11. Das Ritual

"My soul is from elsewhere, I'm sure of that, and I intend to end up there." — Rumi

Ein Ritual. Man braucht mich für ein Ritual. Ich hatte es ja befürchtet, ich hatte gewusst, dass Rowan mich für so etwas haben wollte, nur hatte ich es auch gut verdrängt.

Nachdem Rowan Iran entführte, hatten wir geahnt, dass er ein Ritual durchziehen wollte, wofür ihm nur noch Nasrin und ich gefehlt hätten.

Wir waren uns naiverweise sichergewesen, dass er sein Ziel nicht so leicht erreichen würde. Nasrin wurde gut bewacht und ich hatte mich bis jetzt von jeder Konfrontation zu Rowan ferngehalten. Es war nur zwecklos gewesen. Rowan war uns immer drei Schritte voraus. Er würde immer seinen Willen durchsetzen.

Jetzt hatte er offenbar uns beide und damit würde er was erreichen? Mehr Macht erhalten? Was genau war der Sinn dieses Rituals? So ganz erklärt hatte Reed es nicht, aber ich würde es sicher bald ganz nahe miterleben.

„Ich verstehe das alles nicht", sagte ich leise und sah Iran fassungslos an. „Er will uns also umbringen. Er will uns opfern. Welchen Teil nimmst du da ein? Wieso will er unbedingt dich haben?" Dass ich ja angeblich besonders war, hatte ich langsam akzeptiert, aber was war nun Irans Zweck? Sie konnte nicht einfach ein gewöhnliches menschliches Opfer darstellen, sonst hätte Rowan sich nicht die Mühe gemacht, das Quartier damals derart anzugreifen, nur um sie zu kriegen.
„Ich bin wohl Teil des Rituals", sagte Iran, die versuchte lässig mit den Schultern zu zucken, als ob das nicht furchtbar gruselig und schrecklich wäre, aber egal wie tapfer sie auch vorgab zu sein, ich sah Tränen in ihren Augen funkeln. „Ich habe es nicht bemerkt... wie konnte ich es nicht merken?"
„Was merken?"
„Dass sie die Kontrolle verloren hat. Es war klar gewesen, dass das passieren kann und ich war zu fucking blind, um es zu erkennen. Sie wurde von einer dieser... dieser Wesen eingenommen und ich habe es nicht gesehen. Was für eine scheiß Schwester bin ich, wenn ich nicht einmal bemerke, dass Nasrin von einem fucking Dämon besessen wurde?"

„Keiner hat es gesehen."
„Das macht es nicht besser. Sie ist zu tief drinnen. Man wird sie umbringen! Keiner wird versuchen ihr zu helfen. Sie ist eine Gefahr, nun, wo sie so die Kontrolle verloren hat. Die werden sie umbringen."

Oder sie wird uns umbringen.

Ich verstand das alles nicht. Was hier vor sich ging, wie wir alle so etwas Entscheidendes hatten übersehen können. Und nun? Was wäre nun?

Immerhin wussten wir nun, wer der Verräter im Quartier war. Nasrin. Es war die ganze Zeit Nasrin gewesen, die von irgendeinem Dämon besessen wurde und für Rowan arbeitete. Wie lang das wohl schon so ging?

Wir waren wirklich alle blind gewesen.

Es war alles ein einziges Spiel für Rowan, mehr nicht. Er war uns immer so viele Schritte voraus und nun hatte er gewonnen. Er hatte uns jedes Mal ausgetrickst, jedes verdammte Mal. Wie sollte man ihn da je besiegen? Es war, als hätte er jedes mögliche Ende bereits gesehen und würde uns nun systematisch ausschalten.

„Und es gibt kein Entkommen?", fragte ich sie und sah mich dabei um. Wir waren wohl irgendwo tief unter der Erde und für einen Moment glaubte ich, mit meiner Kraft schon was bewirken zu können, doch da spürte ich, wie ungewöhnlich dumpf ich mich fühlte.

„Sie haben deine Kraft betäubt. Wir zwei kommen hier nicht raus. Die sind bewaffnet. Sie erschießen uns, ehe wir was machen können."
„Lieber so als dass wir bei ihren Ritualen mitmachen."

