22. Zwei Leben
"People cannot remain in dreams forever." - Nobuhiko Obayashi
Wie jeder andere auch nutzte ich jede freie Zeit, die ich besaß, um Nachforschungen zu betreiben. Bezüglich Rowan hatten Elin und ich bereits vor Wochen alle Bücher durchforstet, so dass wir eine grobe Übersicht erstellen konnten, welche von ihnen nützlich und welche purer Mist waren. Ich hatte den Fokus nun etwas verschoben. Wir waren nicht mehr darauf aus, Druckmittel gegen Rowan zu finden, jetzt ging es mehr um Hel, um das Ritual. Ich wollte wissen, wieso ich Teil davon war, ich wollte versuchen zu verstehen, was der Ursprung von allem war. Wer war Rowan? Woher kannte er Hel? Woher kannte sie mich? Was für eine Macht trug ich in mir? Was genau hatte Helena mit allem zu tun? Wieso arbeiteten die Wanderer, die eigentlich von Hades erschaffen wurden, für sie? Ich würde vermutlich keine Antwort in einer dieser Bücher finden, aber vielleicht würden sie mir kleine Hinweise geben, irgendwas, damit ich auf die Antwort kommen könnte oder zumindest wüsste, wie ich es angehen muss, um erfolgreich zu werden. So saß ich nun auch mit Elin zusammen in der Bibliothek bei mir daheim und versuchte die verschiedenen Texte zu analysieren.
„Das ist so eine Zeitverschwendung", raunte Elin, die auf dem Teppich lag, eines der Bücher aufgeschlagen auf ihrem Gesicht. Am liebsten wollte ich mich dazulegen, aber ich hatte schon genug Pausen gehabt und wollte nicht als einzige so untätig bleiben. Es ging hierbei um mich, da sollte ich mithelfen das Problem zu lösen.
„Hast du eine bessere Idee? Ich weiß leider nicht, was wir sonst unternehmen könnten."
„Einfach etwas warten. Wenn Rowan irgendwann ganz geheilt ist und wieder eine Seele hat, wird er uns sicher alle Fragen beantworten können."
„Nur wissen wir gar nicht, ob er auch alles weiß und ob das, was die anderen da mit ihm machen, auch volle Wirkung zeigen wird", sagte ich und legte das Buch in meiner Hand zur Seite. Ich befürchtete ehrlich, dass Rowan bei der ganzen Sache sterben könnte, ehe es uns gelingt, ihm eine Seele zu geben. Es wäre erfreulich, dass er dann fort wäre, aber dann würden wir nur erneut ohne Anhaltspunkte dastehen. Er war derzeit unsere größte Hoffnung auf Erfolg, aber wir konnten es uns nicht leisten, uns gänzlich auf ihn zu verlassen.
„Ich ertrage kein weiteres Buch zur Unterwelt mehr", murrte Elin und erhob sich. „Mein Kopf platzt mir langsam."
„Dann kannst du uns beiden ja sicher zur Ablenkung Tee kochen", schlug ich vor uns sah sie lächelnd an.
„Alles lieber als das hier."
Sie schlenderte davon und ich wusste, dass sie sich sehr viel Zeit lassen würde bei dieser Aufgabe. Vermutlich würde sie sich unterwegs bereitwillig von Riley ablenken lassen, um dem hier zu entgehen. Ich zwang sie nicht einmal mir zu helfen, aber sie wollte sich nützlich machen und zugleich mehr Zeit mit mir verbringen. Dass es eine öde Aufgabe ist, wusste ich. Ich konnte die Hälfte der Wörter schon gar nicht mehr verarbeiten. Wenn ich ein Buch aufschlug, sah ich nur noch einen Haufen an Buchstaben und meine Konzentration war gänzlich verschwunden. Ich wusste nur nicht, was ich sonst machen sollte. Wäre ich bei Reed, würden wir uns gegenseitig ablenken, also blieb ich lieber hier und versuchte mein Glück auf eigenen Weg.
