15. Bitteres Verlangen

"This is what I miss... not something that's gone, but something that will never happen." - Margaret Atwood

Meine Familie gesehen zu haben war wohltuender für meine zerschundene Seele gewesen, als ich es gedacht hätte. Ich war die nächsten drei Tage immer wieder zurückgekehrt und jedes Mal war Reed mit dabei gewesen. Er hatte sich nie beschwert, nie gejammert. Er war bei mir, verstand sich besser denn je mit meinen Eltern und sogar Alec bemühte sich nett zu ihm zu sein. Es war sonderbar, wie sehr wir miteinander harmonierten, wie einfach es war wieder alle Beziehungen von einst aufleben zu lassen. Ich fühlte mich wohl und geborgen bei ihnen, war glücklich und vergaß in der Zeit immer, dass dort draußen immer noch ein großes Unheil auf uns alle lauerte. Selbst Reed schien es zu vergessen. Eigentlich müsste er mit planen, wie das weitere Vorgehen auszusehen hatte, aber er schien diese kleine Auszeit genauso zu brauchen wie ich. Ansonsten war er nachts auch weiter ein Engel, der über meine Träume wachte. Er war einfach da. Er versuchte nichts. Er bedrängte mich nicht und auch wenn ich das alles traumhaft schön fand, gab es oft Momente, wo ich mich fragte, ob er mich überhaupt noch auf diese Weise begehrte. Liebte er mich überhaupt noch so? Wollte er überhaupt, dass unsere Beziehung je wieder so sein wird wie einst? Ich traute mich leider nicht ein Gespräch in diese Richtung zu beginnen. Aber oft lag ich nachts in meinem Bett und wünschte mir, er würde mich küssen, dann wünschte ich mir, er wäre in meinem Bett und nicht in seinem eigenen. Ich sehnte mich nach mehr. Ich sehnte mich danach, in seinen Armen zu liegen, in zu berühren, seine Lippen überall auf mir zu spüren. Zu oft, wenn ich vor ihm wach war, sah ich ihn einfach nur an und sagte still und leise, wie sehr ich ihn liebte. Es war wahr. Ich liebte ihn. Ich liebte ihn so schrecklich sehr, dass ich weinen könnte, wenn ich daran dachte, dass er mich vielleicht nicht mehr auf diese Weise wollte, dass das Kapitel für ihn zu Ende war, dass es für ihn besser so war.

Ich wusste nicht, wie lange ich es durchhalten würde in dieser Ungewissheit zu leben. Ich musste dem ein Ende setzen. Ich musste wissen, was er dachte, was er fühlte.

Schweigend saß ich auf dem Bett und beobachtete Reed dabei, wie er in seinem Schrank nach irgendwelchen Kleidungsstücken suchte, die er für heute Abend tragen könnte. Er erzählt mir dabei irgendwas von einem Gespräch, das er mit Kellin vorhin geführt hatte, aber ich war zu abgelenkt ihm zuzusehen, um wirklich viel aufzuschnappen. Es ging nicht um Rowan, Hel, meine Mutter oder Nasrin, also war es nichts, wofür mein Kopf gerade Platz hatte. Ich sah ihn einfach nur an und war so von seinem Anblick verzaubert, dass ich kaum etwas anderes machen konnte, weder seinen Worten folgen noch selbst einen klaren Gedanken fassen konnte. Ich sah, wie seine muskulösen Arme sich bewegten, wie er beim Reden lächele, wie sein Haar so ungewöhnlich wirr von seinem Kopf Abstand und noch leicht nass von der vorherigen Dusche war.

„Grace?"

Verschreckt riss ich mich aus meiner Starre und sah fragend zu Reed auf.

„Alles gut?", fragte dieser besorgt, glaubte wohl, ich wäre wieder dabei, eine Panikattacke zu kriegen. Wenn er nur wüsste, worüber meine Gedanken eigentlich kreisten.