Sie schnaubte und es klang gleichzeitig so, als ob sie schluchzte. „Ich mag vielleicht immer tapfer gewirkt haben, aber ich habe eine scheiß Angst, Alice... Grace... was auch immer dein Name jetzt ist. Ich will nicht sterben, ich will meine kleine Schwester nicht so sehen. Ich will nicht mehr hier sein. Fuck, ich bin keine scheiß Wächterin wie ihr alle. Ich wollte nur mein scheiß normales Leben führen und nun bin ich Teil eines Rituals von irgendeinem Geisteskranken."
„Ich habe auch Angst", sagte ich ehrlich. Ich war gestorben. Öfters als mir lieb war und ich wollte das nicht mehr. Ich wollte nicht mehr ständig Angst vor dem Tod haben und doch schien es aussichtslos hier herauszukommen. Wo waren die anderen wohl? Ging es ihnen gut? Der Plan musste maßlos gescheitert sein, immerhin war Iran noch hier und Rowan hatte mich eingesperrt. Ich konnte nur hoffen, dass es allen anderen gutging, sie entkommen konnten.

„Aber wenn es dich beruhigen sollte, es geht ganz schnell", sagte ich leise und sie sah mich aufmerksam an. „Sterben meine ich. Es tut weh, zumindest haben meine Tode wehgetan, aber... es ist schnell vorbei."

„Du bist gestorben." Sie klang so, als ob sie mich für verrückt hält. Oh, sie hatte ja keine Ahnung.

Also erzählte ich es ihr. Ich erzählte ihr von einfach allem. Der Wahrheit, der Lüge, woher ich kam, wieso ich hier war.

Es lenkte uns beide gut ab.

Es half kurz zu vergessen, dass wir so gut wie tot wären.

„Du bist eine tapfere Bitch, weißt du das?"

Ich lächelte von ihren Worten. „Ich fühle mich nicht sehr tapfer. Wärst du nicht hier, hätte ich sicher längst versucht meine Augen auszukratzen." Ich musste lachen, so gestört klang diese Aussage, und Iran selbst schnaubte.

„Keine Sorge, hier ist nichts und niemand außer uns. Ich hätte es bemerkt, wenn noch jemand hier wäre. Keine Schatten und Monster, die dich jagen."
„Ich weiß das. Ein Teil von mir weiß, dass es nicht real ist, aber... manchmal befürchte ich, dass die Dinge, vor denen ich so eine Angst habe, in meinem Kopf sind und mir dort genauso schaden können wie in echt. Als ob etwas Dunkles und Gefährliches an mir haften würde, was dort nicht sein sollte, und es macht mir Angst."

„Vielleicht ist das genau das, was er so dringend haben will. Vielleicht will Rowan diese Dunkelheit, vielleicht ist das die Macht, die du besitzt und die er will."
„Dann kann er sie gerne haben", murrte ich. „Ich will sie gewiss nicht haben, aber was für ein Monster er dann wird, wird sicher keinem von uns gefallen."

„Es spielt eh keine Rolle. Wir sind so gut wie tot", schnaubte sie und ich lächelte von der Aussage und wie leicht sie es sagte, wie schnell ein kleiner Teil von mir das akzeptiert hatte.

Ich wollte gewiss nicht erneut sterben, aber ich wollte mir keine falschen Hoffnungen machen. Wir hatten zu oft gegen Rowan verloren, wir würden nur erneut verlieren. Wir verlieren immer.

Die Tür ging mit einem lauten Quietschen auf und verschreckt sah ich zu den sechs Wachen, die schwer bewaffnet eingetreten kamen. Sofort schlug mein Herz schneller, sofort war jede Panik, die ich halbwegs herunterschlucken konnte, wieder da und noch schlimmer als zuvor.

„Was habt ihr vor?", fragte ich panisch, als sie sich daran machten, Iran und mich zu befreien.

„Mitkommen!", sagte einer der Männer lediglich harsch und zog mich an meinen gefesselten Händen aus dem Raum, Iran hinter mir her. Ich hatte nach paar Stunden der Gefangenschaft schon Schwierigkeiten gerade zu laufen, aber Iran hatte nach Monaten hier unten enorme Probleme den Wachen zu folgen. Ihre Beine wussten gar nicht mehr, wie sie zu funktionieren hatten, und Rücksicht nahm keiner auf sie. Wir wurden beide wie Vieh angetrieben.

