12. 1857
"You can't cling to the past. Because no matter how tight you hold on... it's already gone." — Ted Mosby
Reed
Dieser Plan hatte einfacher geklungen, als er es war. Die Idee war simpel gewesen, aber es war uns allen von Beginn an bewusst gewesen, dass es riskant werden würde und verdammt viel schiefgehen könnte.
Rowan hatte mit uns gerechnet.
Wir hatten gewusst, dass er mit uns rechnet, dafür war das alles hier zu einfach verlaufen. Der Ort, wie wir die Informationen darüber erhalten hatten und dass uns niemand bei dem Versuch ins Gebäude zu gelangen, aufgehalten hatte, doch wir hatten gehofft, ihn dennoch schlagen zu können, ihn austricksen zu können.
Wie naiv von uns.
Man sagt aus Fehlern lernt man, aber bei Rowan schien es, als würde aus dem, was wir lernen, nur weitere Fehler entstehen.
Er war raffiniert. Zu raffiniert und das musste einiges aussagen.
Er schaffte es Leute an der Nase herumzuführen, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatten, Pläne zu schmieden, die ganze Untergrundszenen des Landes zu regierten, und trotzdem war er gerissener als wir alle.
Ich war einfach beruhigt gewesen, dass Grace nur am Waldrand sein würde, damit in Sicherheit, fern von diesem Monster, zumindest hoffte ich es.
Leider war Rowan immer noch viel schlauer als wir es ihm anrechnen wollten.
Als das Warnsignal von außen kam, dass es Probleme gab, waren wir im Haus unruhig geworden. Während wir durch scheinbar verlassene Gänge liefen und niemanden bemerkten, niemanden sahen, wurde es draußen lauter und lauter.
Das Haus wurde offenbar umzingelt, aber wir waren wenigstens so weit im Vorteil, dass jeder von uns notfalls in der Zeit verschwinden könnte.
Um diejenigen dort außen war ich besorgter.
Ich vernahm laute Schüsse und qualvolle Schreie, dachte sofort an Grace, die dort außen war, hoffentlich weit genug entfernt von dem Chaos.
Sie und die anderen wussten, dass sie abhauen sollten, wenn es Ärger gibt. Ihr Job war es nur Bescheid zu geben, wenn etwas Auffälliges gesichtet wurde, und dann zu verschwinden.
Grace würde sich nicht absichtlich in Gefahr begeben. Vor einigen Wochen hätte ich darüber noch anders gedacht, aber sie war vernünftig genug in ihrem jetzigen Zustand Ärger zu meiden.
Nur was wäre, wenn der Ärger sie suchen sollte?
„Was ist dort los?", fragte Malia ehrfürchtig und Kellin drängte sich dichter an sie, bereit dazu, sofort zu verschwinden, sollte es auch hier drinnen Ärger geben.
„Er will uns abkapseln. Er will uns bedrängen", sagte ich. Wir hatten mit etwas in der Richtung gerechnet. Genau deswegen hatten wir die Wachen auch in Gruppen weit genug um das Gebäude herum verteilt, so dass wir niemals alle von einer Seite eingekreist werden könnten. Gern wüsste ich, was dort draußen genauer vor sich ging, aber ich wagte es nicht irgendwen zu kontaktieren.
Paul hatte vorgeschlagen, Funkgeräte zur Kommunikation zu nutzen, aber es war kein Verlass auf das Signal hier außen. Selbst Handys waren ein Risiko. Dieser Ort wurde immerhin so konstruiert, dass er abgelegen und unerreichbar sein soll, aber wir hofften, dass wenigstens die Aufpasser ganz außen wieder richtig Empfang haben könnten.
„Er wird nicht hier sein", sagte Hayden, der ebenfalls da war. Sam war über die Tatsache beinahe erneut durchgedreht, aber Haydens Kraft war praktisch, vor allem für die beiden anderen Anwesenden, die keine besonderen Kräfte hatten, um hier unbeschadet im Notfall zu verschwinden. Kaya und Kilian waren Zwillinge und sehr gut begabt darin, Leute auszubrechen, Dinge hochzujagen und Leichen verschwinden zu lassen. Sollte es hier schiefgehen, könnte Hayden jeden von ihnen an eine Hand nehmen und mit ihnen die Zeit für sie drei verlangsamen, um hoffentlich der Bedrohung zu entkommen, die bisher auf sich warten ließ.
