19. Auf Suche
"I have crossed oceans of time to find you." — Bram Stoker
Zwei Wochen nach unserem Ausflug in die Vergangenheit gab es endlich einen Fortschritt beim Entschlüsseln der Dokumente. Kol hatte sein Werk nicht gerade leicht übersetzbar verfasst. Vermutlich hatte er die Absicht gehabt, mehr Zeit zu haben, um jemanden alles zu erklären, leider war ihm das nicht vergönnt gewesen und so hatten die anderen auf die harte Weise seine verschiedenen Verschlüsselungen übersetzen müssen. Sie kamen dabei nur langsam voran, aber einen kleinen Fortschritt gab es offenbar.
„Also, so wie wir das jetzt übersetzt haben, könnte tatsächlich einer der Texte helfen, gegen Rowan vorzugehen", sagte Arnold, der die meiste Arbeit getan hatte und kaum mehr richtig schlief, so sehr war er von den Dokumenten gefesselt. Er schob seine Brille weiter zurück und wirkte unruhig, als ob die Informationen, die er mit uns teilen wollte, nicht gut wären.
Welch Wunder.
Wir waren im kleinen Kreis versammelt. Nur Reed und seine Brüder, Malia, Paul, Acyn, Riley, Sam und ich waren anwesend. Besprechungen wie diese in der großen Runde zu führen, war zu aufwendig und wir hatten nicht die Zeit dafür.
„Das Ziel ist es ihn zu vermenschlichen", sprach Arnold weiter und sofort zog ich die Stirn kraus.
„Was bedeutet das?", fragte Sam und lehnte sich auf seinem Stuhl weiter vor.
„Gerade eben ist Rowan ein praktisch seelenloses Geschöpf. Laut den Aufzeichnungen gehört er zu einer der ersten erschaffenen Reitern. Er ist der erste seiner Linie gewesen und anscheinend sind diese ersten vier Reiter der großen Linien besonders mächtig, aber dafür auch besonders boshaft. Sie besitzen keine Seele. Erschaffen in der Unterwelt war es notwendig ihnen diese Seele zu nehmen, um sie zu dem zu machen, was sie nun sind."
„Nicht alle Reiter sind seelenlos", sagte Paul beinahe anklagend, als ob er diese Annahme beleidigend finden würde.
„Keineswegs", beruhigte Arnold ihn sofort. „Nur die ersten vier sind es. Sie waren einst der Inbegriff reiner Seelen, ehe sie zu dem wurden, was sie nun sind."
„Soll das heißen, Rowan hatte einst eine Seele?", fragte Malia. Schwer vorstellbar. Der Rowan, den ich kannte, besaß keinen Funken Reue, keine Menschlichkeit. Ich hatte darüber einst anders gedacht, immerhin hatte ich ihn kennen lernen dürfen, da war er so normal gewesen, so gut, aber wie viel davon je echt gewesen war, würde ich wohl nie herausfinden.
„Und soll das heißen, es gibt noch drei weitere seiner Sorte dort draußen?", fragte Hayden und ich erschauderte von der bloßen Vorstellung, dass noch drei weitere Rowans dort draußen lauern könnten. As ob wir nicht schon genug Probleme hätten.
„Ja und nein", antwortete Arnold auf die Fragen. „Wenn das, was hier steht, stimmt, war Rowan einst eine Gottheit. Es ist eine Vermutung, die wir im Quartier auch schon länger hegten, dass die Reiter ähnlich wie wir Wächter von den Göttern abstammen, jedoch von verdammten Göttern. Laut der Übersetzung dieser Texte sind es mehr Götter, die ihre Seelen freiwillig aufgegeben haben. Was aus den anderen drei Reitern der ersten Linien wurde, weiß ich nicht wirklich. Cassy, die erste Reiterin der Linie des Todes, ist mehr eine alte Legende als Realität, oder so vermutet man es. Zumindest ist sie seit tausend Jahren fort und von den anderen beiden Reitern hat man ebenfalls Ewigkeiten nichts gehört. Selbst Rowan war mehr Legende als Realität, ehe Hel ins Spiel kam."