„Ja... ja, alles gut", sagte ich unruhig. Mein Herz vermisste ihn einfach zu sehr. Meine Seele wollte diese Bindung, sie wollte mehr und mehr und mehr. Ich war furchtbar egoistisch. Ich sollte froh darüber sein, was er bereit war von sich herzugeben.

„Sicher? Du wirkst angespannt."

Ich stand auf, musste mich bewegen. Mein Blick fiel wieder auf ihn, wie er mittlerweile eine schwarze Jeans und ein schwarzes Shirt trug, besser in dieser simplen Kombination aussah, als es erlaubt sein sollte. Ich verliere noch den Verstand, wenn ich ihn nicht gleich endlich berühre.

„Grace, was ist los?"

Ich war schon dabei, auf ihn zuzugehen, ihm zu zeigen, was er mit mir anrichtete, wie es mir ging, was ich wollte, aber da klopfte es an der Tür.

„Ich hoffe ihr seid angezogen." Dawson und Chris traten ein und ich wich sofort wieder zurück, war perplex die beiden hier zu sehen.

„Genau deswegen wollte ich euch nicht sagen, wo ich lebe. Ihr sollt nicht einfach hier unerlaubt hineinplatzen", murrte Reed genervt beim Erblicken seiner besten Freunde.

„Quatsch, genau deswegen hast du es uns gesagt. Du vermisst unsere Überraschungsbesuche", sagte Chris grinsend, während Dawson mich neugierig betrachtete. Das war das erste Mal, dass ich die zwei als Grace sah und sie mich. Ich spielte etwas verlegen mit meinen Händen herum, wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Ich sah kurz zu Reed, der seine Freunde genaustens dabei beobachtete, wie sie mich nun ansahen.

„Das ist also die neue alte Alice", sagte Dawson und begutachtete mich beinahe prüfend.

„Ich glaube sie heißt jetzt Grace", merkte Chris an. Es war mir beinahe unangenehm, wie die zwei starrten Als ob ich nun vier Arme und drei Beine hätte und nicht mehr normal aussah. So verändert war ich nun wirklich nicht.

„Mir ist es gleich, wie ihr mich nennt. Ich bin immer noch ich", sagte ich und lächelte beide Jungs unsicher an. Ich hatte sie so lange nicht mehr gesehen. In den ganzen letzten Plänen waren sie nicht mehr mit einbezogen worden, da es einfach sowieso schon viel zu riskant geworden war. Heute waren sie aber natürlich hier.

Eine Party würden sie sich nicht entgehen lassen. Niemals.

Die Mehrheit von Kellins Leuten hatte schließlich gesiegt, dass Rowans Gefangenschaft und sein ziemlich miserabler Zustand in den Zellen ausgiebig gefeiert werden musste. Deswegen hatte Kellin in einem der angesagtesten Clubs der Stadt eine riesige Lounge gemietet, damit jeder, dem danach war, heute feiern könnte. Eigentlich hatte ich daheimbleiben wollen. Solange Nasrin nicht gesund, die anderen nicht aufgehalten waren, gab es keinen Grund zum Feiern, vor allem mit Irans Tod so frisch. Aber Hayden und Sam hatten so lange gequengelt, bis ich eingeknickt war, und wenn ich ging, ging Reed auch und dadurch auch seine Freunde, die sich eine gute Feier sowieso nie nehmen lassen konnten.

„Ich finde blond süß, es passt zu dir", sagte Dawson und zwinkerte mir zu. Ich verdrehte die Augen, musste dennoch lächeln. Mit den beiden war es immer so leicht klarzukommen.

„Gut genug mit der Flirterei, warum seid ihr hier?" Reed sah beide genervt an, verschränkte die Arme vor der Brust.
„Na um dich mitzunehmen", sagte Chris und legte einen Arm um Reeds Schultern.