„Was genau erhofft ihr euch hierbei zu finden?" Ich sah auf, als mein Vater, Björn, zu mir lief und den ganzen Haufen Büchern um mich herum musterte. Es war immer noch sonderbar, dass sie alle hier zusammenlebten, aber ich war so glücklich sie sehen zu können. Ich war gern hier bei ihnen allen, auch wenn es manchmal alles erdrückend werden konnte. So viele Menschen zusammen war anstrengend, aber ich liebte jeden einzelnen von ihnen und ich war froh, dass sie sicher in diesem Haus waren.
„Ich weiß es ehrlich nicht wirklich", seufzte ich und schlug das Buch in meiner Hand wieder zu. „Ich brauche einfach Antworten. Du hast nicht zufällig ein großes Wissen über Todesgötter und Reiter?"
Er musste lachen und setzte sich auf einen Sessel. „Nein, ich weiß zwar ein wenig was durch Helena, aber ob es Wissenswert ist?"
Manchmal vergaß ich, dass die beiden einst ein Paar waren. Es war dumm von mir, immerhin wäre er ja kaum mein Stiefvater, wenn er nicht einst mit meiner Mutter zusammen gewesen wäre, aber das alles war so lange her... Außerdem liebte ich es ihn so glücklich mit Fulda zu sehen. Sie waren füreinander geschaffen worden.
„Kannst du es mir erzählen? Kannst du mir mehr über sie erzählen? Wie war sie früher?" Irgendwas an ihr musste ihn ja fasziniert haben, sonst hätten sie nicht geheiratet, sonst hätten sie nicht Alec bekommen, sonst hätte er ihr nicht den Seitensprung verziehen und mich als Tochter mit großgezogen. Ich hatte diese blinde Liebe von ihm nie verstehen können und damals hatte ich nie gefragt.
„Helena war damals eine bemerkenswerte Frau. Als ich sie kennen lernte, war sie frisch aus der Schule raus, sie war eine begnadete Wächterin der Magie mit einer vielversprechenden Zukunft gewesen. Ich habe lange um ihr Herz kämpfen müssen. Sie war so ambitioniert, so stur. Nichts und niemand war gut genug für sie, aber ich habe sie am Ende für mich einnehmen können. Mittlerweile weiß ich, dass es ihr letztendlich nie um mich ging, sondern nur um das verlängerte Leben, das ich ihr als jemand aus der Linie der Zeit schenken konnte. Sie war schon immer besessen von Macht und Kraft gewesen und ich war so geblendet von ihrer Schönheit, ihrem Charme und ihrer Abenteuerlust gewesen, dass ich es nicht erkannt hatte."
„Sie ist gut darin, andere zu täuschen", murmelte ich. Sie hatte Ewigkeiten allen eine heile Familie vorgetäuscht. Sie hatte allen eine Ewigkeit vorgespielt, sie wäre tot, sie wäre schwach...
„Ja, das ist sie. Als Alec kam war ich überglücklich. Wir waren endlich eine Familie, wir hatten ein Kind. Es war das perfekte Glück für uns beide, aber sie... sie war enttäuscht, dass er nicht ihr Blut hatte, ihre Kraft, dabei hätte sie wissen müssen, dass Kinder solcher Bindungen immer die Zeitgene erben. Als sie dann einige Jahre später mit dir schwanger wurde, hat sie mir gleich vorweg erzählt, dass du anders sein wirst, weil du nicht von mir warst. Es hat mich erschüttert, wie leicht es ihr fiel das zu sagen. Ich war wütend, so wütend und enttäuscht. Ich verlangte zu wissen, wer dein Vater sei, und sie erzählte mir von einem Reiter aus der Linie des Todes. Sie hat dich geliebt, bevor du geboren wurdest. Sie hat die ganze Schwangerschaft von dir geschwärmt, als ob du ihr Wunder wärst, ihr ein und alles. Es hat mich damals etwas krank gemacht, dass sie imstande war dich so zu lieben, während unser gemeinsames Kind nie etwas dergleichen erfahren durfte."