Beruhigend zu wissen, dass die anderen drei Reiter keine Gefahr darstellten. Hoffentlich bleibt das auch dabei. Über Cassy hatte ich zu viele verschiedene Geschichten gehört, wie viele davon wahr waren, blieb offen. Eine lange Zeit glaubte ich, Reed würde sie von den Toten zurückbringen wollen, da ein alter Glaube besagte, sie würde jedem, der ihr zur alten Macht zurückhilft, einen Wunsch erfüllen. Ich bezweifelte, dass es wirklich so war, aber so ganz verstanden hatte ich die Geschichte rundum diese sagenumwobene Reiterin sowieso nie. Ich wusste nur, dass sie mächtig gewesen ist und dass eine Person aus meiner Linie sie tötete. Wie mächtig die anderen Reiter waren, wusste ich nicht und ich wollte es mir auch gar nicht vorstellen müssen.
„Wer würde etwas so irrsinniges machen?", fragte ich entsetzt von Arnolds Worten „Wer würde seine Göttlichkeit freiwillig aufgeben?" Und dann für so etwas? Eine Gottheit zu sein war doch schon das oberste der Nahrungskette, wieso würde jemand das für so ein verdammtes Leben aufgeben?
Nachdenklich sah Reed zu mir.
„Für den richtigen Preis...", murmelte er leise, als ob er diese Entscheidungen nachvollziehen könnte. Das war irrsinnig. Selbst wenn der Preis gut war, ohne Seele wäre es bedeutungslos.
„Ok, ok, ok", sagte Kellin und erhob sich dabei. „Es ist also möglich diese Seele zurückzubringen?"
„Ob es ganz möglich ist, bezweifle ich ehrlich, aber es ist machbar, ihm Teile davon zurückzugeben."
„Mit welchen Sinn?", fragte Acyn. „Wieso würde uns das irgendwie helfen? Dann hat er ein Gewissen und weiter?"
„Es wird ihn quälen. Wenn jemand tausende Jahre an Sünden gelebt hat und plötzlich ein Gewissen kriegt... es wird ihn zerstören, aber das ist gar nicht einmal die größte Absicht. Wenn er ein Gewissen kriegt, kann er uns helfen. Er weiß genug über Hel, um sie aufzuhalten. Er könnte wissen, wie man alles stoppt und mit einer Seele wird er vielleicht seine Fehler bereuen, dann wird er hoffentlich versuchen, etwas von seinen Sünden zu bereinigen."
Es war eine absurde Vorstellung, dass Rowan uns freiwillig helfen sollte, aber wenn das mit der Seele wirklich klappt... es könnte tatsächlich funktionieren. Es wäre zumindest ein Versuch wert.
„Und wie kriegt er seine Seele zurück?", fragte ich deswegen interessiert und Arnold sah von mir zu Malia, die sich sofort auf ihrem Stuhl anspannte.
„Was hat sie damit zu tun?", fragte Kellin scharf und setzte sich neben sie hin, ergriff ihre Hand.
„Ähm... nun ja, es sieht so aus, als ob die Macht der ersten Reiter an jeweils eine Person gebunden wurde. Diese Person ist sozusagen die Achillesferse des Reiters, es ist wie ein Ausgleich für all die Macht und Stärke, die nicht von irgendwoher kommen kann und da Rowan sehr verrückt nach Malia ist und mit ihr so viel stärker und gefährlicher ist, nehme ich stark an, dass es sich bei ihr um diese Person handelt." Verlegen kratzte Arnold sich am Nacken und mir wurde ganz kalt. Ich sah zu Kellin, der wie erstarrt auf seinem Platz saß und sicher wie ich auch an das Gespräch vor vielen Wochen zurückdachte, das wir mit Helena Aasen in der Vergangenheit geführt hatten. Sie hatte uns gewarnt, dass wir Rowan stoppen könnten, wenn Malia dafür stirbt. Sie hatte uns von dieser Bindung erzählt.