„Ich gehe nicht ohne Grace und sie ist noch nicht fertig." Noch lange nicht. Ich trug immer noch Leggins und einen Pulli und war nicht für einen Club gekleidet. Dorthin zu gehen, kostete mich sowieso enorme Überwindung. Immerhin war es nachts, es war dunkel... ich hoffte einfach, dass die laute Musik, die vielen Menschen helfen würden, Schatten zu verscheuchen. Und natürlich der Alkohol. Ich verließ mich sehr stark auf die Wirkung des Alkohols. Dennoch war es ein riesiger Schritt, für den ich vermutlich nicht bereit war, aber ich wollte es wenigstens versuchen. Würde es zu viel werden, dann würde ich gehen. Etwas Ablenkung klang bei allem, was so los war, sehr verlockend. Wir hatten eine Feier verdient, auch wenn ich nicht in der größten Stimmung war und die Aussicht auf einen Club mich leicht ängstigte, aber dafür hatte ich ja alle anderen um mich herum.

„Keine Sorge, dafür sind wir hier", sagte Sam, der mit Hayden und Elin zusammen ins Zimmer trat.

„Mit wie vielen Leuten hast du diese Adresse geteilt?", fragte ich Reed mit hochgezogenen Brauen und er schloss seufzend die Augen.

„Eindeutig zu vielen. Das passiert, wenn man mehr Vertrauen schenken will."
„Hey, ich bin dein Bruder", sagte Hayden empört.

„Und ich gehöre praktisch zur Familie", merkte Elin an.

„Und ich auch. Immerhin bin ich derjenige, der es deinem Bruder jede Nacht so richtig-

„Nein. Ich will es gar nicht wissen", unterbrach Reed Sam, der nun breit am Grinsen war.

„Ihr seht gut aus", sagte ich und begutachtete die drei Neuankömmlinge. Elin trug ein enges, schwarzes Kleid, das nur bis zur Mitte ihrer Oberschenkel reichte. Darüber trug sie einen passenden schwarzen Mantel gegen die Kälte. Hayden und Sam waren beide in schwarzen Hosen gehüllt und während Hayden dazu ein passendes dunkles Hemd trug, hatte Sam etwas an, das fast wie ein schillernd buntes Hawaiihemd aussah.

„Ich vermisse die Sonne", verteidigte er sich. „In dieser furchtbaren Stadt scheint ja im Herbst gefühlt nie die Sonne. Wenn das vorbei ist, reisen wir in die Karibik."
„Alle zusammen?", fragte Dawson.

„Meine Eltern haben ein Boot, wir können das sicher nehmen", merkte Chris an und Sam sah ihn nun deutlich interessierter an. Er liebte Boote. Er liebte das Meer. Ich war mir sicher, dass Sam das, was er sagte, ernst meinte. Würde ihn einer fragen, würde er sofort das Weite suchen und die Welt auf einem Boot bereisen. Erneut.

Besitzergreifend schlang Hayden einen Arm um seinen Freund und ich sah zu Reed, der mich längst ansah.

„Du kannst ruhig vor. Ich komme mit ihnen nach."

Ich wollt so viel mehr als das sagen. Ich wollte ihm mein ganzes Herz ausschütten, aber ich würde nichts davon sagen, nicht mit allen anderen um uns herum. Irgendwann anders.

„Sicher?" Er schien nicht glücklich zu sein, mich nicht begleiten zu können, aber er tat schon genug für mich. Viel zu viel im Grunde.

Ich nickte lächelnd.

„Wenn was ist, ruf mich an. Ich sehe dich dann dort." Er lächelte mich an, aber das Lächeln wirkte nicht ganz echt. Es wirkte so verbittert. Es wirkte so, als ob er genauso viel wie ich zurückhalten würde. Würde das alles je leichter werden?



