1. Zurück ins Haus

"I can't exactly describe how I feel, but it's not quite right. And it leaves me cold." - F. Scott Fitzgerald

Reed

Die Wahrheit.

Nach fast einem Jahr, wo Alice hier war und ich Vermutungen über Vermutungen hatte, wer sie war, was mit ihr geschehen ist, hatte ich ihr endlich die Wahrheit verraten. Ich hatte ihr Antworten zu den vielen Fragen gegeben, die sie geplagt hatten. Ich hatte ihr erzählt, was ich alles verborgen hatte, wer sie war.

Sie war mein ganzes Leben.

Sie war die Antwort zu meinen Fragen.

Sie war die einzige Person, die ich je geliebt hatte und je lieben würde.

War diese Wahrheit nur das richtige gewesen? War es richtig gewesen, reinen Tisch zu machen?

Ich hatte mir nichts mehr gewünscht, als mit den Lügen und Geheimnissen aufhören zu können und sicher hatte es viele denkbar bessere Momente gegeben, um das zu bewirken, aber es war von Anfang an mit einem hohen Risiko verbunden gewesen und das wurde mir nun zu deutlich.

Sie war fort. Die Sonne war unten, die Wahrheit war draußen und Alice war fort. Beim ganzen Chaos, dem Streit war sie davongerannt und ich hatte vermutlich das Schicksal damit besiegelt. Meine Wahrheit hatte sie in die Finsternis getrieben, damit in die Gefahr.

Ich hatte ihr angesehen, wie jedes meiner Worte sie mehr und mehr verwirrt hatte. Sie war verängstigt, verwirrt und überfordert gewesen und nun war sie irgendwo dort draußen, verlor den Verstand und ich wusste nicht, wo ich sie suchen sollte, was ich machen sollte, ob es nicht längst zu spät war.

Acyns Faust traf mich hart im Gesicht. Ich hatte nicht die Kraft auf den Beinen zu bleiben und flog zu Boden, spürte, wie Blut aus meiner Nase tropfte. Das hatte ich verdient.

„Ich bringe dich um! Ich werde dich verdammt nochmal umbringen!", schrie er und schlug nur deswegen nicht weiter auf mich ein, weil Riley ihn von hinten packte und zurückzog.

„Das bringt doch niemandem was", versuchte er seinen Bruder zu beruhigen. „Wir müssen Alice suchen und uns nicht gegenseitig die Zähn ausschlagen."
„Und wo sollen wir sie verdammt nochmal finden? Sie kann überall sein, sie hat kein Handy bei sich zum orten, es ist dunkel, genug Leute würden sie immer noch liebend gern angreifen und wegen diesem Bastard ist ihr Kopf Pudding!"

„Wir gehen ins Quartier", sagte Riley beherrscht ruhig. „Wir müssen Warren Bescheid geben, außerdem sind unsere Großeltern noch dort, wir müssen ihnen sagen, was geschehen ist!"

„Ich wollte nur, dass sie weiß, wer sie ist", murmelte ich ganz verwirrt von dem Chaos, saß dabei wie ein Häufchen Elend auf dem Boden, ähnlich wie Elin, die schockiert darüber war, was soeben passiert ist.

Damit hatte nun wirklich keiner gerechnet.

Von allen Möglichkeiten, wie dieser Tag hätte enden können, war das nicht auf meiner Liste gestanden.

„Kann mir irgendwer verraten, was hier los ist?" Auch das noch.

„Lilien, das ist nicht der richtige Zeitpunkt", sagte Acyn gereizt, als diese ins Zimmer trat, aber Lilien sah nur kritisch zwischen uns allen hin und her und ließ sich nicht abwimmeln.

„Alice hat mich gerade halb umgeworfen und ist hysterisch nach unten gerannt. Reed Wentworth blutete den Teppich hier voll und ihr seht alle aus, als ob ihr dabei wärt, jemanden gleich umzubringen. Ich verlange also zu wissen, was los ist!"

„Das wüssten wir auch gern. Was ist geschehen?", fragte Kellin, der mit Malia an der Seite eingetreten kam. Unser Streit musste sicher alle alarmiert haben, denn auch Hayden und Sam kamen dazu. Wenn man uns also selbst nebenan gehört hatte, musste hier wirklich Chaos herrschen.