„Das ist verrückt", lachte diese. „Ich bin erst paar Jahre auf dieser Welt und er lebt seit tausenden von Jahren."
„Aber er hat dich immer gesucht", merkte Reed an. „Schon damals. Er war immer auf der Suche nach dir, selbst vor deiner Geburt wusste er, dass du irgendwann kommen wirst und dass er dich brauchen wird."
„Aber das ergibt keinen Sinn", sagte sie und sah hilfesuchend zu Kellin, wo ihr Lächeln verschwand, als sie sein Gesichtsausdruck bemerkte. „Was verschweigst du mir, Kellin?"
„Arnold hat recht", sagte ich und nahm Kellin die Last ab, dieses Geständnis zu machen. Ich hatte ihm zwar versprochen es niemanden zu sagen, aber ich bezweifelte, dass einer der Anwesenden Malia nun töten würde, vor allem mit Rowan eingesperrt. Er war im Moment keine aktive Bedrohung mehr.
„Als du noch bei Rowan warst als Gefangene, reisten Kellin und ich in die Vergangenheit und suchten meine Mutter Helena auf. Sie wusste genau, was Rowan war... sie hat ihm damals gesagt, in welcher Zeit und an welchem Ort er dich in der Zukunft finden wird, also erhofften wir uns, dass sie vielleicht wissen könnte, wie man ihn stoppt. Sie sagte, dass du sterben müsstest, weil er an dich gebunden ist, weil er durch dich Kraft kriegt und stark ist."
Alle Anwesenden wirkten entsetzt über diese Neuigkeit, am meisten jedoch Malia, die blass geworden ist und ihre Hand von Kellin losriss.
„Und du hast das vor mir geheim gehalten?", fragte sie fassungslos.
„Ich wollte es dir sagen", sagte er. „Aber du warst nicht da und dann hatte ich dich wieder und das nächste Drama stand vor der Tür."
„Ausreden", sagte sie gereizt und ich sah ihr an, wie verletzt sie war. Sie erhob sich und wirkte überfordert, so dass ich ebenfalls aufstand und zu ihr lief.
„Bei allem, was los war, hatte jeder von uns zu viel anderes im Kopf gehabt", sagte ich entschuldigend. „Er wollte es dir sagen, wirklich, aber..."
„Aber was? Das alles ist doch irrsinnig! Wie kann er derart an mich gebunden sein? Als er erschaffen wurde, gab es mich doch nicht einmal!", sagte sie leicht hysterisch und ich verstand die Warnung von Kellin, die er mir damals gegeben hatte. Sich an ein vergangenes Leben zu erinnern, kann einen zerstören. Was für eine Vergangenheit besaß Malia, an die sie sich nicht erinnern konnte? Laut Helena war sie einst eine Göttin gewesen. Was war geschehen, dass sie nun hier als Mensch saß? Was wusste Kellin? Ich bezweifelte stark, dass er alle Karten auf den Tisch legte. Die Wentworths liebten ihre Geheimnisse und nicht einmal Malia blieb dabei verschont, auch wenn ich nachvollziehen konnte, wieso er das tat. Nach allem, was ich erleben musste, waren Lügen manchmal besser.
„Prinzessin, du weißt, dass Zeit ein eigenartiges Konzept ist", sagte Kellin, der auch aufstand und zu ihr lief. „Wieso bist du meine Seelengefährtin, obwohl du auch erst viele Jahre nach mir geboren wurdest? Es ist irrelevant."
„Ist es nicht!", sagte sie verzweifelt. „Ich bin an dieses Monster gebunden." Abscheu lag in ihrer Stimme und ich verstand sie. Ich war nicht an Rowan gebunden, aber wäre ich es, würde ich mich auch fragen, womit ich es verdient hätte, die Machtquelle eines Monsters zu sein.