„Ich sag es nur ungern, aber wenn er nicht hier ist und dort draußen alles hin verlagert hat, wusste er genau, dass wir heute hier auftauchen würden. Er konnte ja kaum all seine Leute durchgehend irgendwo in den Wäldern versteckt halten", sagte Kilian angespannt.
„Beruhigend", spottete seine Schwester nicht weniger angespannt.
„Er könnte die Straßen im Blick behalten haben. Es hätte ihm zumindest einen kleinen Vorsprung erbracht", sagte ich, aber Kellin schüttelte den Kopf.
„Nicht genug. Kilian hat recht. Irgendeiner von uns ist eine Ratte. Wenn wir hier rauskommen, wird es ein paar nette Verhöre geben." Was in seiner Mafiasprache übersetzt heißt, bald wird irgendwer es sehr bereuen, meinen Bruder verärgert zu haben.
„Wir sollten nach unten. Wenn hier Gefangene sind, dann sicher unten", sagte Malia, lenkte auf das Wesentliche zurück.
„Hayden, du und die Zwillinge geht nach unten", sagte Kellin. „Wir anderen gehen die anderen Stockwerke absuchen. Ich gehe hier nicht ohne Rowan raus!"
„Du und die Zwillinge", schnaubte Hayden. „Du vergisst immer wieder, dass Reed und ich auch die Zwillinge sind."
„Du weißt genau, wie ich das meine", sagte Kellin gereizt und Hayden verdrehte die Augen. Wie er in Anbetracht der Lage so ruhig bleiben konnte, war mir ein Rätsel, aber Hayden war schon immer gut darin gewesen, in den denkbar unpassendsten Momenten die dümmsten Sprüche hervorzubringen. Seine wahre Begabung meiner Meinung nach.
Ich deutete Kellin an, dass wir weitergehen sollten, bevor wir zu viel kostbare Zeit verschwenden würden.
Leise und darauf bedacht, keine Geräusche von uns zu geben, suchten wir die Zimmer unten ab, ehe wir uns in eines der oberen Stockwerke wagten.
Letzten Mal, als ich hier war, war es Silvester gewesen und ich hatte mit Grace in einer der Säle oben getanzt, hatte sie nicht einmal berühren können wegen Kellins lästigem Bann. Das war kein Jahr her und trotzdem war seitdem alles anders. Ich wollte schon fast die Stille zwischen uns durchbrechen und vorschlagen, dass wir uns auch aufteilen sollten, als die Hölle über uns einbrach. Von einer auf die andere Sekunde ertönte im Gebäude unglaublicher Krach. Ich hörte, wie unten Türen aufflogen, Fenster zersprangen und es war eine Frage von Sekunden, bis man auch uns hier oben erreichen würde.
Der Lärm erinnerte mich nur ebenfalls an Silvester und wie die Märtyrer angegriffen hatten, wie Hayden beinahe starb... mein Magen verkrampfte sich. Der Schwachkopf würde sich verteidigen können. Ich musste daran glauben. Würde ich nun auch Angst um ihn haben, würde das hier niemals gut ausgehen.
„Er wird für sie kommen, versteckt euch und greift bei Gelegenheit an, ich versuche ihn vorher abzulenken und in die Hände zu kriegen", sagte ich, hatte die Handschellen bei mir, die seine Macht dämmen könnten. Das Messer, das Malia damals nutzte, um Rowans Macht für kurze Zeit zu stoppen, hatte das Bisschen an Macht aufgebraucht, das sich darin befunden hatte, und war dadurch wertlos geworden. Die Handschellen und einige altmodische Tricks waren somit alles, was uns geblieben war.
Kellin verschwand mit Malia in einer der Räume, bevor irgendwer sie erreichen konnte. Ich selbst blieb im Gang zurück, drehte mich zur Treppe und zog meine Waffe, suchte Schutz an der Wand neben mir und der schmalen Nische, die mir etwas Deckung geben würde, wenn jemand beschließen sollte, zu schießen.
Soweit kam es gar nicht erst. Rowan war die einzige Person, die hier hinauflief. Gehüllt in einem langen schwarzen Mantel sah er aus wie der Überbringer des Todes, aber ich würde mich nicht von einem erbärmlichen Idioten wie ihn einschüchtern lassen.
