatt und ich beobachtete ihn dabei, wie er mich fixierte.
„Du unartiges Mädchen. Hat dir keiner beigebracht, dass man Leute nicht mit Kissen schlägt?"
„Nur wenn sie es verdienen, dann ist das sogar sehr berechtigt", konterte ich lieblich und er verengte die Augen.
„Ah, ich verdiene es also?"
„Vielleicht?" Und schon bekam ich selbst ein Kissen ins Gesicht geschlagen. Ich war so perplex von seinen schnellen Reflexen, dass ich nur lachen konnte, mich jedoch nicht so leicht geschlagen geben würde. Ich sprang vom Bett, schnappte mir eines der Kissen von diesem und suchte Abstand.
„Das war fies", sagte ich und er lachte auf.
„Du hast angefangen."
„Aber nur weil du es verdient hast. Du willst mich nicht gegen Rowan kämpfen lassen, als sei ich ein schwaches Ding", verteidigt ich mich, als er schon um das Bett auf mich zulief.
„Nein, du bist keineswegs schwach, du bist nur einfach zu wichtig. Rowan würde viel dafür geben, an dich heranzukommen. Dich so in seine Hände spielen zu lassen, wäre lebensmüde." Er schmiss das Kissen nach mir, aber ich wich aus. Kichernd sprang ich über das Bett, um ihn erneut auszuweichen und bekam dieses Mal das Kissen an den Hinterkopf geworfen.
„Andere sind auch wichtig. Du bist wichtig und du versteckst dich nicht." Ich hob sein geworfenes Kissen auf und warf es mit voller Wucht gegen ihn, doch er fing es nur auf und folgte mir mit einer fast raubtierhaften Haltung. Er wollte mich wie eine Beute einkreisen, sicher wollte er mich irgendwo auch mit dieser Masche einschüchtern und dazu bringen, nachzugeben, aber das konnte er vergessen. Ich schmiss das andere Kissen nach ihm und mittlerweile flogen die Federn durch die Luft, als ob wir gerade die Gänse frisch gezupft hätten.
Ich traf ihn mitten im Gesicht und triumphierend rannte ich von ihm weg, als er zwei Kissen gleichzeitig nach mir werfen wollte. Wir schmissen Stühle um, die Decken landeten auf dem Boden, eine Nachttischlampe fiel herunter und zerbrach nur nicht, weil sie vom Teppich gefedert wurde.
„Ich bin keineswegs wichtig, Herzblatt", sagte Reed, der mich nur erneut über das Bett jagte.
„Für mich schon!"
„Wir rührend, du Kissenmörderin, aber sei unbesorgt, Rowan will andere zuerst beseitigen, bevor ich auf seiner Liste stehe", sagte er und wich einer meiner Kissen aus. Ich wollte gerade wieder über das Bett fliehen, als er mich packte und zu Kitzeln anfing.
Unfair.
Ganz, ganz unfair.
Kreischend lachte ich auf.
„Bitte... stopp...", lachte ich und er machte erbarmungslos weiter. Ich fiel rückwärts aufs Bett und klatschte ihm erneut ein Kissen gegen den Kopf, woraufhin er zwar stoppte, nun jedoch meine Hände nach unten drückte, auf mir kauerte.
Ich musste immer noch kichern, einfach weil der Moment so schön befreiend war, weil es Spaß machte, ihn zu ärgern und weil Reed zu mir hinabsah und dabei so hell strahlte, dass es mich einfach nur glücklich machen konnte.
„Hab ich dich", raunte er und sein Blick wurde weich. Mir wurde erst jetzt so richtig bewusst, wie verdammt nahe wir uns waren. Er saß praktisch auf mir, die Beine rechts und links von meiner Hüfte und unsere Gesichter waren sich so nahe, dass ich zittrig einatmete. Mein Lächeln verschwand, ich verlor mich in seinen Augen, wusste für einen Moment gar nicht, was ich wirklich wollte.
Es war kurz, als ob nie irgendwas geschehen wäre.
Kein Schmerz, kein Verrat, keine Dramen.
„Reed?", fragte ich ihn leise, versuchte herauszufinden, was nun sein würde, was das hier zu bedeuten hatte, aber da küsste er mich auch schon. Er küsste mich und in mir drinnen prasselten tausende von Bildern ein, wie er mich in der Vergangenheit so küsste. Auf Bällen, im Wald, in Autos, auf Betten, verlassenen Gängen. So viele Küsse, so viel geteilte Liebe.