„Was verständlicherweise scheiße ist", mischte Sam sich in das Dilemma ein. „Aber das Gute ist doch, dass wir durch dich ihn auch stoppen können." Er grinste breit, als ob das perfekt wäre, was Malia anders sah. Sie wirkte immer noch erschüttert, verärgert und als Kellin sie berühren wollte, wich sie von ihm fort und setzte sich mit verschränkten Armen hin.
„Was genau muss sie denn machen?", fragte Paul und alle sahen wieder zu Arnold, während ich mich auch langsam niederließ.
„Ihr Blut ist fürs erste für mich wichtig. Ihres und das von Grace."
„Bin ich auch an ihn gebunden?", fragte ich schrill und er schüttelte den Kopf.
„Dein Blut hat... andere Gründe." Er sah unsicher zu Reed und so wie dieser das Gesicht in den Händen vergrub, ahnte ich, dass es hierbei um eines der Geheimnisse ging, die er noch vor mir hatte. Er hatte mich gewarnt, dass es noch welche gab und ich hatte das akzeptiert.
„Was passiert dann?", fragte ich und versuchte gar nicht erst die Antwort auf dieses Geheimnis zu kriegen. Nach allem, was das letzte große Geheimnis für Ärger gemacht hatte, wollte ich es nicht darauf ankommen lassen.
„Mit einigen Formeln ist das Ziel es ihm irgendwie einzuflößen. Angeblich soll nach einigen Tagen, wo diese Prozedur wiederholt wird, erste Ziel erkennbar sein."
Ich seufzte leise, sah zu Malia, die sich nicht querstellen würde. Sie war sauer und erschüttert über diese offengelegte Tatsache, aber sie würde alles geben, um Rowan aufzuhalten. Genau deswegen hatte Kellin das geheim halten wollen. Sie war bereit alles zu geben... notfalls ihr eigenes Leben.
Malia und ich hatten Arnold eine kleine Spende Blut gegeben. Bis es Ergebnisse geben würde, müssten wir warten und da Kellin sehr scharf darauf war, Malia wieder glücklich zu sehen, wollte er in der Zwischenzeit ihren Wunsch erfüllen eine Schneeballschlacht zu veranstalten. Da wir Anfang November hatten und es mittlerweile zwar unglaublich kalt war aber nach wie vor kein Schnee in Aussicht war, machte er sich die Mühe ein geeignetes Datum zu suchen, in das wir reisen könnten, um etwas Schnee zu genießen und am besten unbemerkt zu bleiben. Mir war nicht unbedingt nach Spielen im Schnee, besonders so lange Reed und ich immer noch eine eigenartige Distanz die meiste Zeit am Tag einhielten, aber vielleicht würde etwas Schnee uns allen guttun. Malia zumindest fand ihr Lächeln wieder, als Kellin perfekt organisiert zu uns kam und von seinen Plänen berichtet. Er hatte ihr sogar einen rosafarbenen Schneeanzug gekauft, in dem sie nun aussah wie ein lebensgroßer pinker Marshmallow. Ich selbst trug einfach eine dicke Winterjacke, Handschuhe, Mütze und Schal und selbst Reed hat sich zu solch dickeren Kleidung überreden lassen. Es war witzig ihn so dick eingepackt zu sehen, es ließ ihn gleich jünger aussehen und deutlich weniger gefährlich.
„Lachst du mich aus?", fragte er mich tadelnd, als wir zu viert in den Irrgarten liefen. Kellin meinte im Winter 1800 wären unsere beiden Familien nicht in London gewesen und es hatte enorm viel Schnee gegeben, weswegen es das perfekte Jahr für unser Vorhaben wäre.
„Ich würde dich niemals auslachen", sagte ich und unterdrückte krampfhaft ein Grinsen, aber er sah so knuffig aus, dass ich nicht anders konnte als bei seinem Anblick zu Lachen.
„Ich glaube dir kein Wort", schnaubte er und musste selbst grinsen.
„Du kannst es im Schnee austragen", sagte Kellin, der sich als einziger nicht dazu bereiterklärt hatte, sich dick einzupacken. Er meinte ein Mantel und Handschuhe würden ausreichen. Das will ich sehen.