„Eine Waffe. Wie primitiv, Reed. Ich dachte ja, wir messen unsere Kräfte wie in alten Zeiten."
„Oh, das würde ich gern sehen. Vergiss nicht, dass ich schon immer besser im Nahkampf war als du", spottete ich und Rowan lief nun deutlich langsamer weiter auf mich zu, lächelte amüsiert von meinen Worten.
„Ich weiß noch, dass du mir einmal aus Versehen den Arm gebrochen hast, weil du wütend auf Hayden warst und ich dich beruhigen wollte. Die Heiler hatten mich schnell wieder richten können und du hast dich trotzdem so schlecht gefühlt, dass du mir eine Woche lang meine Bücher durch die Schule getragen hast."
„Eher weil ich dazu gezwungen wurde, sonst wäre ich von der Schule geflogen", verbesserte ich ihn, wollte sicher nicht mit ihm über alte Zeiten reden, als ob das hier nur ein nettes Treffen unter alten Bekannten war. An alte Zeiten zu denken, ließ mich nur immer daran erinnern, dass er nie mein Freund war und das war ab und zu immer noch eine Tatsache, die bitter zu verarbeiten war. Wenn jemand, den man Jahrzehnte kannte, einen derart hinterging, hinterließ das Spuren.
„Schöne Zeiten. Orte wie diese lassen einen so schnell in Erinnerungen schwelgen, findest du nicht auch?"
„Ich denke lieber an die Zukunft."
„Schade, dass du keine haben wirst." Ohne Vorwarnung warf Rowan ein Messer nach mir und sofort folgte dem ersten ein weiteres. Ich wich beiden aus, auch wenn eines dabei meinen linken Arm streifte.
„Messer sind also weniger primitiv?", fragte ich und zog mein eigenes Messer, warf es nach ihm, wo er gekonnt auswich.
„Sie sind zumindest persönlicher. Ich habe meine Opfer immer so gern mit einem Messer getötet." Er warf erneut eines nach mir und ich suchte Zuflucht im nächsten Raum, das wie eine Art kleiner Salon wirkte, mit einigen abgedeckten Möbeln darin. Ich hatte nur ein Messer bei mir getragen, hatte nicht gedacht, dass ich dieses so schnell hergeben würde, aber ich war es auch leid, nach Rowans Regeln zu spielen, weswegen ich meine Waffe nun erneut auf ihn richtete, als er mir in den Raum folgte.
„Was lässt dich glauben, du kannst mich töten?"
„Was lässt dich glauben, dass ich dir nicht einfach nur Schmerzen zufügen will?"
„Oh, das glaube ich dir aufs Wort. Du bist also immer noch sauer für das, was ich der süßen Grace angetan habe. Wusstest du, dass sie damals nach dir geschrien hat, als ich sie quälte? ‚Reed... Reed hilf mir. Reed wo bist du?' Es war herrlich."
Er wollte mich provozieren. Er wollte mich zu sich locken und ich sollte schlauer als das sein, aber ich ließ mich gern von meinen Gefühlen leiten, und die Wut, die ich gegen ihn spürte, sie war unermesslich. Ich wollte mich auf ihn stürzen, aber bevor ich überhaupt in seine Nähe gelangen konnte, ließ er eine golfballgroße Kugel zu Boden fallen, die mich kurz innehalten ließ, ehe aus ihr grauer Dampf entwich.
Gas.
Irgendeine Form von betäubendem Gas.
Unaufmerksam wie ich es wurde, schaffte er es ein weiteres Messer nach mir zu werfen, das ich nur mit meinem Arm von meinem Gesicht fernhalten konnte und diesen dabei aufschnitt. Ich spürte die Wirkungen des Gases deutlich und zögerte nicht weiter.
Es war riskant. Sehr riskant sogar, aber ich sprang dennoch in die Zeit, betete, dass bei meiner Ankunft in der Vergangenheit keiner im Raum sein würde.
Meine Welt drehte sich, das Gas war eindeutig darauf aus, meine Kraft zu blockieren, und als ich hart im selben Zimmer viele Jahre in der Vergangenheit landete, lag ich ausgestreckt auf dem Boden und spürte, wie meine Kraft fort war. Unterdrückt.