Fast zwei Stunden später erreichten wir anderen auch den Club, der mitten in der Londoner-Innenstadt lag. Ich war nur halbwegs entspannt hier in dieser fremden und vor allem dunklen Umgebung, weil ich mit den anderen während des Fertigmachens eine Flasche Vodka geteilt hatte und mir jetzt schon der Kopf schwirrte, dabei hatte ich nicht einmal viel getrunken. Sam hatte fast die halbe Flasche allein getrunken und wirkte immer noch stabiler auf den Beinen als jeder normale Mensch es mit so viel Alkohol im Blut wäre.

Die Lautstärke, die Menschen, die vielen Gerüche, alles umhüllte mich mit einem Schlag und ich hielt mich dicht an der Seite meiner Freunde, als wir uns durch den Vorraum des Clubs bewegten, nachdem wir unsere Mäntel abgegeben hatten. Wie laut und eng und stickig es dann erst auf der Tanzfläche sein würde? Das alles war vermutlich doch ein Fehler gewesen.

„Da seid ihr ja." Malia kam lächelnd auf uns zu und schloss sofort Sam in die Arme. Kellin und Paul waren dicht hinter ihr, aber das wirklich sonderbare war, dass Jane bei ihnen war. Malias ehemalige beste Freundin. Hayden und ich hatten sie vor einigen Monaten aufgesucht, noch bevor wir wussten, dass Malia eigentlich lebt. Diese hatte immer daran geglaubt, dass Malia nicht tot war, dass da mehr dahintersteckt und sie hatte recht gehabt. Offenbar hatte Malia sie in den letzten Tagen endlich aufgesucht und sich ihr gezeigt.

„Scheint, als würde Paul ihr schöne Augen machen", sagte Hayden, der Jane genauso verwundert angestarrt hatte wie ich, und tatsächlich flirtete Kellins bester Mann ausgiebig mit Jane, die diesen dafür mit einem verliebten Blick musterte. Ich wollte gar nicht wissen, was zwischen den beiden lief.

„Los, das wird wie in alten Zeiten", sagte Malia, die eindeutig angetrunken war und uns alle zur Tanzfläche bringen wollte. Kellin hatte Mühe sich ein Grinsen zu verkneifen, behielt sie dicht an sich gedrückt, wo sie beinahe aussah wie ein hyperaktiver Flummi, den er nur mit viel Mühe halten konnte.

„Sie und Jane haben Tequila getrunken", sagte Kellin zur Erklärung.

„Widerliches Zeug", schnaubte Jane und lächelte Hayden und mich an. „Schön euch auch wieder zu sehen."
„Also ist das Versteckspiel vorüber?", merkte ich an.

„Ich bin froh drum. Langsam wurde mein Leben sehr langweilig." Sie lachte und zog Malia aus Kellins Umklammerung. „Na los, wie in alten Zeiten. Malia und ich haben Spaß und du und deine Handlanger starren uns an."

Kellin seufzte wehleidig, schüttelte den Kopf und sagte jedoch nichts dagegen.

Die Tanzfläche war wie erwartet noch voller, noch lauter und noch stickiger. Die bunten Lichter benebelten mich, ich versuchte mich ruhig zu halten, in dem ich mich nur auf Kellins Rücken fokussierte, wo ich ihm durch die Menge zu unserer Lounge folgte. Diese war riesig, befand sich auf einem Podest, so dass man gut von der feiernden Menge abgetrennt wurde. Mein Blick fiel sofort auf Reed, der mit seinen Freunden in einer Ecke zusammensaß. Und Frauen. Fremden Frauen. Hübschen Frauen. Das war eindeutig Chris' sein Werk. Er umgab sich immer mit hübschen Frauen. Ich hatte nur irgendwie angenommen, zwischen Holly und ihm würde mehr laufen, so dass er sich endlich zügeln würde, aber die Reiterin hatte ich seit Teddys Tod nicht mehr wirklich zu Gesicht bekommen.