„Oh ja, wir Noirs gegen euch Wentworths", sagte Malia begeistert und eilte zu mir. „Grace und ich werden euch zu Boden trampeln."
„Bitte wisst, dass wenn ihr siegt, es nur daran liegt, dass Kellin mich an einen Baum festkettet, um zu verhindern, dass ich Malia mit Schnee bewerfe", merkte Reed an und diese sah empört zu Kellin.
„Das wirst du nicht machen!"
„Soll das heißen, mich würdest du bereitwillig angreifen?", fragte ich herausfordernd und Reeds Grinsen wurde nur noch breiter.
„Solange bis du unter mir liegst." Seine Stimme hatte einen rauen Ton angenommen und als er kurz auf meine Lippen sah, wurde mir ziemlich heiß unter meinen vielen Schichten an Kleidung.
„Na gut, ich werde zulassen, dass mein kleiner Bruder dich angreift, aber weine nicht, wenn du Schnee ins Gesicht kriegst", sagte Kellin und Malia streckte ihm die Zunge heraus.
„Ich bin kein Kind!"
„Nein, nur ein übergroßes rosa Plüschtier", murmelte Reed und bevor wir noch vor der eigentlichen Schlacht das Streiten anfangen konnten, reisten wir ins Jahr 1800, wo wir gleich von einer unglaublichen Kälte erwartet wurden. Kellin hatte gut recherchiert. Ich kippte fast um, so hoch war der Schnee hier, und der Wind wehte einem eiskalt um die Ohren. Es war mittags, aber bei dem stetig fallenden Schnee war die Sonne nicht in Sicht.
„Kalt?", fragte ich Kellin neckend, da selbst mir schon kalt wurde, während er jedoch keine Mine verzog. Manchmal bezweifelte ich, dass er ein echter Mensch sein konnte.
„Milder Wind", antwortete er schulterzuckend und ich schnaubte.
„Ok, ihr zwei bleibt hier und Grace und ich suchen uns einen Stützpunkt. In genau zehn Minuten geht es los, bereitet euch vor." Lachend packte Malia mich an der Hand und zog mich durch den hohen Schnee.
Wir liefen zu dem Platz, wo der Baum stand, der bei dem Wetter alle Blätter verloren hatte. Alles in mir schrie danach, den eingefrorenen Garten zum Leben zu erwecken, aber ich benahm mich und ließ die Pflanzen schlafen.
„Keine Gnade, Grace", sagte Malia warnend, als sie anfing, Schneebälle zu formen, und ich lachte auf. „Du nimmst das ziemlich ernst."
„Ich habe viel meiner Kindheit verpasst und die letzten paar Jahre bestanden zwar aus vielen Abenteuern, aber keine so simplen wie dieses hier, das muss nachgeholt werden."
Ich hatte unzählige Schneeballschlachten gehabt. Mit meinen Brüdern, damals mit meinen Freunden. Ich hatte immer Spaß gehabt und ich wollte, dass Malia auch Spaß hatte, also nahm ich das hier sehr ernst. Nach der erschreckenden Neuigkeit zu Rowan verdiente sie dieses Bisschen an Freude und sie war gut abgelenkt, das würde ich nicht ruinieren.