„So hat sie mich nie behandelt", sagte ich bitter. Mein Leben bei Helena war nie schön und voller Liebe gewesen. Nicht eine Sekunde. Es war schwer vorstellbar, dass es wirklich einen Moment gegeben hatte, in dem sie mich aufrichtig liebte. Was hatte ich ihr je getan, um ihre Liebe so früh zu verlieren?
„Nein, weil du ihr beinahe weggestorben wärst. Kinder aus Bindungen von Reitern und Wächtern gelten immer noch als Risiko. Es ist gegen die Natur göttliches und dämonisches Blut so zu vermischen, was ihr egal war. Sie war das Risiko bewusst eingegangen und es hätte dich beinahe dein Leben gekostet. Sie band dich also an die Linie der Noirs, schenkte dir Leben und rettete dich damit. Ich weiß nicht, was sich veränderte. Du warst da und sie liebte dich so sehr und dann irgendwann wurde es anders. Während sie dich an einem Tag nicht für eine Minute aus den Armen geben wollte, wollte sie dich am nächsten nicht einmal ansehen. Ich war in der Zeit so verwirrt gewesen. Ich hatte dich anfangs nicht haben wollen. Nur aus Liebe zu Helena habe ich dich überhaupt akzeptiert zu Beginn, aber dann lagst du da, schreiend in deinem Kinderbett und sie wollte dich nicht eines Blickes würdigen, also nahm ich dich hoch und du wurdest plötzlich ganz still. Aus diesen riesigen blauen Augen sahst du mich an und ich wusste einfach, dass ich dich immer lieben würde, dass es egal war, ob du mein Blut warst oder nicht. Du warst meine Tochter und ich würde alles für dich sein, alles für dich tun." Er ergriff meine Hand und drückte sie sanft, während ich zwanghaft Tränen weg blinzelte. Ich schätzte mich so glücklich, ihn zu haben, dass er immer für mich da gewesen war. Er war der tollste Vater überhaupt.
„Weißt du auch... weißt du, was sie von mir wollen könnte? Sie tat so, als ob sie mich mit ihren Taten schützen wollte, aber eigentlich will sie auch nur etwas anderes von mir."
Mein Vater lehnte sich mehr zurück, strich sich übers Gesicht und schüttelte leicht den Kopf dabei. „Du sagst, sie arbeitet mit den Wanderern?"
„Die Wanderer arbeiten für sie, was so schräg ist. Die Wanderer sind irgendwelche Handlanger von Hades, wieso sollten sie gemeinsame Sache machen?"
„Diese Göttin, Hel, sie will dich wegen irgendeiner Kraft in dir. Wenn Helena mit Hades' Gefolge zusammenarbeitet, dann nur weil sie Hel stoppen wollen, weil sie entweder diese Kraft von dir Hades geben wollen oder etwas anderes im Schilde führen. Helena war schon immer sehr von Hades fasziniert gewesen. Sie war nicht nur eine Wächterin der Magie, sondern auch eine Hexe, sie ist immer noch eine Hexe und Hexen sind sehr, sehr eng mit der Unterwelt verbunden. Dass dein leiblicher Vater ein Todesreiter ist, die Linie, die von Hades erschaffen wurde, war ihr offenbar sehr wichtig gewesen, um dich zu zeugen. Liebe oder Zuneigung hatte sie für den Mann zumindest nie empfunden. Er war wie ich mehr Mittel zum Zweck gewesen."
Das klang, als ob er annehmen würde, Helena hatte mich unbedingt aus dem Blut eines Todesreiters erschaffen wollen. Was für eine Absicht hatte sie damit verfolgt? War sie so enttäuscht von mir gewesen, weil ich am Ende wie Alec auch nicht nach ihr gekommen war oder nach der Kraft meines leiblichen Vaters?
„Also läuft am Ende alles auf den Konflikt zwischen Hades und Hel hinaus", sagte ich und versuchte darin mehr Antworten zu finden. Ich dachte an meine letzte Konfrontation mit beiden zurück, an das verpatzte Ritual. Ich hatte mir sehr viele Gedanken zu diesem Tag gemacht, notgedrungen dank der vielen Albträume.