Diese Frauen an der Seite von Reed zu sehen, missfiel mir, sehr sogar, aber ich hatte zum einen keinen Grund eifersüchtig zu sein und zum anderen tat er ja nichts. Er saß da, lachte mit seinen Freunden und er konnte auch nichts dafür, wenn Chris irgendwelche Fremden zu uns holte. Er bemerkte mich, so wie ich ihn auch immer sofort bemerkte. Sein Blick glitt über meinen Körper und ich merkte, wie ich eine Gänsehaut bekam, so dass ich froh war, als Sam mich zu sich an den Tisch zog, weit entfernt von Reed. Ich hatte auf Elins Empfehlung ein schwarzes, glitzerndes Kleid angezogen, das mir bis zu den Knien reichte und sich an meinen Körper anschmiegte, dabei nie zu viel zeigte. Mein Haar hing mir offen über die Schultern und ähnlich wie mein Kleid glitzerte auch mein Gesicht, das Elin mit sehr viel Kreativität geschminkt hatte, so dass ich an genau den richtigen Stellen dezent funkelte.

„Wir sollten anstoßen", sagte Kilian und mir wurde von Hayden ein Glas in die Hand gedrückt. Keine Ahnung, was da drinnen war, aber sicher irgendwas, das mir helfen würde, das hier zu überstehen.

„Auf unseren Sieg gegen Rowan", sagte Kaya. Alle erhoben die Gläser und ich leerte mein halbes Glas mit einem bitteren Nachgeschmack. Nicht weil der Gin Tonic darin so schlecht war, eher weil es mir immer noch falsch vorkam zu feiern, solange wir nicht gesiegt hatten, solange wir so viele Verluste davontrugen.

Heute wollte nur keiner darüber reden oder nachdenken und ich auch nicht. Ich wollte mich von der Dunkelheit und der ungewohnten Umgebung ablenken, trank noch mehr Gin Tonic und tanzte anschließend mit Elin, bevor sie irgendwann von meinem Bruder geklaut wurde. Immer wieder sah ich während dieser Nacht zu Reed, der weiterhin bei Dawson und Chris blieb, sich nicht auf die Tanzfläche begab. Die Frauen bei ihnen wurden mit jedem Glas aufdringlicher und obwohl Chris sie eingeladen hatte, wirkte keiner der drei wirklich glücklich über die weibliche Aufmerksamkeit. Ob Chris an Holly dachte? Dawson schien Daisy immer noch zu vermissen und Reed... dieser sah mich an. Sehr, sehr oft. Es lenkte mich regelrecht ab, aber ich wollte nicht vor Eifersucht geblendet zu ihm und der hübschen Blondine an seiner Seite blicken, die ihm bei jeder Gelegenheit was ins Ohr flüsterte oder in irgendeiner Weise berührte. In mir brodelte es bei dem Anblick, wie irgendeine Frau ihn so berührte, wie er nichts dagegen machte. Er ermutigte sie nicht, aber was dagegen unternehmen tat er nicht. Es war fast, als ob er mich necken wollte.

„Du siehst aus, als ob du gleich eine gewisse Blondine umbringen wirst", sagte Sam neckend, der zusammen mit Hayden sich meiner angenommen hatte, nachdem Elin mit Riley irgendwohin verschwunden war.

„Ich habe das Gefühl, er will mich provozieren", sagte ich eingeschnappt und Sam zwang mich, zu ihm zu sehen.

„Dann provoziere ihn zurück. Ich stehe nicht auf Frauen, aber wenn du mich überzeugst, vielleicht knicke ich dann für einen Dreier ein."

„Sam!" Ich verdrehte die Augen und schlug ihm spielerisch auf die Schulter, aber er legte seine Hände nur an meine Taille.

„Na komm, lass uns Reed eifersüchtig machen."

Hayden lachte amüsiert auf und lehnte sich an die Wand hinter sich. Wir hielten uns lieber am Rande der Fläche auf als mitten im Geschehen.