Es war zusammenfassend brutal. Malia machte keine halben Sachen und mit ihrer Kraft das Wetter zu beeinflussen, waren die Männer uns schutzlos ausgeliefert. Ich fing nach nur wenigen Minuten des Rennens, Verstecken und Schneebälle formen das Schwitzen an. Da Kellin anfangs zögernd war Malia mit Schnee zu bewerfen, schafften wir beide es ihn derart zu attackieren, dass seine Vorderseite aus Schnee bestand und was ihn erst antrieb, sich auch mal gegen seine Partnerin zu wehren. Während er nun für ein persönliches Vendetta Malia durch den Irrgarten jagte und ich ihr Lachen in der Ferne hörte, hatte ich Reed als Ziel gesetzt. Dieser hatte sich unbemerkt davongeschlichen, aber bewaffnet mit je einem Schneeball in den Händen, lief ich vorsichtig um jede Ecke des Labyrinths, das ich in und auswendig kannte. Es hatte zu schneien aufgehört, wodurch es leicht war die Fußabdrücke zu verfolgen und gerade eben ging ich einem Paar nach, das Reed gehören musste. Nur er war hier auf dieser Seite des Gartens. Ich versuchte so leise wie möglich zu ein, was schwer war, wenn der Schnee unter meinen Schuhsohlen bei jedem Schnitt Geräusche machte. Reeds Abdrücke gingen um die nächste Ecke und ich wusste, dass sich dahinter eine Sackgasse befand. Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Nun hätte ich ihn.
„Erwischt!", rief ich und warf den ersten Schneeball, der gegen die Hecke krachte, denn Reed war nicht da. Wo war er? Wie konnte er...
„Oh nein", sagte ich, als mir mein Fehler bewusstwurde, aber da war es zu spät.
„Direkt in meine Falle gelaufen. Ich bin enttäuscht, Herzblatt", sagte Reed, der hinter mir stand, wohl durch die Zeit gesprungen war, um mich derart austricksen zu können. Ehe ich mich versah, knallte einer seiner Schneebälle gegen meinen Bauch und gerade so konnte ich mich vor der nächsten Kugel ducken.
„Du Mistkerl", zischte ich und verstand Malias Ehrgeiz. Ich wollte gerade auch nichts lieber als Reed eine Ladung Schnee ins Gesicht pressen und anders als er hatte ich noch einen Schneeball.
„Oh oh", sagte er amüsiert, als er meinen Kampfgeist erblickte und rannte weg und ich ihm nach. Mit voller Wucht schmiss ich den Ball und traf ihn an der Schulter. Empört drehte er sich beim Rennen um und stolperte kurzerhand über die Schneemaßen, und da ich zu schnell war und nicht rechtzeitig bremste, fiel ich geradewegs auf ihn drauf.
„Ich wollte eigentlich, dass du unter mir liegst", sagte Reed und lachte atemlos auf, als ich ihm mit meinem Gewicht die Luft aus den Lungen presste.
„Dann hättest du besser sein müssen", sagte ich neckend und war beinahe geblendet von seinem Lächeln. Seine Wangen waren herrlich gerötet von der Kälte und dem Rennen. Seine Mütze war verrutscht und gab einige dunkle Strähnen preis. Ich stützte mich mit meinen Händen im Schnee neben ihm ab und nur weil wir beide so viele Kleidungsstücke trugen, spürte ich ihn unter mir kaum, trotzdem wurde mir warm, noch wärmer als sowieso schon.
„Malia ist kein guter Einfluss für dich. Sie war damals viel stiller. 15 Jahre zusammen mit meinem Bruder haben ihr nicht gutgetan."
„Ich denke es hat ihr sehr gutgetan", erwiderte ich. Ich wusste zwar nicht, wie sie damals war, aber wenn sie jetzt so voller Leben war, konnte es nur eine gute Entwicklung gewesen sein.
„Wir Wentworth-Männer haben eine magische Nähe, die aber auch schlechte Einflüsse mit sich bringt."
„Ihr seid einfach nur unfassbar arrogant und selbstverliebt."
„Ich denke genau dafür liebt man uns so sehr." Er grinste mich frech an und spielte mit einer meiner Locken, die bei dem Wetter an Form verloren hat. Sein Lächeln wurde etwas schwächer.
„Erinnerst du dich daran, wie viel Zeit wir hier verbracht haben? Manchmal kommt es mir so vor, als hätten wir ein ganzes Leben hier drinnen gelebt."