Das Zimmer war dunkel und für einen Moment glaubte ich Glück zu haben, dass sich keiner hier befand. Es war immerhin ein etwas riskantes Datum, das ich mir ausgesucht hatte.
Der 24. Dezember 1857. Heute fand der Weihnachtsball meiner alten Schule hier statt und eigentlich sollte jeder unten im Tanzsaal sein und dort ausgiebig feiern, aber offenbar hatte ich meine Berechnungen nicht mit Paaren gemacht, die die oberen Zimmer genutzt hatten, um etwas Zweisamkeit zu stehlen.
Ich war zu geschwächt, um zu fliehen, als eine Frau bei meinem Erscheinen aufschrie und kurz darauf eine Lampe anging.
„Reed?"
Oh, wunderbar.
Einfach nur wunderbar.
Von allen Leuten, die mir hier begegnen konnten, traf ich auf meinen verdammten Bruder, der auch ohne meine seltsame Kleidung sofort gewusst hätte, dass ich nicht der Reed dieser Zeit war.
Kellin war schon immer gut darin gewesen, solche Dinge zu erkennen.
„Ach, was ein Zufall", sagte ich so lässig wie ich konnte und setzte mich hin, hielt mir den blutenden Arm und sah grinsend zu Kellin, der nur noch ein Hemd trug, dessen oberen Knöpfe offen standen und das nicht mehr ordentlich in seiner Hose steckte. Seine Begleitung war eine hübsche Blondine, deren Kleid ramponiert wirkte, genauso wie ihr Haar.
„Was machst du hier?", fragte Kellin mich scharf, verengte prüfend die Augen, analysierte mich.
„Deiner Angebeteten würde es nicht gefallen, wüsste sie, dass du hier mit einer anderen dabei bist, unzüchtige Dinge zu treiben."
„Angebetete? Du sagtest, du wärst nicht vergeben!", sagte das Mädchen empört, verpasste Kellin eine Ohrfeige und eilte aus dem Raum, ließ uns allein.
„Was bei den Göttern wird das? Ich habe es gerade geschafft, sie zu überzeugen, dass die Götter sie nicht bestrafen, nur weil sie etwas Spaß mit mir hat", sagte Kellin wütend und ich grinste nur noch breiter.
„Ups."
„Du bist nicht der Reed dieser Zeit", sagte Kellin. „Natürlich nicht. Mein Bruder ist gerade draußen im Garten und betrinkt sich, weil Hayden mit seiner kleinen Bindungspartnerin tanzt und sie vor seinen Augen abknutscht. Ich habe dich vor keinen zehn Minuten draußen erst gesehen, also streite es gar nicht ab."
Ich verzog angewidert das Gesicht von dieser Erinnerung und Kellin lächelte wissend.
„Ich hoffe in deiner Zeit bist du weniger unglücklich."
„Ach, du hast keine Ahnung, Bruder. Hast du irgendwas, mit dem ich meinen Arm verbinden kann?"
„Will ich wissen, was geschehen ist, dass du in dem Zustand hier auftauchst? Wieso überhaupt hier und jetzt'?" Er lief zu mir und verband mir mit einem weißen Tuch den Schnitt von Rowans Messer.
„Bei meinem Sprung wurden paar alte Erinnerungen aufgeweckt", murrte ich, aber vor weit mehr als 150 Jahren war alles anders gewesen, vielleicht besser. Grace und ich waren zu dieser Zeit zwar noch nicht zusammen gewesen, aber jeder von uns war dennoch irgendwie glücklich gewesen. Ich hatte noch ein relativ ahnungsloses Leben geführt und daran hatte Rowan mich erinnert.
„Was ist in deiner Zeit los? Kann ich irgendwie helfen."
„Ich bezweifle es. Außer du weißt, wie man einen ziemlich mächtigen Reiter umbringen kann."
„Mächtigen Reiter? So etwas gibt es? Ich dachte die Reiter sind alle Schwächlinge."
Ich lachte trocken. „Ja... verlass dich nicht zu sehr auf das Wissen. In meiner Zeit stecke ich etwas in der Klemme. Ich und die anderen haben alles getan, aber irgendwie laufen wir nur gegen eine Wand. Ich wünschte du wärst Kol, den müsste ich eigentlich dringender sprechen als dich."