„Acyn und ich gehen ins Quartier, am besten kommst du mit, Lilien, dann informieren wir dich darüber, was geschehen ist", antwortete Riley, ignorierte die anderen. Er kniete sich anschließend zu Elin herab und flüsterte ihr was zu, was ich nicht hören konnte, und diese nickte nur ganz benommen, richtete sich auf und folgte den beiden Brüdern und Lilien aus dem Zimmer, so dass wir anderen zurückblieben.

„Was ist los, Reed?", verlangte Kellin zu wissen, als ich mich langsam aufrichtete. „Wo ist Alice? Was ist geschehen?"
„Sie ist weg."

„Weg? Was soll das heißen?"

Ich konnte jedoch nicht antworten, da in dem Moment mehrere Dinge gleichzeitig geschahen. Zum einen sackte Malia bewusstlos in sich zusammen, woraufhin Kellin panisch ihren Namen schrie und sie gerade noch so auffing, bevor sie auf den Boden krachen konnte, und ich spürte wiederum ein Gefühl, das ich seit 125 Jahren nicht mehr gespürt hatte. Das Gefühl die Seelenbindung zu verlieren.

Als ob etwas Schreckliches geschehen würde merkte ich, wie die Bindung zwischen Alice und mir zu verschwinden drohte.

Hayden rief meinen Namen und versuchte mich zu halten, als ich auf die Knie fiel, erschrocken und ganz überwältigt vor Schock und Schmerz sie zu verlieren.

Ich verlor sie.

Bei den Göttern. Ich verlor sie.

„Nein", hauchte ich, wollte mich aufrichten, nur fehlte mir die Kraft, ich war völlig verstört von dem Gefühl, wie Alice mir entglitt, wie ich sie verlor.

„Sie entgleitet mir", murmelte Malia ganz benommen mit geschlossenen Augen. „Ich habe die Bindung zu ihr verloren."

„Was ist los? Was ist los, Reed?" Hayden schrie mich an, schien es noch nicht kapiert zu haben. Er schien die Teile noch nicht so wie alle anderen im Raum zusammengesetzt zu haben

„Ihre Bindung zu Alice ist fort", sprach Sam es aus. „Bedeutet das..."

„Sie kann nicht... sie darf nicht...", brachte ich hervor, erstickte halb an den Worten und presste meine Hand auf mein Herz als ich glaubte, dieses würde mir aus dem Brustkorb gerissen werden. Ich wollte sterben. Bei den Göttern, ich wollte sterben, das war zu viel. Dieser Schmerz... es war alles zu viel.
„Ist sie tot?", sprach Hayden das aus, was ich nicht wahrhaben wollte, was wir jedoch alle befürchteten.

„Nein... nein, das ist unmöglich... sie kann nicht... sie darf nicht..."
„Egal was los ist, es ist nicht gut", knurrte Kellin und presste die halb bewusstlose Malia fester an sich. „Finde sie also!"

„Wo kann sie denn sein? Was ist überhaupt passiert?" Hayden sah mich fragend an. Keiner hatte mitgekriegt, dass ein paar Stockwerke über ihnen alles aus mir herausgebrochen war.

„Ich habe ihr die Wahrheit gesagt."
„Du hast was? Wieso würdest du das tun?"

„Bist du verrückt geworden?"

Allein Kellin blieb halbwegs gefasst. „Spielt gerade keine Rolle. Wo würde sie hingehen, wenn sie verwirrt ist und durcheinander und Gefahr läuft von ihrem alten Leben heimgesucht zu werden?" Er klang mehr als nur gereizt und mir fiel es schwer mit der wachsenden Leere, der Angst und einem herandrohenden Zusammenbruch klar zu denken, dennoch fiel mir die Lösung ein. Seine Wortwahl half mir, auf die Antwort zu kommen.

Damals wäre sie hierhergekommen, dann war das ihre Zuflucht gewesen. Wenn es bei uns alles zu viel für sie geworden wäre, dann war Grace immer ins Haus der Noirs geflohen. Das hier war ihr Zufluchtsort gewesen. Aber nun wollte sie von hier weg und das vermutlich an nur einen Ort.