Ich zitterte vor Angst, als wir die Treppen hinaufgingen und in der Eingangshalle des Stoneward Palasts herauskamen. Ohne die vielen Gäste eines Balles wirkte die Halle nur noch größer und irgendwie auch unheimlicher. Sie war einfach zu leer und da es draußen wohl dunkel war, wirkte es düster hier und das obwohl an dem mittlerweile reparierten Kronleuchter alle Lichter brannten.

Man brachte uns in einen kleinen Raum, der mir damals nie wirklich aufgefallen war. Dort warteten bereits mehrere ziemlich grimmig wirkenden Frauen auf uns, die uns regelrecht aus den Händen der Wachen zogen und anfingen, auszuziehen.

Ich quiekte verschreckt auf, dass mich irgendwelche Fremden hier bloßstellten, aber meine Nacktheit war nur von kurzer Dauer. Man hüllte mich in ein langes weißes Kleid mit langen Ärmeln, das mir fast wie ein Nachtkleid vorkam, ein sehr schlichtes Nachtkleid. Mir wurde mein Zopf geöffnet, so dass mein gelocktes Haar unordentlich über meine Schultern fallen konnte und anschließend wurde mir eine Krone aus Misteln auf den Kopf gesetzt, während eine andere Frau mein Gesicht von den Blutresten säuberte.

Das gefiel mir ganz und gar nicht. Wurden wir nun ernsthaft für unseren Tod hübsch gemacht?

Iran wurde wie ich in ein weißes Kleid gesteckt, das an ihrem abgemagerten Körper so locker herabhing, dass sie fast darin unterging. Sie bekam auch eine Krone auf den Kopf gesetzt, auch aus Misteln.

Was hatte das zu bedeuten?

Mein Wissen, was solche Dinge anging, war nicht wirklich gut. Andere waren schon immer besser informiert gewesen, wenn es um Götter und Rituale ging.

Die Wachen kehrten zurück und ich sah unsicher zu Iran, in deren Augen meine Angst widergespiegelt wurde.

Wir waren verloren.

Wir wurden nach außen in den Garten geführt, wo mein Herz fast einen Aussetzer hatte beim Anblick der vielen Leute, des Altars und der vielen Feuer, die in einem großen Kreis verteilt um den Altar errichtet wurden. Das würde ja wirklich ein Ritual werden.

Wollte Rowan uns lebendig verbrennen? Ich wollte es mir nicht ausmalen, aber meine Fantasie ging mit mir durch.

Ich kam mir vor wie die Protagonistin eines Horrorfilms. Was hatte Rowan bitte vor? Würde er uns bei lebendig Leibe hier häuten? An ein Kreuz schlagen? Würde er uns ausbluten lassen?

Ich hatte tausend Vorstellungen, was passieren könnte, und eine war schlimmer als die andere.

Die meisten Anwesenden trugen weiße Umhänge, einige hatten bemalte Gesichter und andere wiederum trugen Kronen aus Blumen und anderen Pflanzen auf dem Kopf.

Das sah aus wie ein heidnisches Fest.

Selbst die Trommeln, auf denen schaurige Lieder gespielt wurden, gaben mir das Gefühl, in einer anderen Zeit gelandet zu sein.

„Das sind Wikinger-Rituale", hauchte Iran dicht hinter mir, ihre Stimme halb erstickt vor Angst. „Egal was hier geschehen wird, es hat etwas mit dem Norden zu tun."
Dem Norden.

Mit Hel.

Ich wusste es, noch bevor ich Olivia erblickte. Olivia, die eigentlich Hel war und die wie alle anderen auch weiß geschminkt war, nur dass sie als einzige einen schwarzen Umhang trug.

„Bindet beide fest. Die Schwester auf den Altar, die Diebin an den Pfahl", sagte sie kühl und während ich zu einem Pfahl gezogen wurde, wo meine Arme hinter meinem Rücken um diesen festgebunden wurde, wurde Iran auf den steinernen Altar gebracht, wo man sie ebenfalls befestigte. Das sah nicht gut aus. Nichts hiervon sah gut aus.

Keine Ahnung, woher Olivia die Kraft genommen hatte, wieder in einer scheinbar menschlichen Gestalt hier zu sein. Zuletzt war sie dank Hades so geschwächt gewesen, dass sie mir nur in Träumen oder formlosen Zuständen erscheinen konnte. Jetzt gerade wirkte sie ziemlich echt und ganz.