„Wir haben uns hier kennen gelernt", sagte ich und dachte daran zurück, wie ich ihn als Kind das erste Mal in diesem Garten traf. Damals hatte ich nicht verstanden, dass ich durch die Steinplatte im Irrgarten ein Schlupfloch in der Zeit gefunden hatte und unbemerkt meine eigene Zeit verlassen und in die Vergangenheit zu ihm gegangen war. Es war, als ob seine Seele schon damals nach meiner gerufen hätte, so dass ich selbst die Regeln der Zeit außer Gefecht gesetzt hatte. Ich verstand es bis heute nicht so ganz und damals noch so viel weniger.
„Ich weiß, dass du geweint hast", sprach ich weiter und er schnaubte.
„Ich habe nur mit den Augen geschwitzt."
„Genau. So nennt man das also." Ich verdrehte die Augen. „Du hast wegen Hayden aus deinen Augen geschwitzt und ich dachte mir nur, was für ein eigenartiger Junge du bist, weil du so merkwürdige Klamotten trugst und in einer Ecke zwischen den Hecken saßt und ganz allein am weinen... ich meine am Augenschwitzen warst."
„Und ich dachte mir, die Götter hätten mir einen kleinen vorlauten Engel geschickt, damit ich nicht mehr allein wäre."
„Vorlaut", schnaubte ich und dachte weiter an damals. Solche Gespräche halfen, meine Erinnerungen etwas zu richten. „Manchmal glaubte ich, du wärst nie real gewesen."
„Das dachte ich auch, bis ich dich in der Schule wiederfand, gute hundert Jahre später. Wieso musste ich immer so unendlich lange auf dich warten? Es kommt mir vor, als ob ich ganze Welten an Zeit durchqueren musste, um dich zu finden."
„Reed..." Mein Herz schmerzte vor Sehnsucht nach ihm, nach allem, was uns verband und plötzlich sah nicht mehr ihn, da sah ich mich selbst, wie ich auf ihm saß. Mein helles Haar ganz wild von der Rennerei, die Wangen gerötet und die blauen Augen ganz geweitet vor Erstaunen. Ich spürte ein so enormes Verlangen, dass es mich fast zerriss, dass ich kaum atmen konnte, da war solch eine Liebe, so ein Begehren und-
Es war vorbei.
„Die Barriere...", hauchte ich, als ich realisierte, was geschehen war. Ich hatte mich gesehen, durch Reeds Gedanken. Sofort verschloss ich meinen Geist, als ich sein erstauntes Gesicht sah, aber wenn ich so eben seine Gedanken und Gefühle spüren konnte, dann konnte er das bei mir auch.
„Sie ist noch da", sagte Reed leise, ungläubig und ich verstand ihn, ich hatte auch geglaubt, sie ewig verloren zu haben.
Wenn zwei Partner sich sehr, sehr nahestanden, kam es oft vor, dass sie eine geistige Brücke aufbauten, in der sie auch still und ohne Worte miteinander kommunizieren können. Malia und Kellin besaßen das und früher hatten Reed und ich es auch. Als Alice hatte ich mich immer gefragt, wieso Reed und ich so etwas nicht hatten, aber da war mein Geist durch die Blockade zu gut geschützt gewesen. Als der Bann fort war und ich wieder Grace wurde, war es dennoch still geblieben und ich hatte geglaubt, dass was auch immer Reed und ich einst hatten, wäre derart zerstört worden, dass wir uns nie wieder so verstehen könnten.
Ich hatte mich geirrt.
Und wie ich mich geirrt hatte.
Ich spüre ihn. Ich hatte gespürt, was er fühlt und er... er liebte mich. Er liebte mich so sehr.
„Grace..."
„Können wir nach Hause?" Ich musste zurück, sonst würde ich hier und jetzt im Schnee über ihn herfallen, was alles andere als gut enden würde.
Wortlos nickte er und wir liefen los, um Malia und Kellin zu suchen, die weniger brav waren und halb übereinander im Schnee herfielen, sich nur ungern von uns stören ließen.
Mein ganzer Körper bebte vor Sehnsucht und es wurde nicht besser, als wir zurückreisten und zu unserer Bleibe fuhren. Malia und Kellin waren noch zu meiner Familie gegangen, aber für so etwas hatte ich nicht die Kraft.