„Nach Hause... sie würde nach Hause gehen."



Kellin blieb bei Malia, um sicherzugehen, dass es ihr auch wirklich gut ging. Sam blieb bei ihm, zum einen falls es ihr doch nicht besser gehen sollte, und zum anderen um in der Zwischenzeit das Haus abzusuchen, falls wir uns alle doch getäuscht haben sollten und sie eigentlich doch irgendwo hier wäre.

Ich hingegen wartete gar nicht weiter ab. Ich versuchte vor Panik nicht durchzudrehen und lief mit Hayden an meiner Seite geradewegs zum Irrgarten. Ich war mir so sicher, dass sie im Haus war, dass sie in diesem verdammten alten Anwesen im Quartier war. Nur was war dort geschehen? Wieso spürte ich sie nicht mehr? Wer hatte ihr was angetan?

Das war wie ein Déjà-vu. Wie 1895 auch rannte ich zu diesem Haus, wissend, dass was auch immer dort auf mich wartete, mich zerstören würde. Wissend, dass es meine eigene Schuld war.

Als ich sah, wie das Tor zum Garten offenstand, wurde mir sofort klar, dass Alice hier gewesen ist, dass sie wirklich auf dem Weg zum Haus war.

Der ganze Irrgarten schien unruhig. Die Büsche raschelten, ein Wispern schien in der Luft zu hängen und ich lenkte mich von dem Schmerz in mir, der Panik ab, in dem ich Hayden notdürftig erzählte, was geschehen ist. Nur mit dem Licht unserer Handys eilten wir in der Dunkelheit durch den Garten, geradewegs in das Dorf. Dass der sonst verwachsene Durchgang zu diesem nun auch offen war, wunderte mich nicht.

„Was ist ihr passiert?", fragte Hayden ehrfürchtig. „Wieso ist sie... was kann ihr geschehen sein?"

Ich hatte darauf keine Antwort. Wenn sie in dieses verdammte Haus gegangen war, wollte ich nicht wissen, was passiert ist. Das letzte Mal, als ihr Verstand mit ihr durchgegangen ist, ist sie in diesem Haus gestorben. Sie war verwirrt und allein und in der Lage sich was anzutun. Ich erinnerte mich bestens an vergangene Zeiten, wo man sie nie allein lassen konnte, wo sie eine Gefahr für sich selbst gewesen ist.

Genau davor hatte ich sie immer nur schützen wollen. Ich war egoistisch gewesen und hatte mir sehnlichst gewünscht, sie würde sich erinnern, aber einer der Gründe, weswegen ich es auch so gern verbogen gehalten hatte, war weil sie eine zweite Chance auf Normalität bekommen hatte. Sie hatte frei sein können, gesund und nun? Nun war alles zerbrochen.

Wir begegneten unterwegs niemanden, doch als ich das Haus sah, das ich am liebsten nie wieder sehen wollte, das mich in genug meiner Albträume heimsuchte, drehte mein Magen sich.

„Da brennen Lichter oben."
„Es hat auf uns alle gewartet", murmelte ich und zögerte nicht weiter. Sie war hier und ich würde zu ihr gehen. Nichts und niemand würde mich davon abbringen können, zu ihr zu gelangen.

Hayden hatte Mühe Schritt zu halten, als er mir in das verdammte Haus folgte. Kaum waren wir innen, versuchte ich die Vergangenheit auszublenden, mich nicht von alten Erinnerungen heimsuchen zu lassen. Ich schrie nach Alice, nach Grace, worauf auch immer sie reagieren würde. Ich rannte hinauf und sah zu der offenen Tür am Ende des Ganges, eilte dorthin und prallte gegen eine unsichtbare Wand, die mich fast zurück auf den Boden schleuderte.

„Ich wusste, dass du auftauchen würdest." Mit einem kühlen Lächeln sah Helena Aasen von der anderen Seite der unsichtbaren Barriere zu mir. Die Tatsache, dass sie hier war und das mehr als lebendig hätte mich entsetzen müssen, nur lenkte der Anblick von Alice mich zu sehr ab.

Mein Magen drehte sich, meine Knie wurden weich und zum zweiten Mal sank ich auf die Knie, hielt mir die Brust, glaubte zu ersticken.