Sicher hatte dieses ganze Ritual etwas damit zu tun. Der Nachthimmel hatte einen roten Schein, keine Sterne, kein Mond war zu sehen und das, obwohl der Himmel wolkenlos klar war, die Lichter der Stadt nicht nah genug waren, um das alles derart zu verbergen. Es war, als ob eine Dunkelheit heute Nacht hier anwesend wäre, die jedes kostbare Licht der Natur aufsaugt.

Wo ist Reed?
Wo war irgendwer?

Ich schrie innerlich nach Hilfe, doch mein Band zu Reed war nicht mehr das, was es einst war. Ich spürte ihn nicht mehr auf die gleiche Weise, wir waren zu weit voneinander entfernt und unsere Gedanken waren nicht mehr so verbunden wie früher einmal.

„Lasst uns anfangen und das ein für alle Male beenden", sagte Rowan, der ebenfalls in weiß gehüllt war und dessen Gesicht geschminkt war. Ein eigenartiger Anblick. Es ließ ihn nur noch gruseliger wirken als sowieso schon.

„Alle Zutaten sind da. Unsere Dämonen-Fürstin, die Schwester, die Diebin, Blut aus der Unterwelt, der Dolch und wir haben Neumond", sagte Rowan und mir schwirrte jetzt schon der Kopf, als Nasrin sich zu ihm stellte und ihre Schwester beinahe spöttisch ansah. Das war nicht Nasrin. Das war irgendein Dämon, der von ihr Besitz ergriffen hatte.

Als einzige der Anwesenden trug sie keine rituelle Kleidung. Sie sah einfach aus wie Nasrin. Gehüllt in ihrer Schuluniform, da vor wenigen Tagen das neue Schuljahr angefangen hatte, und mit den Haaren ordentlich zu einem Zopf geflochten. Nur ihre Augen, ihr Lächeln... das war nicht sie.

„Beginnen wir", sagte Rowan und schnitt sich die Handfläche mit dem Dolch auf, den wir ihn im Tausch für einen Weg in die Unterwelt übergeben hatten. Er ließ sein Blut in eine Schüssel tropfen.

„Blut des treuen Dieners aus der Unterwelt." Sein Blut floss schwarz aus der Wunde, zeigte, wie es in seinem Inneren aussah.

Als nächstes reichte er Nasrin den Dolch in seiner Hand, die grinsend zu Iran lief, die schluchzend und weinend versuchte sich aus ihren Fesseln zu befreien.

„Das Herz eines menschlichen Mädchens, genommen von ihrer eigenen Schwester." Ich wusste genau, was sie tun würde, konnte jedoch nicht wegsehen, konnte es nicht glauben.

Das Herz ihrer Schwester.

Das war die Zutat.

Reed hatte es deutlich hübscher formuliert.

Aber das hier... das war krank. Auf so viele Weisen krank.

Irgendwer müsste uns helfen. Irgendwer müsste das hier verhindern.

Nein, nein, nein, nein.

Wo war denn jeder?

Hilfe, Hilfe, Hilfe

Innerlich schrie und bettelte ich, nur keiner hörte mich. Keiner würde mich je hören.

„Nasrin, bitte", schluchzte Iran. „Ich weiß, dass du mich hören kannst. Du musst kämpfen. Du musst kämpfen, bitte." Sie sagte etwas auf Persisch zu ihr, flehte sie an, doch Nasrin lief ungerührt weiter auf sie zu.

Das war zwecklos und Iran sah das auch ein. Sie akzeptierte, dass sie Nasrin nicht erreichen würde. Sie war zu tief in sich selbst verloren. Ich wusste, wie sich das anfühlte und ich wusste, dass es verdammt schwer war wieder hinauf zu finden.

„Es ist ok", schniefte Iran, sah dem Dämon in die Augen. „Ich verzeihe dir. Es ist ok. Es wird alles gut werden, Nasrin-jan, alles wird gut werden. Ich verzeihe dir. Ich verzeihe dir alles. Ich werde-"

Und dann stach Nasrin zu.

Als ich sah, wie sie ihrer Schwester das Herz aus der Brust schnitt, Rippen zerbrach, Blut in alle Richtungen spritzte, musste ich mich übergeben. Geradewegs vor meine Füße kam mir alles hoch und Erinnerungen an Kol, wie Rowan ihn auf eine sehr ähnliche Weise getötet hatte, ließen mich schreien. Ich würgte, ich schrie, ich weinte und flehte irgendwelche Götter an mir zu helfen, die mich jedoch nie erhören würden.