„Welch Kompliment", schnaubte Kellin gekränkt. „Wenn du unbedingt mit ihm reden willst, dann such ihn doch auf."
„Er würde nur wissen wollen, wieso ich ihn nicht in meiner Zeit aufsuche."
„Und wieso suchst du ihn nicht in deiner Zeit... oh." Kellin verstand, was das bedeutete, und wirkte nachdenklich.
„Inwiefern könnte ausgerechnet Kol dir denn helfen?"
Ich seufzte und erhob mich mit seiner Hilfe, ließ mich auf einer der Sessel hier nieder und versuchte meinen erschöpften Körper zu schonen. Ich musste schnell zurück. Ich musste wissen, dass es allen gutging.
„Er hat Informationen, die ich brauche. Er hat eine ganze Sammlung dazu, aber in meiner Zeit hat der verdammte Reiter sie in seinem Besitz."
„Aber nicht in dieser Zeit", merkte Kellin an und ich sah ihn gleich viel aufmerksamer an.
„Wieso suchst du diese Informationen nicht in der Vergangenheit, bevor der Reiter sie kriegt?"
„Das ist riskant." Ich könnte hier jederzeit mir selbst begegnen, die Vergangenheit stark verändern.
„Du musst nur einen richtigen Zeitpunkt suchen."
Das war tatsächlich eine Idee. Wieso war ich noch nicht darauf gekommen? Wenn Kol Antworten besaß, die wichtig für uns wären, müsste ich es nur strategisch so gut angehen, dass ich an diese Antworten komme, ohne bemerkt zu werden, ohne irgendwas zu verändern. Das war nie unbedingt leicht, aber wenn ich ein geeignetes Datum finde, wo ich mir selbst nicht in den Weg komme, könnte es vielleicht funktionieren.
„Du bist manchmal echt ein begabter Idiot."
„Charmant, kleiner Bruder. Wirklich charmant, aber nun erzähl mir, wer die Angebetete ist, von der du erzählt hast."
„Du wirst dein Herz verlieren, Kellin", sagte ich neckend und er verdrehte die Augen, wirkte unbeeindruckt.
„Ja sicher. Ist sie wenigstens hübsch?"
„Ziemlich", sagte ich ehrlich, besonders da sie eine sehr lange Zeit so aussah wie Grace oder Grace besser gesagt aussah wie sie.
„Dennoch schwer vorstellbar", murmelte er, als ob es völlig abwegig wäre, sich zu verlieben.
„Du hast noch eine Weile Zeit dich an den Gedanken zu gewöhnen", beruhigte ich ihn und schnaubend lief er zur Tür, zog sich dabei wieder richtig an.
„Macht es nicht besser. Liebe ist ein lästiges Konzept. Ich habe es dort draußen immerhin gut an dir gesehen."
„Gehst du die Blondine suchen?", fragte ich ihn, als er die Tür öffnete.
„Vergiss es, nach deinen Erzählungen von großer Liebe meide ich lieber Frauen erst einmal, ich gehe jetzt zu dir in den Garten und versuche dein armes gebrochenes Herz zu richten."
„Sprich mir schön Mut zu und kick Hayden bei Gelegenheit bitte in den Hintern für mich."
Kellin lachte auf, schüttelte den Kopf und ließ mich allein zurück, wo ich grinsen musste von dieser kurzen unbeschwerten Zeit. Ich schloss die Augen, versuchte abzuwarten, bis ich zu Kräften kam und lauschte derweil den Weihnachtsliedern von unten.
Irgendwo dort tröstete Kellin mein damaliges Ich, das dachte, niemals Glück zu finden. Irgendwo dort unten tanzte Grace mit glühenden Wangen zusammen mit Hayden. Irgendwo dort unten war Rowan, der nur darauf wartete, uns einige Jahre später zu vernichten.
Als einige Zeit später meine Kraft zurückkehrte, sprang ich nicht gleich in die Gegenwart, sondern erst einen Tag weiter, zum 25. Dezember 1857. Ich wollte nicht riskieren, hier im Gebäude in Rowans Arme zu laufen, also verließ ich zur Mittagszeit von Weihnachten das verlassene Gebäude, in dem die Spuren des gestrigen Abends erst noch beseitigt werden mussten. Ich stapfte durch den verflucht hohen Schnee und fror mir halb den Arsch ab, bis ich etwas aus dem Gelände gelaufen war.