Mein Herz schmerzte, mein Bauch drehte sich und alles in mir zog sich vor Lust zusammen.
Reed stöhnte in den Kuss hinein und ließ mich nur allzu deutlich spüren, wie sehr er mich begehrte, dass er mich wollte, in dem er sein Becken gegen meines drückte und mich mit dieser Bewegung halb umbrachte. Dann erinnerte er sich wohl daran, dass wir im Moment nicht zusammen waren, dass es so viel gab, worüber noch nicht geredet wurde und er riss sich von mir, sah atemlos und verlangend zu mir hinab. Stumm fragte er mich, ob das in Ordnung war, stumm vergewisserte er sich, dass ich nicht verstört die Flucht ergreifen wollte, und weil ich ihn abwartend ansah, meine Lippen von dem Bedürfnis mehr zu bekommen aufgeregt kribbelten und mir ein Wimmern entwich nach dem Verlangen, mehr zu kriegen, senkte er seine Lippen erneut auf meine. Stürmischer, begehrender.
Unser erster Kuss nach 125 Jahren. Zumindest als Grace und Reed.
Seine Zunge drang in meinen Mund und nun war ich diejenige, die stöhnen musste, die sich ihm entgegen beugte, mehr wollte.
Mehr.
Oh, gib mir mehr.
Meine Hände bogen sich unter seinem Griff, aber er ließ nicht los, hielt mich, küsste mich hungrig und unnachgiebig. Seine Küsse erinnerten mich an so viel. Dieser vertraute Geschmack, diese vertraute Form, wie vertraut unsere Zungen sich waren. Ich sah alles wieder, ich spürte alles erneut und es verwirrte mich. Es verwirrte mich so schrecklich, dass ich froh war, als die Tür aufging und der Moment ein Ende fand, als Palina ohne anzuklopfen eintrat.
„Ohje, findet das je ein Ende?", stöhnte sie angewiderte und ganz durcheinander sah Reed zu mir, ließ endlich meine Hände los, als ob ich ihn verbrannt hätte, als ob er nun erst so ganz begreifen würde, was wir getan hatten.
Ich versuche zu atmen, ruhig zu bleiben, mich zu sammeln. Es war schwer.
„Was willst du?", fragte Reed.
„Arnold braucht dich dringend!" Sie betont das Dringend und sah ihn vielsagend an.
Fluchend erhob er sich von mir, sah mich einen Moment an, ebenfalls restlos verwirrt von dem Augenblick.
„Bleib bei Grace, ich komme sofort wieder."
„Du gehst?"
„Ich bin kein Babysitter!", schnaubte Palina.
„Ich komme ganz schnell zurück", sagte Reed an uns beide gerichtet, haute ab, bevor einer von uns ihn stoppen könnte, und dass er weg war, machte mich unruhig, sehr unruhig. Ich machte mich auf dem Bett ganz klein, sah nervös zur Tür, wolle ihm am liebsten nach.
„Hey, er kommt gleich wieder", sagte Palina außergewöhnlich sanft, als sie merkte, wie verzweifelt ich wirkte.
Kommt er das?
Ich dachte an damals, wie er mich allein gelassen hatte, wie er seine geheimen Pläne geschmiedet hatte, mich verlassen hatte.
Dieser Kuss gerade machte es nicht besser. Er hatte zu viel zurückgeholt, zu viele alte Wunden erneut geöffnet und mir gezeigt, dass ich nicht so schnell handeln durfte, dass ich nicht bereit war, über alte Fehler hinwegzusehen.
„Ich bin ja da, du bist nicht allein. Ich weiß Reed würde gern immer bei dir sein, aber du musst einsehen, dass ihr beide lernen müsst, auch kurz ohneeinander zu überleben."
„Aber ohne ihn wird alles so laut", sagte ich und hörte die Stimmen wispern, hörte, wie man nach mir rief, wie diese Wesen der Dunkelheit mich kriegen wollte, mich haben und greifen und-
„Was hast du damals getan, wenn es laut wurde und Reed nicht da war?" Palina setzte sich zu mir, lenkte mich kurz ab.