„Nichts für ungut, aber mein Bruder weiß, dass du kein Interesse an Frauen hast."
„Aber wir sehen dennoch heiß zusammen aus, oder?" Schelmisch grinsend sah Sam seinen Freund an, während wir eng miteinander tanzten. Es war seltsam, aber irgendwie auch witzig so mit Sam zu tanzen und zu sehen, wie er versuchte mich zu verführen. Er scheiterte maßlos, aber er lenkte mich ab und das erfüllte einen Zweck.

„Egal wie heiß du auch bist, ich denke nicht, dass ich Interesse an einen Dreier mit euch habe", sagte ich und sah zu Hayden, der uns beide genaustens beobachtete. Gefiel ihm das hier etwa wirklich? So ausgiebig wie er uns musterte, wirkte es beinahe so.

Sam war immerhin sein Freund und ich... ich war seine Ex. Er betrachtete mich nur gerade nicht so, als ob ich seine Ex wäre. Ohweh, wenn das so weiter ging, würde ich mich heute Nacht wirklich noch in ganz schräge Situationen leiten lassen.

„Hayden, wir müssen sie mehr überzeugen", sagte Sam und zog diesen zu uns. „Vielleicht kannst du sie etwas auflockern. Du weißt doch immerhin, worauf unser Sonnenschein steht."

Keine Ahnung, was Sam für ein Spiel spielte, aber er schien wirklich kein Problem damit zu haben, dass sein Freund nun mit mir tanzte. Nein, er ermutigte Hayden sogar dazu, in dem er seine Hände an meine Hüfte legte. Das war wirklich, wirklich ungewöhnlich, aber ich kannte Hayden. Ich kannte ihn so verdammt lange, ich vertraute ihm, fühlte mich sicher bei ihm. Lächelnd sah ich zu ihm auf, bewegte mich zu der Musik, ließ mich von ihm ablenken.

„Mal was anderes als ein Ball", sagte er und ich musste kichern.

„Es wäre damals skandalös gewesen, wenn ich mich so unbedeckt auf diese Weise an dich gerieben hätte."
„Den Göttern sei Dank. Mein jüngeres Ich hatte keine Selbstbeherrschung, ich hätte dich in der nächsten Besenkammer gevögelt."
Ich musste nur noch mehr lachen und meine gute Laune verging nicht, auch nicht als Sam sich von hinten an mich drängte, um mit uns zusammen zu tanzen, selbst dann nicht, als er und Hayden über meinen Kopf hinweg miteinander das Knutschen anfingen. Der Alkohol ließ mich locker werden, er half mir alles zu vergessen. Es gab nur die Musik, die beiden Jungs an meiner Seite, denen ich blind vertraute, und nichts weiter.

„Ich glaube das hier zeigt Wirkung", flüsterte Sam mir ins Ohr und strich mir mein Haar etwas zur Seite. „Reed hat uns lange genug beobachtet und ist nun ziemlich wütend aufgestanden."
„Mein Bruder ist sicher auf dem Weg zu uns", sagte Hayden und grinste dabei frech, als ob er das Drama erheiternd finden würde.

„In Ordnung, wenn wir dich allein lassen, Sonnenschein? Hayden und ich müssen das hier auf dem Klo zu Ende bringen und ich bin nicht scharf darauf, vorher von Reed Ärger zu kriegen."
„Viel Vergnügen", sagte ich und ließ mir von Sam einen Kuss aufs Haar drücken, ehe er Hayden mit sich zog. Ohne die beiden kam ich mir etwas verloren vor, vor allem mit dem Wissen, dass Reed sicher zu mir wollte. Ich wollte hier nicht auf ihn warten, ich wusste gar nicht, was ich ihm schon sagen sollte, was es da zu sagen gab. Eilig lief ich los, wollte zur Tür, wollte raus an die frische Luft, als sich da zwei Arme um meine Taille legte und mich an eine starke Brust zogen.