Ich sprang erst zurück in die Gegenwart, als ich den Waldrand erreicht hatte, von wo aus ich zu den wenigen Autos eilte, die noch hier waren. Ich hoffte Antworten dazu zu finden, was hier geschehen war, und zog währenddessen mein Handy, rief Kellin an oder versuchte es, nur mein Akku musste genau in dem Moment den Geist aufgeben.
Da ich weit und breit niemanden sah und noch paar Autos da waren, nahm ich eines und fuhr zurück zu Kellins Anwesen, hoffte dort meine ersehnten Antworten zu finden und hoffte vor allem Grace dort anzutreffen und zu sehen, dass sie wohlauf war.
Im Haus herrschte bei meiner Ankunft großer Trubel. Überall waren Verletzte, überall wurde wild miteinander geredet und suchend lief ich die Räume ab. Ich wollte jemand sehen, der mir Antworten geben könnte. Ich wollte Grace sehen.
Wo bist du? Wo bist du? Wo bist du?
Wieso existierte dieses beschissene Band zwischen uns nicht mehr?
Das wäre gerade sehr, sehr praktisch gewesen.
„Reed." Erleichtert atmete Hayden auf, als er mich sah. Er wirkte unbeschadet, höchstens etwas durch den Wind. Den Göttern sei Dank.
„Wo ist sie?", fragte ich, musste erst sehen, dass es ihr gut ging, ehe ich über irgendwas anderes nachdenken könnte.
Als Hayden das Gesicht verzog ahnte ich jedoch Übles. Nein. Nein, das konnte er mir nicht antun.
„Wo.Ist.Sie?", wiederholte ich mich langsamer, bedrohlicher, aber es war Elin, die mir antwortete.
„Er hat sie."
Mein Herz setzte aus, als ich zu ihr sah. Tränen kullerten über ihr Gesicht und in ihren Haaren hingen noch getrocknete Blätter, ihre Kleidung war dreckig, als ob sie sich auf dem Waldboden gewälzt hätte.
„Es war Nasrin... sie ist besessen. Ihre Augen waren schwarz und sie war da und... Alice ist ihr nach, als wir plötzlich umzingelt wurden. Sie sagte ich soll rennen, also rannte ich und ich schrie nach Sam und Kate. Die zwei kamen und halfen mir, aber Alice... sie haben sie."
Ich taumelte und hätte Hayden mich nicht zu einem Stuhl geführt, wäre ich auf dem Boden gelandet.
Grace war bei Rowan.
Und Nasrin... das ergab Sinn. Sehr viel Sinn und es war gleichzeitig ganz, ganz schlecht für uns alle.
„Du blutest"; sagte Hayden, der das Tuch von meiner Wunde nahm und diese nun inspizierte.
„Hayden... wenn er sie hat, wenn er Nasrin hat... er hat alles, was er braucht."
„Wissen wir. Wir werden uns was überlegen, aber erst müssen wir alle unsere Wunden versorgen und denken, was der nächste Schritt ist. Wir haben ein paar verloren."
„Wen?"
„Zwei von Kellins Leuten. Drei andere fehlen noch. Ich bin mir sicher, dass in den Kerkern Iran war oder zumindest Gefangene. Leider kamen seine Leute, ehe wir sie retten konnten. Wir kamen gerade noch so raus. Ich dachte wirklich, Rowan hat dich. Kellin meinte, du hast dich gegen ihn gestellt, was ist passiert?"
„Das, was immer passiert. Er hat uns geschlagen." Ich strich mir durch mein unordentliches Haar und mied den Blick meines Bruders. Ich war froh, dass es ihm und Kellin gutging, aber Grace... wie sollte ich sie retten? Allein der Gedanke, dass Rowan sie hatte, ließ mich innerlich durchdrehen. Ich war nur taub vor Schock. Mein Körper konnte nicht mehr so reagieren, wie er es sollte. Mit solch einer Wende hatte niemand gerechnet. Dass wir nicht siegen? Das war eine hohe Wahrscheinlichkeit gewesen. Dass Rowan uns austrickst? Wir hatten damit gerechnet. Dass welche von sterben könnten? Ein Risiko, das jeder bereit war einzugehen. Aber dass Rowan von Anfang an Nasrin auf seiner Seite hatte, mit ihr eines der wichtigsten Bestandteile für sein Ritual und er es einzig und allein auf Grace abgesehen hat? Das war nichts, womit irgendwer rechnen konnte.