Dieser Anblick... mir wurde schlecht. Mir wurde so schlecht, dass ich drohte zu brechen, das Bewusstsein zu verlieren, den Verstand zu verlieren.

Sie war tot.

Sie war fort.

Helena musste sie auf den Schreibtisch, der einst mir gehört hatte, hochgehoben haben. Dort lag sie, immer noch in ihrem Schlafanzug gehüllt und mit einem Dolch, der bis zum Anschlag in ihrer Brust versenkt wurde. Ihr linker Arm hing schlaff herab und Blut tropfte von diesem nach unten. Eine viel größere Pfütze lag auf dem Boden, dort, wo sie wohl überhaupt erst erstochen wurde.

So unglaublich viel Blut.

Überall war Blut. Egal, wo ich auch hinsah, da war Blut. Der Boden, an Alice Oberteil, das regelrecht durchtränkt aussah.

Sie war tot.

Nein.

Nein, nein, nein.

Hayden ging neben mir zu Boden, fassungslos sah er zu Alice, die sich nicht rührte, Alice, deren Brust sich nicht mehr hob. Sie wirkte so blass im Licht der Kerzen und ich glaubte in diesem Moment sterben zu müssen. Ich starb. Ich wollte sterben. Hätte ich eine Klinge bei mir, hätte ich sie mir selbst in die Brust gerammt. Ich ertrug diesen Anblick nicht. Es war zu viel. Es war einfach zu viel.

„Du hast sie getötet", sagte Hayden angewidert. „Deine eigene Tochter."
„Ich hole sie nur zu mir zurück. 125 Jahre habe ich ohne sie gelebt, ich hole sie zu mir zurück nach Hause. Schluss mit diesen albernen Tarnungen. Die Zeit zum Verstecken ist vorbei. Die Dunkelheit hat sie längst gefunden, sie muss wissen, wer sie ist."
„Sie ist nicht tot", schlussfolgerte ich leise. Sie konnte es nicht sein. Helenas Worte ließen mich kurz hinter den Schmerz blicken. Sie gaben mir genug Kraft, dass ich innerlich richtig nach Alice tasten konnte. Wie damals 1895 auch war da dieser kleine Funke. Dieser winzige Funke, der mich nicht losließ, der mir zeigte, dass sie irgendwo war, dass sie nicht ganz fort sein konnte.

Er war von Anfang an da gewesen und Helenas Worte bestätigten es.

„Alice Noir ist tot", sagte sie. „Grace Solberg ist es nie gewesen."

Ich sah weiter nur zu Alice... zu Grace, verstand das alles nicht. Es war mir jedoch gleich. Solange sie lebt, war es mir egal. Ich wollte zu ihr, ich wollte sie atmen sehen, ich wollte in ihre Augen sehen, ich wollte sie halten und ihr sagen, dass alles wieder gut werden wird. Nur würde nach diesem Tag je irgendwas gut sein können?

Helena zog den blutigen Dolch aus Alice Brust und mir wurde nur noch schlechter von dem Anblick. Ich erhob mich, wollte durch die Barriere ins Zimmer, aber es war, als wäre Glas zwischen uns. Sehr robustes Glas.

„Versuch es nicht, meine Magie ist schwach geworden aber eine kleine Barrikade kann ich etwas aufrechterhalten. Du wirst gleich zu ihr dürfen. Bedauernswerterweise braucht sie dich, wenn sie aufwachen soll. Verdammte Seelenbindung, aber ich werde für sie kommen. Ich habe dich und dieses verdammte Quartier sie schon einmal stehlen lassen, dieses Mal wird es nicht so weit kommen!"

Soll sie es doch versuchen. Ich würde nicht zulassen, dass sie je wieder in ihre Nähe kommt. Nie wieder!

Helena fing an Worte zu murmeln, die ich nicht deuten konnte. Irgendwelche Hexensprüche ganz sicher. Das Zimmer erleuchtete. Als ob sie eine eigene Sonne kreieren würde, dessen Zentrum Alice...Grace war, wurden wir geblendet. Ich wollte hinsehen, wollte sie nicht aus den Augen verlieren, aber es war zu grell. Selbst, als das Licht weniger wurde, fiel es mir für einen Augenblick schwer, klar zu sehen, doch dann war sie da.