„Ist dir bewusst, dass Sam eine Vorliebe für Dreier hat? Er hat Malia und Kellin Ewigkeiten damals versucht dazu zu bringen, einzuknicken", raunte Reed mir ins Ohr und ich vergaß völlig zu atmen von dieser Nähe, wie seine Arme mich gefangen hielten, wie er trotz des langen Abends immer noch so gut roch. Er hatte auch getrunken, so wie wir alle. War das der Grund, weswegen er meine Nähe derart suchte? Es war zumindest nicht der Grund, weshalb ich mich so bereitwillig an ihn schmiegte.

„Vielleicht ist das ja eine Erfahrung wert?", sagte ich neckend und hörte, wie er ein Geräusch von sich gab, das einem Knurren nahekam.

„So interessiert daran, meinem Bruder wieder nahe zu kommen?"

Hörte ich da einen Hauch Eifersucht heraus? Ich musste lächeln. Eigentlich hatte ich es immer gehasst, wenn die beiden Brüder sich gegenseitig mit ihrer Eifersucht anzickten, aber gerade jetzt kam es mir gelegen. Ich hatte Reed genauso reizen wollen, wie er mich gereizt hatte. Ich entwand mich seinem Griff, drehte ich zu ihm und sah ihn an.

„Was würde es dich interessieren? Wir sind kein Paar", sagte ich und Reeds Blick wurde schaurig. Er drängte mich gegen die Wand hinter mir und kapselte mich ein.

„Alles, was dich betrifft, interessiert mich", raunte er mir ins Ohr, legte dabei seine Hände an meine Hüfte und ich sah ihn an, wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, was ich machen sollte. Ich begehrte ihn. Ich liebte ihn, aber ich wusste einfach nicht, was er wollte, was das richtige war. Dieser Abstand hatte einen Zweck gehabt. Wir hatten beide mit dieser veränderten Situation zurechtkommen müssen, aber während ich akzeptiert hatte, dass die Vergangenheit zur Vergangenheit gehörte, wusste ich nicht, wie es ihm erging.

„Reed", sagte ich seinen Namen, sprach ihn mehr wie eine Frage aus, aber er verwirrte mich. Das alles verwirrte mich. Ich wollte keine Spiele. Ich wollte ihn.

Er schloss die Augen, presste seine Stirn gegen meine und kam mir dadurch noch näher.

„Wie wäre es, wenn wir für einen Moment darauf scheißen, dass wir Abstand wollen. Was ist, wenn wir für einen Moment so tun, als ob wir 1855 hätten und ich hätte dich zuerst richtig getroffen, nicht mein Bruder, und wir wären zusammen, wir wären glücklich. Keine Dramen, kein Leid."
Er wollte so tun als ob.

Er wollte nicht wirklich mit mir zusammen sein.

Könnte ich dann eine Nacht so tun als ob? Könnte ich ein letztes Mal diese Nähe zulassen, wissend, dass es vielleicht nie mehr als das geben würde?

„Wir tun so, als ob 1855 wäre?" Nicht gerade einfach in einem lauten Club im Jahr 2020, aber ich wusste, worauf er hinauswollte.

„Wenn du das willst." Er sah mich erwartungsvoll an, beinahe so, als würde er sterben, wenn ich nein sage, aber ich selbst würde ja sterben, wenn ich nein sage. Also küsste ich ihn einfach und ließ meine Taten mehr als Worte sprechen.

Hungrig erwiderte Reed den Kuss, ohne zu zögern. Sein Mund schmeckte nach Whiskey, seine Hände hinterließen heiße Spuren auf meiner sowieso viel zu erhitzten Haut. Ich wollte raus hier, ich brauchte Luft.

„Raus", brachte ich nur hervor und sofort packte Reed mich an den Händen und führte mich nach außen, weg vom Haupteingang in die nächste Gasse. Nur Dank des Alkohols dachte ich nicht an die Schatten, die Finsternis und was hier alles lauern konnte. Ich hatte sowieso keine Kraft dafür. Ich landete hart mit dem Rücken gegen die nächste Backsteinmauer, wurde von Reeds ganzen Körper gegen die kühlen Steine gepresst und ich drückte mich ihm entgegen. Ich wollte mehr, ich wollte alles von ihm, ich brauchte alles von ihm, nur würde er mir nicht alles geben.