„Keiner wusste irgendwas wegen Nasrin", sagte Acyn, der wütend in den Raum stürzte, dicht gefolgt von Riley, der sich zu Elin stellte. „Nicht ihre Eltern, niemand im Quartier. Ihre Wachen haben vorhin gemeldet, dass sie wohl unbemerkt aus ihrem Fenster verschwunden war, aber keiner hat bemerkt, dass sie besessen war."
„Wie lange das wohl schon geht", sagte Hayden nachdenklich.
„Zuerst müssen wir uns Gedanken machen, wie wir das Ritual verhindern, Alice retten und Iran", sagte Riley sachlich, schien als einziger halbwegs gefasst zu sein.
Meine Gedanken kreisten wild umher. Ich verlor jeden Halt, jeden Ansatz. Ich wusste nicht, was zu tun war, fühlte mich verloren, hilflos. Ich konnte nur an Grace denken, die gerade unter Rowans Macht litt, die sterben könnte. Ihr durfte nichts geschehen. Ich ertrug es nicht. Ich würde es nicht überleben.
„Wir sind zu geschwächt", sagte Acyn wütend. „Und wir sind keine Überraschung für ihn. Es braucht etwas Großes, wenn wir ihn stoppen wollen."
„Wie wäre es mit unerwarteten Verbündeten?", fragte Riley und alle Blicke richteten sich auf ihn.
„Von wem sprichst du?", fragte Sam, der mit Kellin und Malia zu uns trat. Er hatte eine Platzwunde an der Stirn, die aussah, als ob sie frische genäht worden wäre. Mein Bruder und Malia sahen wohlauf aus. Es war seltsam Kellin so zu sehen, wo ich ihn gerade in der Vergangenheit getroffen hatte. Ob er sich noch an diese Begegnung erinnert?
„Wer würde noch alles geben, um solch ein Ritual zu stoppen?", fragte Riley und ich wusste genau, auf wen er hinauswollte, und es gefiel mir ganz und gar nicht.
„Die Wanderer", sagte Kellin und egal wie wenig es mir gefiel diese Leute in Grace ihrer Nähe zu schicken, mit ihnen zusammen zu arbeiten, sie wären eine enorme Hilfe.
Die Wanderer verabscheuten Rowan und die Reiter. Sie arbeiteten für ihre ganz eigenen Ziele, und zwar die, die Hades am meisten stärken würden. Sie waren ähnlich wie die Wächter, die von den Göttern geschickt worden, oder die Reiter, die von der Unterwelt kreiert wurden, die ganz spezielle Armee von Hades hier auf Erden. Sie wurden vor langer, langer Zeit erschaffen und wollen mit jedem Mittel Hades stärken und dafür die Reiter und jeden, der Hades' Macht im Wege steht, beseitigen. Hel und Rowan, die den Thron der Unterwelt haben wollen, waren damit enorme Bedrohungen, vor allem wenn sie dieses Ritual durchziehen sollten.
„Sie werden alles geben, um Hel oder Rowans Pläne zu durchkreuzen", sagte Acyn.
„Sie werden aber auch versucht sein, Grace zu beschlagnahmen", sagte ich kritisch.
„Dann müssen wir das verhindern, aber es ist ein Risiko, das ich eingehen würde, solange es heißt, dass Rowan gestoppt wird", sagte Kellin hart und ich wusste, er würde anders agieren wäre Malias Leben in Gefahr, aber er hatte auch recht. Auf die Schnelle war das die beste Chance, die wir hatten, und das wichtigste Ziel war es, Rowan aufzuhalten.
„Dann machen wir uns besser an die Arbeit, denn wenn die Sonne wieder untergeht, wird es Neumond sein, das perfekte Timing."
Wörter: 3915
Aloha :) Ich hoffe es hat euch gefallen. Im Nächsten geht es bei Reed weiter. Mal sehen, wie das hier ausgeht. Dienstag geht es weiter xx
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