Ich wollte ohnmächtig werden. Ich hätte im Moment alles dafür gegeben, einfach ohnmächtig werden zu dürfen. Leider arbeitete mein Körper vor lauter Angst und Panik auf Hochtouren und so öffnete ich die Augen wieder, wo ich mich am liebsten nur erneut übergeben hätte bei dem Anblick vor mir. Das sah aus wie eine Schlachtbank.

Das sah nicht aus wie ein normaler Mord.

Das war... es war grauenvoll.

Auf so viele Weisen grauenvoll.

Ich musste mich erneut übergeben.

Mein Magen schmerzte und krampfte und ich wusste nicht, ob ich weinte oder schrie oder nach Luft ächzte.

Was würde man mir erst antun?

Ich wollte nicht so sterben.

Ich wollte gar nicht sterben.

„Das Blut der Dämonen-Fürstin, willentlich übergeben an meine Herrin, ihre Meisterin und Erschafferin", sagte Rowan und ich sah zu, wie die blutbesudelte Nasrin zu Hel lief und ihr eigenes schwarzes Blut in einen goldenen Kelch laufen ließ. Ihre Wunde verschloss sich von allein und mit einem kräftigen Schluck leerte Hel den Kelch, leckte sich das Blut von den Lippen und wirkte jetzt schon kräftiger, mächtiger.

Das geschah also wirklich.

Ich hatte angenommen, irgendwie würde das alles verhindert werden können. Ein Teil von mir hatte ganz naiv gehofft, irgendwer würde uns noch retten, aber es war zu spät.

Ich fehlte als letzte.

„Und nun das Blut und die Macht der Diebin, zurückgenommen von meiner Herrin, von der die Macht gestohlen wurde", sagte Rowan, der den Dolch wieder an sich nahm und nun Hel in die Hand drückte. Ich wollte stark wirken, aber das gelang mir nicht gerade gut mit den vielen Tränen und dem Erbrochenen vor meinen Füßen.

Ich sah erbärmlich aus und es sollte mich mehr stören, aber nach dem, was ich hier erlebt hatte, war es mir egal. Nach so einem Anblick konnte keiner stark sein.

Rowan lief auf mich zu und ich wimmerte vor Angst, was nicht besser wurde, als er mich an den Haaren packte und meinen Kopf in den Nacken zog, meinen Hals präsentierte. Für was ahnte ich und es gefiel mir nicht.

Nach Ersticken und Erstechen war der nächste Tod also eine Klinge durch den Hals.

Wunderbar.

„Wieso? Wofür all das?", hauchte ich an Rowan gerichtet, musste es wissen, wollte verstehen, was hier geschah. Ich wollte wissen, was ich je falsch getan hatte, um all das zu verdienen. Wann genau hatte ich in meinem Leben solch einen gravierenden Fehler begangen, um nun so zu enden?

„Du wolltest nicht kooperieren, also hole ich die Kraft aus dir, die du gestohlen hast. Du hättest auch einfach bei mir sein können. Dann hättest du leben dürfen und mich im Gegensatz mit Macht versorgt, aber so ist es besser. Am Ende sollte es immer so sein. Du hättest nie leben dürfen. Wir bringen alles ins Gleichgewicht zurück, wenn wir das zurückgeben, was du gestohlen hast", sagte Rowan.

„Ich habe nichts gestohlen!"
„Dir das zu erklären wäre so kompliziert, lass es uns einfach beenden. Hat sie ihre Kraft zurück, bekomme ich das, was ich will."
„Malia", sagte ich und er lächelte grimmig.

„Ist Hel wieder in alter Stärke zurück, wird sie die Seelenbindung zwischen Malia und Kellin zerbrechen und ich binde mich an sie. Sie wird mir gehören, für immer."

Das war krank.

All das hier war krank.

Ich sah mit geweiteten Augen zu Hel, die nun vor mir stand und mich beinahe bedauernd ansah.

„Sei froh, dass es so endet. Hätte sie dich zuerst in die Hände gekriegt, würde es schlimmer werden", sagte sie beinahe fürsorglich, streichelte mein Gesicht dabei und ich verkrampfte mich von der Berührung, spürte, wie die Dunkelheit, wie dieser eine Teil in mir, von dem ich Iran gerade noch erzählt hatte, unruhig wurde, als ob er zu ihr wollte.