„Ich gehe duschen", murmelte ich, wusste, dass ich ihm nicht ewig davonlaufen konnte, aber mein Kopf spielte verrückt. Ich war nervös und ich wusste nicht wieso. Alles war so verwirrend, das Auftauchen dieser mentalen Brücke war so unerwartet geschehen, ich musste mich einfach kurz sammeln und sichergehen, dass alle Barrieren in meinem Geist genauso hochgezogen waren wie bei ihm, dass ich mich kurz an diese Brücke zwischen uns gewöhnen konnte, dass ich begreifen konnte, was das bedeutet. Also duschte ich die Kälte und Hitze und alles von mir und wickelte mich in einen Bademantel, um zurück in unser Zimmer zu gehen.
„Gibt es noch warmes Wasser?", fragte Reed mich, als er ohne mich überhaupt anzusehen nun ins Bad lief.
„Vermutlich nicht mehr viel", erwiderte ich und sah zur nun geschlossenen Badezimmertür und glaubte, jeden Moment zu sterben. Ich hörte wie er das Wasser aufdrehte und ich versuchte mich abzulenken. Wenn er rauskommt, würden wir reden. Wenn er rauskommt, würde ich mit ihm reden müssen, dann müsste ich meine Gefühle offenlegen, dann gab es kein Versteckspiel mehr. Ich hatte Angst, weil damals alles so grauenvoll schiefgelaufen war. Ich hatte Angst, weil ich ihn so sehr liebte, dass es mich zerstören würde, sollte irgendwas passieren. Es waren berechtigte Sorgen, deswegen hatte Reed diesen Abstand zu uns aufgefordert. Ob er das immer noch wollte? Wenn ja, wäre es mein Untergang.
Gleich würden wir darüber reden können, ich musste mich nur paar Minuten gedulden. Also streifte ich den Bademantel ab, unter dem ich noch ein Handtuch trug und ich versuchte die Knoten aus meinen Haaren zu lösen, wobei ich sie mir halb herausriss, so nervös war ich, so sehr zitterten meine Hände.
„Komm schon", sagte ich leise zu mir selbst und war den Tränen nahe, weil ich es nicht schaffte, weil ich nicht mehr standhaft bleiben wollte, weil diese paar Minuten, in denen wir getrennt waren, sich anfühlten wie ein ganzes Leben. Ohne mich länger kontrollieren zu können, erhob ich mich und lief geradewegs ins Bad hinein, wo ich stehenblieb, als ich Reed in seiner vollen nackten Pracht erblickte.
Götter, ich war verloren.
„Grace? Alles in Ordnung?", fragte er überrascht mich zu sehen und drehte das Wasser zu.
Ich schüttelte den Kopf, als Tränen mir übers Gesicht liefen. „Nein."
„Was ist los? Was ist geschehen?" Er schnappte sich ein Handtuch und band es sich um die Hüfte, lief auf mich zu, stoppte jedoch, als ich zu sprechen anfing.
„Ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr, Reed, dass es sich anfühlt, als ob ich sterben müsste. Ich liebe dich, Reed. Ich liebe dich." Ich konnte kaum aufhören diese Worte zu sagen. So lange hatte ich sie in mir verborgen gehalten, es war, als ob jedes Mal, wo ich sie nicht laut ausgesprochen hatte, nun aus mir herausplatzen würde. Ich besaß keinen Filter mehr und das wollte ich auch nicht.
Reeds Blick war herzzerbrechend. Ein erstickter Laut entwich ihm, als er den Abstand überbrückte und mich an sich zog, ich mich an seine vom Wasser gewärmte Haut presste, wo ich einen leichten Kuss auf seine feuchte Brust drückte.
„Ich liebe dich, Grace. In der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ich habe nie damit aufgehört, ich habe immer nur auf dich gewartet."
Wörter: 4326
Aloha :) Das hat wohl lange genug gedauert mit den beiden. Ich hoffe es hat euch gefallen. Sonntag geht es weiter xx
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