Das Ritual sollte Hel ihre Macht zurückgeben. Es sollte helfen, dass sie stark wird, dass sie sich gegen Hades und dessen Herrschaft auflehnen könnte, wofür sie unbedingt meine Kraft braucht, weil ich diese auf irgendeine Weise von ihr gestohlen hatte.
Hel war die Göttin des Todes aus der nordischen Mythologie. Ich hatte jeden einzelnen Schritt des Rituals in meinem Kopf analysiert. Der Tod Irans durch die Hand ihrer Schwester, die wiederum vergiftet durch eine Stimme wurde, die nicht ihre eigene war. Es war wie eine Geschichte der nordischen Mythologie. Der Gott Baldur, ein Sohn Odins, er starb durch die Hand seines Bruders, der durch die boshaften Worte Lokis dazu getrieben wurde.
Hel hatte das Blut ihres treuen Dieners gebraucht, Blut, das aus der Unterwelt stammte und Macht des Nordens besaß, also Rowans Blut.
Und sie brauchte mein Leben, weil ich ihre Kraft gestohlen hatte. Nordische Kraft.
Ich dachte an den Mann zurück, den ich während meiner Panik beim Ritual gesehen hatte. Diesen Gott, der die Blitze am Himmel zur Rettung schickte. Es war nämlich nicht Malia gewesen, die den Himmel Donnern und Beben ließ. Es war ein Gott gewesen, der auf meine inneren Hilfeschreie geantwortet hatte. Der Gott des Donners. Thor.
Wieso sah ich eine Gottheit, mit der ich nicht verbunden war? Wieso war ich Teil eines Konflikts zwischen Göttern, zu denen ich keinen Bezug besaß?
Sich an ein vergangenes Leben zu erinnern, kann sehr gefährlich sein.
War das nicht etwas, was ich so oft gehört hatte?
Als Alice sich an Grace zu erinnern, hatte mich alles gekostet.
Im Grunde weißt du die Antwort längst. Rowan hat es dir gezeigt, als er... als er mich zerbrochen hat.
Das waren Kellins Worte gewesen. Ich kannte die Antwort längst. Rowan hatte mich so sehr gefoltert, mir Sachen gezeigt, die ich vergessen hatte, die Teil eines Lebens waren, das nicht länger mir gehörte, und ich verstand es endlich. Ich verstand, was das zu bedeuten hatte.
Reed fand mich eine Stunde später im Irrgarten, wo ich auf der Schaukel saß, zu dem bewölkten Himmel hinaufblickte und den kühlen Wind auf meiner Haut spürte. Ich sah hinauf und fragte mich, wer von einer anderen Welt zu uns hinabblickt, wer dort draußen war und mich vielleicht vermisste. Ich wollte mich so gern erinnern. Ich wollte so gern wissen, wer ich war, woher ich kam.
„Ist dir dein Kopf beim Lesen zerplatzt?", fragte er mich und ich sah zu ihm. Er merkte, dass etwas los war. Ich hatte ihn geistig abgeblockt und meine ganze Haltung verriet mich.
„Ein wenig."
„Ich hoffe, dein Kopf hält noch etwas mehr aus. Ich denke du weißt, dass wir beide reden müssen." Er lief auf mich zu und blieb vor mir stehen, wo er mir eine Locke hinters Ohr strich und mein Gesicht zärtlich streichelte. Ich schmiegte mich an seine Berührung, atmete tief durch. Ich war bereit für dieses Gespräch. Ich würde nicht mehr zerbrechen. Ich hatte es selbst herausgefunden.
„Wirst du ehrlich sein?"
„Keine Lügen und Geheimnisse mehr. Die Zeit ist abgelaufen, um noch irgendwelche Geheimnisse zu haben."
„Dann sag mir Reed... sind wir Götter?"
Er lächelte mich bitter an. „Ja. Du und ich, wir waren einst vor langer Zeit Götter, ehe wir gefallen sind."
Wörter: 2221
Aloha :) Ich hoffe es hat euch gefallen. Ich denke das Ende haben sich einige von euch schon zusammengereimt. Mal sehen, was Reed zu sagen hat. Sonntag geht es weiter xx
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