„Man hat mich ruhiggestellt... bis Reed mir ansah, wie sehr es mich quälte, danach hat man versucht mich in solchen Momenten abzulenken."
„Wie?"
„Gartenarbeit oder mit Spielen oder Musik... alles, was mir gefällt und meinen Kopf auf andere Gedanken bringt."
„Nun gut, wie wäre es mit einer Geschichte? Wolltest du nicht schon immer wissen, wie meine Kraft eigentlich funktioniert?"
Verwirrt sah ich sie an. „Siehst du nicht einfach plötzlich die Lebenslinie enden?"
Sie lachte. „Nein, ich sehe nicht einfach alles enden, ich sehe das Leben mehr als ich den Tod von Leuten sehe. Ich kann die Lebensspanne von jedem sehen, ich sehe besondere Momente und Ereignisse und wenn ich den Tod von jemanden vorhersehe, dann nur, weil in der Lebensspanne ein Schaden stattfindet. Manchmal ist dieser deutlich und klar, manchmal noch sehr ungewiss und manchmal kann der Weg weitergehen, wenn diese kleine Problematik behoben wurde."
„Du hast mich sterben sehen."
„Ja", sagte sie und atmete tief durch. „Bei dir war es anders. Ich wusste, dass du nicht nur Alice warst und habe diese so verwirrende Lebensspanne vor mir gehabt. Ich sah dich sterben, weil ich sah, dass die Spanne ein Ende findet."
„Du hattest recht", merkte ich bitter an. „Ich bin gestorben... Alice ist gestorben."
„So leicht ist das nicht. Deine Lebenslinie ist einer der komplexesten, die ich je sehen durfte. Sie ist es selbst jetzt noch. In dem Moment, wo deine Linie endete und Helena dich umbrachte, war es, als würde sie direkt an eine nächste angehängt werden. Es war sehr verwirrend das alles zu verarbeiten."
„Und jetzt? Ist mein Leben mal nicht dem Tode nahe?"
Amüsiert musterte sie mich und schüttelte den Kopf. „Zurzeit sehe ich keine unerwarteten Todesfälle."
„Was nichts heißen muss."
„Ja, was nichts heißen muss, aber es ist vermutlich besser als wieder zu erfahren, man müsste sterben."
„Ich denke, ich bin fürs erste oft genug gestorben."
Palina war eine bessere Ablenkung als ich es mir je hätte vorstellen können, dennoch vermisste ich Reed. Jede Zelle meines Körpers schrie nach ihm. Immerzu dachte ich an den Kuss, ich dachte daran, wo er nun war, was er plante. Es verwirrte mich, stimmte mich nervös und je dunkler es draußen wurde, desto schlimmer wurde es und desto weniger drang Palina zu mir durch.
„Ich würde ja sagen, ich gehe Reed suchen, damit er endlich hier ist, aber wenn ich dich allein lasse-"
„Drehe ich durch", sagte ich, wollte unter gar keinen Umständen allein sein, wenn es gleich finster draußen wäre. Das Zimmer war zwar hell erleuchtet, doch die Dunkelheit machte mir dennoch zu schaffen
„Er wird sicher gleich kommen."
Das sagte sie seit Stunden. So schnell hatte er also genug von mir. Für Tage wich er mir nicht von der Seite und nun war er gelangweilt, nun wollte er Abstand. Es war normal, natürlich war es das, aber es verletzte mich dennoch, obwohl ich dazu kein Recht hatte. Er gehörte mir nicht. Er sollte etwas Normalität haben dürfen. Ich war einfach furchtbar, ihn so für mich beanspruchen zu wollen. Ich hatte nur wohl leider geglaubt, wenn er mich küsst, würde er mich wollen, aber offenbar hatte ihn der Kuss vielleicht nur erinnern lassen, wie brüchig unsere Beziehung zum Ende hin gewesen ist, wie anstrengend ich in diesem Zustand sein konnte. Mir hatte der Kuss zumindest gezeigt, dass ich immer noch verletzt war. Wie erging es ihm dann nur? Er hatte mich vorhin immerhin sehr panisch losgelassen. Eine Freundin zu haben, die man dauerhaft pflegen musste, war anstrengend, sicher hatte er genug, sicher wollte er sich das nicht erneut antun, sich selbst so eine Bürde auferlegen. Die Tatsache zerbrach mein Herz. Ich begann zu weinen und schockierte Palina mit meinem Gefühlsausbruch.