Da lag sie und sah genauso aus wie in meiner Erinnerung. Sie lag da, als ob die letzten hundert Jahre nie gewesen wären. Ihre Brust hob und senkte sich wieder gleichmäßig. Ihre Haut hatte wieder dieses Schimmern an sich. Ihr Haar war wie ein goldener Heiligenschein. Sie schlief. Sie schlief und war am Leben.

„Reed", sagte Hayden neben mir beinahe ehrfürchtig und ich setzte mich in Bewegung. Helena war fort. Wie und wohin wusste ich nicht. Es war mir egal. Mit ihrem Verschwinden war die Barrikade fort und ich konnte zu ihr und das war in dem Moment alles, was auch nur irgendwie von Bedeutung war.

Ewigkeiten hatte ich davon geträumt, Grace zu sehen, sie zu berühren und nun, wo der Moment da war, war ich zurückhaltend. Ich traute mich kaum meine Hände auszustrecken. Zum einen, weil ich befürchtete, das hier war nur ein Traum und wenn ich sie berühre, verschwindet sie für immer. Zum anderen hatte ich Angst, dass ich sie nie wieder loslassen würde. Würde ich sie einmal berühren, wäre ich verloren. Würde ich sie einmal halten, wäre ich verdammt.

„Sie ist hier... sie ist wirklich hier", hauchte Hayden fassungslos und zögernd nahm ich ihre Hand in meine und brach zusammen.

Ich weinte.

Ich weinte so bitterlich und erbärmlich.

Sie war echt. Ich hielt ihre Hand, spürte die Wärme ihres Körpers, spürte, wie mein Band zu ihr auf eine Weise aufging, die mich zu verschlingen drohte. Ich spürte sie. Voll und ganz. Es war nicht wie zuvor als sie Alice war. Als sie Alice war, war wegen dem Bann, den Illusionen immer eine Barrikade zwischen uns gewesen. Diese war nun fort. Mit einer gewaltigen Wucht spürte ich sie nun. Es war, als ob unsere Seelen erst jetzt wieder richtig vereint wurden und es war ein Gefühl berauschender als alles, was ich mir je erträumen konnte.

„Reed, wir müssen sie wegbringen!", sagte Hayden sachte. „Wenn sie aufwacht, wird sie sehr sehr verwirrt sein. Wir haben keine Ahnung, woran sie sich erinnert und wie es ihr geht. Sie wird Hilfe brauchen."
„Ich bringe sie nicht ins Quartier!" Dort waren zu viele, denen man nicht trauen konnte. Man würde sie nur betäuben und wie eine Verrückte behandeln. Ich hatte sie damals nicht grundlos vom Quartier weggeholt.

„Wohin dann? Bei ihrer Familie wird sie völlig überfordert sein. Wir können sie auch nicht zu ihrer anderen Familie bringen, das wird sie genauso verwirren... lass sie uns zu uns bringen! Mum und Dad sind nicht da. Wenn es nur wir sind, wird sie es vielleicht etwas leichter haben und dein Zimmer ist ihr vertraut."

Weil ich nicht wusste, was wir sonst für Möglichkeiten hätten und ich sie nicht eine Sekunde länger in diesem furchtbaren Haus lassen wollte, nickte ich. Ich küsste Graces Hand, strich über ihr gelocktes Haar, musterte ihr Gesicht und wünschte mir, sie würde die Augen öffnen. Gleichzeitig wäre es besser für alle, wenn sie fürs erste bewusstlos bleibt. Hayden hatte nun einmal recht. Sie würde sehr sehr verwirrt sein. Diese ganze Geschichte mit zwei Leben und sich an ein altes vergangenes so plötzlich wieder zu erinnern war schon schwer genug, doch sie war schon vorher sehr verwirrt gewesen. Rowan hatte sie vor über hundert Jahren um ihren Verstand beraubt, da würde alles zu viel für sie sein, genau davor hatte ich sie eigentlich nur beschützen wollen. Ich hatte ihr die Qualen ersparen wollen, ich hatte vermeiden wollen, dass sie so leben muss. Ich hatte nur gewollt, dass sie gesund und glücklich ist, ohne Tränke und Halluzinationen leben kann, dass sie sich nicht ständig fragen muss, was real war und was nicht. Nun war dieser Wunsch dahin, aber ich würde bei ihr sein und ihr helfen und sie niemals wieder allein lassen.