Ein Stich in meinem Herzen ließ mich in meinem Handeln stoppen.

„Was ist los?", fragte Reed mich, seine Stimme sanft, die Hände, die er an mein Gesicht legte, gaben mir ein Gefühl der Sicherheit.

„Ich kann nicht so tun als ob", brachte ich hervor und sah den Schmerz in seinen Augen. „Ich will..." Eine Bewegung zu meiner Linken lenkte mich ab, ließ mich vergessen, was ich sagen wollte. Ich sah in die Gasse hinein und sah, wie eine Wand aus dunklem Nebel sich bildete, sich immer weiter erhob.

„Grace?" Reed folgte meinem Blick und fluchend ergriff er meine Hand, wich mit mir zurück.

„Was bei den Göttern ist das?"
„Du kannst es auch sehen?", fragte ich erleichtert, dass ich nicht erneut halluziniere, dass das hier echt war.

„Klar und deutlich", sagte er, stellte sich schützend vor mich und drängte mich dazu, noch weiter zurückzuweichen. Der Nebel wurde immer dichter, näherte sich uns allerdings nicht weiter. Er breitete sich dafür weiter aus und gab das preis, was sich dahinter verborgen hielt. Aus der Mitte des Nebels trat eine Frau. Nein, keine Frau... eine Göttin. Mit dem Ritual fast vervollständigt, war Hel kaum wiederzuerkennen. Sie wirkte stark, sie wirkte lebendig, sie wirkte mächtig.

„Ich hoffe ich störe euch beide nicht", sagte sie und zupfte ihr schwarzes Kleid zurecht, das ihren gesamten Körper bedeckte und sich auch noch auf dem Boden um sie herum ausbreitete, wie ein Wasserfall bestehend aus Finsternis.

„Wie hast du uns gefunden?", fragte Reed drohend.

„Das Mädchen besitzt immer noch meine Macht. Es ist leicht sie zu finden."
„Ich würde sie dir ja liebend gern zurückgeben, aber leider bin ich bisher oft genug gestorben", sagte ich so standhaft wie ich es konnte, verfluchte den Alkohol, der mich nicht so klar sein ließ, wie ich es in dieser Situation gern wäre. Keiner hatte gedacht, dass Hel sich so schnell und dann vor allem an solch einen Ort zeigen würde. Dumm.

„Oh, ich bin mir sicher, wir werden eine angenehme Lösung finden. Du hast immerhin die Wahl. Dein Leben oder das von so vielen unschuldigen Seelen. Ich bin nicht hier, um dich heute mit mir zu nehmen, der Mond würde ganz falsch für die Vervollständigung eines Rituals stehen."
„Warum bist du dann hier? Für deinen Handlanger?" Reeds Stimme war scharf, sein Griff um meine Hand eisern.

Hel lachte amüsiert und machte eine wegwerfbewegung mit ihrer Hand. „Keineswegs. Beseitigt Rowan ruhig. Ich habe alles von ihm, was ich brauche. Er ist absolut wertlos geworden. Seine Machenschaften haben mich bereits zu viel gekostet. Hätte ich damals gewusst, als ich ihn erschaffen hatte, dass er mal für so viel Ärger sorgen würde... ja, man lernt mit der Zeit. Aber wie dem auch sei, wenn du deine Meinung ändern möchtest, dann weißt du ja, wo du mich findest." Mit den Worten verschwand sie im finsteren Nebel und ich spürte, wie sich eine schwere Last auf meinen Schultern legte. Egal was Hel auch plante, es klang nicht gut und das einzige, was sie aufhalten würde, wäre mein Leben.


Wörter: 4282

Aloha :) Mal ein etwas ruhigeres Kapitel. Ich hoffe es gefällt euch dennoch, mehr Action kommt bald. Dienstag geht es weiter xx


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