„Oh, ich trete ihm sowas von in den Hintern. Bitte hör auf zu weinen, ich kann nicht mit anderen umgehen, wenn sie weinen", murrte sie und versuchte mich zu berühren, aber ich sprang auf, fühlte mich erdrückt, fühlte mich nicht sicher und so tat ich das einzige, was mir auch nur ein wenig helfen konnte, ich versteckte mich unter dem Bett. Es war albern. Es war sogar sehr albern, aber mein kindlicher Schutzinstinkt zwang mich dazu. Als ich noch sehr jung war, hatte ich mich immer unter dem Bett versteckt, wenn die Welt zu viel wurde, wenn meine Mutter wieder durchdrehte, Unheil geschah. Nun erschien es mir hier unten immer noch sicher, wenn alles dort draußen zu viel wurde.
So schnell konnte mein Erfolg wieder Brüche kriegen. Ich hatte mich die letzten Tage so gut geschlagen, aber ohne Reed war ich wohl immer noch kaputt. Es war ätzend. Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht so von Ängsten geplagt sein und als es hell war, hatte es ja auch irgendwie geklappt. Die Dunkelheit war das Problem. Sie würde immer das Problem sein. Irgendwann würde ich nur lernen müssen, anders damit umzugehen. Genauso würde ich lernen müssen, auch ohne Reed zu überleben. Es war nicht fair ihn so an mich zu fesseln und es tat uns offenbar beiden nicht gut. Er brauchte Abstand und ich... ich musste aufhören mein Leben in die Hände anderer zu legen. Ich wollte stark sein, ich war stark, aber dann würde ich auch versuchen müssen besser mit allem umzugehen. Das mit Palina heute war ein großer Erfolg gewesen... bis jetzt zumindest.
Ich kugelte mich zusammen, weinte und weinte und weinte und glaubte, mich würde gleich die Finsternis packen, zurück in das unendliche Loch der Trauer und Verzweiflung zerren, bis ich da berührt wurde.
„Psht, ich bin es nur", sagte Reed sanft, der neben dem Bett auf dem Boden lag, die Hand nach mir ausgestreckt hatte und mich sachte am Arm berührte. „Willst du nicht lieber raus von da unten kommen? Ich meine, ich komme auch gern zu dir, aber es ist staubig und eng da unten."
„Bist du allein?", fragte ich und er nickte.
„Nur wir zwei, keine Palina, keine Schatten, nichts sonst." Er half mir unter dem Bett hervorzukommen und wollte mich in die Arme schließen, aber ich wich von ihm fort.
„Ich schätze das verdiene ich. Es tut mir leid, dass ich so lange fort war, es ist nur..."
„Es ist in Ordnung. Du bist mir nichts schuldig. Außerdem will ich keine Lügen wie damals hören, du hast versprochen, nicht zu lügen. Du kannst machen, was du willst. Du brauchst nicht das Gefühl haben, für mich da sein zu müssen. Wir sind nicht zusammen, ich bin nicht deine Verantwortung." Ich setzte mich auf die andere Seite vom Bett und rechnete damit, dass er nun geht, ich die Nacht allein verbringen muss und dafür nur gleich wieder unter das Bett fliehen würde, stattdessen kniete er sich vor mich hin, nahm mein Gesicht in seine Hände und sah mich beinahe wütend an.
„Hör auf so etwas zu sagen! Es ist mir fucking egal, ob wir zusammen sind oder nicht, ich werde trotzdem immer für dich da sein, selbst wenn du mich hasst und verabscheust, würde ich alles geben, um dich zu beschützen und glücklich zu sehen, immer! Ich weiß ich habe viele Fehler begangen, zu viele und ich werde nichts davon je richten können, aber denk bitte niemals, dass ich dich nicht wollen könnte. Ich wollte dich schon immer, noch bevor ich dich wirklich kannte, schon als wir Kinder waren." Er presste seine Stirn gegen meine und ich schnappte erschrocken nach Luft, war wie gefangen von der Nähe, von dieser Berührung. Ich wollte ihn küssen. Bei den Göttern, ich wollte nichts lieber, aber bevor ich meinen Kopf nicht wenigstens ein bisschen mehr gerichtet hatte, die Vergangenheit ein Stück mehr aufgearbeitet hatte, wäre es verkehrt. Ich wollte nicht mit seinen Gefühlen spielen und mein eigenes Herz zertrümmern, weil alles zu viel wurde.