Vorsichtig hob ich sie hoch und hätte fast nur wieder geweint von dem Gefühl, ihren ganzen Körper so bei mir haben zu können. Oh, ich wollte sie reden hören.

„Schaffst du das?", fragte Hayden und ich sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. Meinte er das ernst? Wenn ich in einer Sache geübt war, dann darin, sie zu tragen. Sie war sicher nicht leicht, aber ich würde sie niemals fallen lassen.

„Dann los!"

So schnell es möglich war folgte ich Hayden nach unten und aus diesem Höllenhaus heraus. Kaum waren wir draußen, schlossen die Türen sich hinter uns selbst, die Lichter erloschen.

Du verdammtes Haus kannst bis in alle Ewigkeiten darauf warten, dass wir zurückkommen würden.

Wir liefen den Weg durch den Irrgarten zurück, nahmen dort nur die Abzweigung, die zu unserem Haus führen würde.

Hayden hatte recht, dass keiner da war und problemlos ohne gesehen zu werden schafften wir es nach oben, wo ich Grace behutsam auf mein Bett ablegte und mich zu ihr setzte, ihre Hand ergriff.

„Wir müssen den anderen sagen, dass sie wohlauf ist."
„Erst, wenn sie wach ist."
„Und wenn es ihr schlecht geht?"

Ich wollte Hayden gern begreiflich machen, wie ungern ich das Quartier in ihrer Nähe haben wollte, aber ich wollte nicht vor ihr streiten, selbst wenn sie bewusstlos war.

„Lassen wir sie erst ruhen. Sie sollte von allein aufwachen dürfen und nicht von diesen Leuten zerdrückt werden mit Fragen und deren Nähe. Es könnte sie ängstigen."

„Na gut, dann komm mit, ich denke, wir zwei haben einiges zu bereden, bevor sie aufwachen wird."

Nur widerwillig ließ ich Graces Hand los und folgte Hayden in sein Zimmer gegenüber.

„Wie wird es weitergehen? Angenommen ihr geht es gut mit allem, dann was? Helena will sie wieder haben, andere Dunkle Mächte gewiss auch und dann ist da immer noch alles, was damals war. Für sie sind vermutlich keine 125 Jahre vergangen. Sie wird sicher immer noch geistig irgendwo 1895 sein und Fragen haben."
„Wir werden viel reden müssen. Ich weiß das, ich weiß zwar nicht, wo man anfangen soll und wie sie mir irgendwas je verzeihen könnte, aber ich werde alles geben."
„Ihr seid im Streit auseinandergegangen", sagte Hayden besorgt und ich erschauderte an die grausamen Erinnerungen damals.

„Und das werde ich nie wieder zulassen."

„Weiß ich doch, aber-" Er verstummte und ich wusste genau wieso. Wir hörten beide, wie jemand hastig die Treppen hinabeilten und sofort riss ich alarmiert die Tür auf. Meine Zimmertür stand offen, von Grace fehlte jede Spur.

„GRACE!"


Wörter: 3285

Aloha :) Das erste richtige Kapitel. Ich hoffe es hat euch gefallen. Sooo, aus Alice wird Grace, das wird für euch und für mich eine kleine Umstellung sein. Mir wird es sehr fehlen nicht mehr ständig Alice zu schreiben...

Als kleine Warnung, ihr habt denke ich oft genug in den Teilen vorher mitbekommen, dass Grace etwas labil ist, es wird also vor allem am Anfang schwer für sie sein (was denke ich klar ist), aber ich verspreche euch, dass es in diesem Buch nicht nur um ein verängstigtes Mädchen gehen wird. Ihr müsst etwas Geduld mit ihr haben, es soll ja alles etwas glaubwürdig sein. Das Buch wird sowieso ziemlich lang werden, da ist also genug Platz für so einige Entwicklungen. Eure Meinung würde mich sehr interessieren, Freitag geht es weiter xx


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