Vielleicht hatte ich ja doch etwas gestohlen.

Nur erinnerte ich mich nicht daran, wann das geschehen sein sollte.

„Sie... wen meinst du?", fragte ich verängstigt.

Bitte gib mir Antworten. Wenn ich sterben muss, sag mir das, was ich wissen will. Bitte.

„Deine Mutter. Helena nennt sie sich, nicht wahr? Welch ironischer Name. Sie hat nie loslassen können, aber ich komme ihr nun zuvor. Sie wollte nur immer deine Macht haben. Denk nicht für einen Moment, dass sie dich je schützen wollte, alles, was sie je wollte, war deine Kraft. Sie musste nur wie wir alle ein paar Umwege dafür gehen."
„Sie hat mich gehen gelassen", sagte ich. Würde sie meine Kraft haben wollen, hätte sie genug Gelegenheiten dafür gehabt und sie nie genutzt. Helena war nicht perfekt, ganz und gar nicht sogar und was ihre Absichten waren, war mir schleierhaft, aber bisher hatte sie mich in Frieden gelassen.

„Weil sie geschwächt war. Durch das Brechen deines Bannes bekam sie neue Kraft. Wir waren nur schneller als sie und das mit viel Glück. Ich hatte meine Hoffnung auf Rowan hier schon beinahe verloren." Tadelnd sah sie Rowan an, aber ich begriff immer noch so vieles nicht.

„Was will meine Mutter mit meiner Kraft?"

„Das, was wir alle wollen. Gerechtigkeit, ein Weg nach Hause. Du bist der Grund, weswegen wir alle verdammt und verloren sind. Aber jetzt ist Schluss damit. Ich hole mir das zurück, was mein ist."

Sie setzte die Klinge an meinen Hals an und ich atmete immer abgehakter, drohte zu hyperventilieren und ich schloss ängstlich die Augen.

Ich stellte mir schöne Dinge vor, versuchte mich von ihnen umhülle zu lassen wie von dem Licht gerade, als Rowan mich mit der Dunkelheit foltern wollte.

Ich ließ forttreiben. Ich ließ mich weg von diesem Ort bringen, wo es nur Schmerz und Tod gab.

Vor mir sah ich einen weißen Palast in einem Reich voller Blumen, wo der Himmel rosa leuchtete und alles friedlich und perfekt war. Ich kannte diesen Ort. Es war ein Zufluchtsort von mir in vielen Träumen gewesen. Hier würde ich gern sterben. Hier könnte ich verweilen, wenn Hel mich nun hinrichtet.

Ich sah mich selbst in einem wunderschönen Zimmer des Palasts wieder, von wo aus man einen herrlichen Ausblick auf all das Grün dort draußen hatte und in dem sich ein Mann befand, der diesen Ausblick begutachtete, fast als würde er mit seinen Blicken nach etwas suchen, nach jemanden suchen.

Nach mir.

Er suchte nach mir.

Ich wusste nicht so ganz, wie ich das wissen konnte.

Ich wusste ja nicht einmal wirklich, wer er war, aber ich kannte ihn.

Ich kannte ihn und er kannte mich, ich wusste das. Ich spürte das. Ich spürte hier vor ihm dasselbe sichere Gefühl wie in dem Kokon aus Licht. Es war beinahe so, als ob dieses Licht von diesem Ort gekommen wäre. Er könnte mir helfen. Ich wusste, dass er mir erneut helfen könnte, dass er mir helfen wollte, nur müsste er mich finden. Er müsste mich sehen.

„Hier. Ich bin hier. Hilf mir. Hilf mir. Hilf mir."

Ich schrie ihm die Worte regelrecht entgegen, war mehr wie ein Schatten in dieser Welt als wirklich dort. Ich wusste nicht, ob er mich hören könnte, aber ich schrie nach ihm, schrie und schrie und schrie und der Wind trug meine Stimme, verwandelte sie in eine herrliche Melodie, die der meiner Spieluhr nicht unähnlich klang.

Er hörte es.

Er konnte die Musik hören, erstarrte vor Schock, als er die sanften Töne hörte, als er realisierte, dass er nicht allein war. Er ließ seinen Blick wandern und geleitet von der Musik fiel sein Blick endlich auf mich.

„Hilf mir", flehte ich ein letztes Mal mit schwacher Stimme und meine Welt zerfiel.