Ich hatte nämlich eindeutig noch so einiges an Problemen und die müsste ich Stück für Stück angehen.
„Tut mir leid. Ich bin nur... ich bin etwas durcheinander und weiß manchmal noch nicht, wie ich mit den vielen Gefühlen umgehen soll. Ich will dir keine Vorwürfe machen. Ich will nur, dass du weißt, dass es ok ist, wenn du nicht immer bei mir bist. Ich muss lernen, auch ohne dich zu überleben", hauchte ich und er wich etwas zurück, lächelte mich liebevoll an.
„Alles ist gut. Ich werde dich auch nicht belügen, das habe ich versprochen. Wir planen derzeit nur ein bisschen was wegen den neuen Informationen zu Rowan. Ich will dich einfach davon so gut es geht fernhalten. Nicht weil ich glaube, dass du schwach bist, sondern weil ich schwach bin. Ich bin nicht stark genug dich gegen ihn zu beschützen, ich bin nicht stark genug meine eigenen Ängste so weit im Griff zu haben, dass ich dich in seiner Nähe weiterhin ertrage. Aber wenn du mehr wissen willst, dann darfst du mehr wissen, aber du musst wissen, dass es schwer sein könnte das alles zu erfahren." Er küsste meine Stirn und mein Herz flatterte ganz aufgeregt. „Wir werden ihn vermutlich bald angreifen und wenn alles so läuft, wie wir es wollen, werden wir zumindest die Gefangenen befreien können und vielleicht herausfinden, wer unseren größten Verräter im Quartier sind. Es wäre ein großer Erfolg, auch wenn wir uns noch nicht der Illusion hingeben, dass wir ihn wirklich dabei erwischen werden."
„Können wir schlafen gehen?" Ich war so schrecklich müde. Seit ich als Grace aufgewacht war, konnte ich tagelang durchschlafen. Ich wollte natürlich mehr zu Rowan wissen und natürlich wollte ich helfen, aber heute war ich zu erschöpft, um weiter darüber zu diskutieren.
Ich würde morgen mit ihm darüber reden und was auch ganz wichtig wäre, wäre endlich ein Gespräch zu damals. Reed und ich müssten über das reden, was 1895 geschehen ist. Wir müssten darüber reden, wie das alles überhaupt je so weit kommen konnte. Vorher würde das mit uns nie ganz gerichtet werden können.
Zwei große Hürden.
Eine könnte bedeuten, dass wir einen Schritt näher an Rowans Untergang kommen.
Die andere, dass sich zwischen Reed und mir alles verändern würde.
„Natürlich, also auf uns Bad, Zähne putzen nicht vergessen, Liebes." Er zog mich auf die Beine und weiter ins Bad, wo er mich nicht losließ und selbst als wir später nebeneinander lagen, hielt er mich. Der Kuss wurde nicht mehr angesprochen und außer dass wir weiter als sonst voneinander entfernt lagen, deutete nichts darauf hin, dass er je geschehen war. Kaum glaubte ich, ins Land der Träume zu fallen, zog Reed mich näher zu sich, so eng, dass unsere Körper sich aneinanderschmiegten.
Ich wusste nicht, ob er dachte, dass ich schlafe oder ob es ihm einfach egal war, aber als er leise zu flüstern anfing und ich seinen Worten lauschte, wusste ich, dass es nie einen Tag geben würde, wo ich ihn nicht lieben würde.
„Ich liebe dich so sehr, Gracie. So verdammt sehr, in jeder erdenklichen Zeit. Bitte vergiss das nie."
Wörter: 4416
Aloha :) Ach ja, ein Kuss und noch mehr Drama. Die zwei müssen ganz dringend über ihre Probleme reden und über Rowan. Mal sehen wie gut dieser Plan gegen ihn klappt. Pläne gegen Rowan neigen bisher dazu, ja nicht so zu klappen wie sie es sollten, wer nur der große Verräter sein könnte, an dem das alles liegt? Eure Meinung würde mich sehr interessieren. Sonntag geht es weiter xx
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