Ich war zurück in meinem Körper, spürte die Klinge an meinem Hals, spürte wie kalt sie gegen meine erhitzte Haut drückte, und gerade als ich dachte, das wäre es nun gewesen, knallte es. Ein Gewitter war aufgezogen.

Ich öffnete die Augen und sah, wie Blitze den Himmel erleuchteten, Donner die Erde zum Beben brachte und nicht nur das. Schreie ertönten in den Reihen als mehrere Menschen das Ritual störten, angriffen.

Rowan wich von mir und genauso Hel. Ich sah mit großen Augen zu dem Chaos und während Hel das Weite suchte, so schnell verschwand, dass ich es kaum merkte, versuchte Rowan unter seinem Umhang nach seiner Waffe zu greifen, als er da jedoch an der Schulter von einer Kugel getroffen wurde.

Ich schrie, als mir sein Blut ins Gesicht spritzte. Ich schrie als ich sah, wie Leute vor mir starben.

Das hier war wie in einer dieser biblischen Geschichte. Als ob das Jüngste Gericht vor uns erschienen wäre.

Sollten die Götter uns doch richten. Es war mir gleich.

Weniger egal war mir jedoch meine Situation in diesem Moment. So festgebunden während einer Schießerei zu sein war nicht gut. Da könnte Hel mir gleich die Kehle aufschneiden.

Ich versuchte mich gegen den Mast hinter mir zu pressen, sah verschreckt die vielen Leute um mich herum an, als sich plötzlich jemand vor mich stellte, den ich nach kurzem Überlegen erkannte.

Luc.

Er war ein Wanderer.

Er hatte mich damals aus dem Haus Rowans gerettet, als ich dort wegen meiner Bindung zu diesem halb vergangen wäre.

Waren die Wanderer erneut zu meiner Hilfe gekommen?

„Halte still!", wies er mich an und schnitt mir die Fesseln los. Ich wäre fast nach vorne gefallen, so sehr zitterten meine Knie, aber er hielt mich fest und zog mich mit sich.

„Was passiert hier?", fragte ich, folgte ihm.

„Wir verhindern, dass Hel deine Kraft kriegt."
„Wohin bringst du mich?"
„Zu deiner Mutter."

„Meine Mutter?", fragte ich schrill, wollte mich losreißen. Er musste mir nicht sagen, welche Mutter er meinte. Ich wusste, dass es sicher nicht meine liebenswerte Mutter mit dem Nachnamen Noir sein würde. Und ich wollte gewiss nicht in die Arme von Helena, zu der nächsten Verrückten, die irgendwas von mir möchte, was ich nicht bereit war herzugeben.
„Wenn du hier bleibst, wird es zu riskant. Du bist das letzte fehlende Stück für ihr Ritual..."

Weiter kam er nicht, als er angeschossen wurde, mich daraufhin schreiend losließ.

Ich war ja dankbar für die Rettung, aber ich würde mich nicht erneut entführen lassen! Schon gar nicht zu Helena Aasen.

Ich rannte deswegen los, fixierte den Wald und rannte so schnell ich es konnte. Ich musste einfach nur weg. Ich musste weg, bevor ich selbst erschossen wurde, bevor mich jemand kriegt und für das nächste Ritual missbraucht oder bevor mich einer der Blitze treffen konnte, die immer noch wild und unnatürlich über den Himmel hinwegfegten.

„Grace!"

Als ich Reeds Stimme hörte, stoppte ich.

Ich drehte mich zu ihm, wie er durch das, was von dem Ritual übriggeblieben war, auf mich zu rannte, und ich sank erschöpft und erleichtert auf den Boden, streckte hilflos meine Arme nach ihm aus. Er fiel vor mir auf die Knie, riss mich in seine Arme und ich klammerte mich an ihn, weinte bitterlich und wollte nur noch fort von hier. Ich wollte aufwachen und sehen, dass alles ein Traum gewesen war. Iran sollte selben, Nasrin sollte gut sein. Ich wollte nur Frieden und so ließ ich mich von ihm forttragen, egal wohin, einfach nur weg.


Wörter: 4084

Aloha :) Jaa... das war wohl knapp. Das nächste Kapitel ist aus Reeds Sicht und zeigt mal, was in der Zwischenzeit bei ihm so passiert ist. Eure Meinung bedeutet mir super viel. Donnerstag geht es weiter xx


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