9. Die Plagen der Reiter
"I carry a yearning I cannot bear alone in the dark— What shall I do with all this heartache?" — Joy Harjo
„Wohin fahren wir?" Ich sah besorgt aus dem verdunkelten Fenster neben mir, sah zur Schule, an der wir vorbeifuhren und vor der wirklich ein Großeinsatzkommando der Polizei versammelt war.
Noch nie hatte ich so etwas gesehen. Noch nie hatte ich etwas so Dramatisches erlebt.
Wie rücksichtslos handelten die Reiter nun bitte, dass sie so viele Unschuldige in die Sache mithineinzogen? So viele Ahnungslose? In diese Schule gingen Kinder! Unzählige Kinder, die absolut nichts für irgendwas die Schuld trugen. Das war ein Kampf zwischen unseren Seiten. Normale Menschen sollten damit nichts zu tun haben müssen. Wenn Rowan mich so dringend haben wollte, dann sollte er mich einfach von meinem Haus holen. Wäre das nicht einfacher?
Ob es allen gut ging? Am liebsten wollte ich aussteigen und jeden suchen, der mir auch nur halbwegs wichtig war, aber das wäre töricht. Immerhin wusste ich, dass Dari längst Schulschluss hatte und nicht mehr hier wäre. Eine Person weniger, um die ich mich zu sorgen hatte.
„Zum Quartier. Du bleibst dort. Dort ist es derzeit zumindest sicherer als hier", sagte Kellin knapp.
Ich war erleichtert über diese Antwort. Ich hatte Angst gehabt, er könnte mich irgendwohin bringen, wo ich nicht hinwollte. Das Quartier klang gut. Ich wollte meine Familie sehen und diese beruhigen, dass es mir gut ging, auch wenn es seltsam werden würde zu erklären, wem ich das verdanke.
Cameron würde durchdrehen.
„Und was wirst du machen?"
„Nichts, was dein Problem ist", sagte Kellin, ignorierte mich ab da lieber und sprach mit seinem Fahrer.
„Kontaktiere dann Kilian und sag ihm, ich habe eine Waffenlieferung für ihn. Das wird ihn glücklich stimmen. Kate weiß wegen dem Treffen später Bescheid, du musst ihr aber helfen. Du weißt, wie sie die Dinge regelt. Wir können uns keine Fehltritte erlauben."
„Und die Kleine ist wirklich sicher im Quartier?", fragte der Fahrer, der mich durch den Rückspiegel interessiert musterte. Er sah aus, als wäre er gute zehn Jahre älter als ich. Dunkle Haut, dunkles Haar und so wie er sprach und mir kurz durch den Spiegel zuzwinkerte, hielt er sich wohl für unwiderstehlich.
„Sorg dich nicht um sie, Paul", murrte Kellin.
„Ich bin nur überrascht, wie ähnlich sie Malia sieht. Nur plappert sie zu viel. Malia wäre schon längst eingeschüchtert gewesen und hätte nur geredet, wenn du als ihr starker Beschützer sie in die Arme geschlossen hätte." Frech grinste er, während er das sagte, eindeutig drauf aus, Kellin zu provozieren.
Dieser warf ihm einen warnenden Blick zu und sofort verstummte dieser Paul wieder.
Er kannte immerhin Malia. Noch von damals oder weil sie in der Zwischenzeit längst hier gewesen ist? Würde ich fragen, würde ich sicher keine Antwort bekommen oder Kellin nerven, was verlockend klang, aber ich wollte mein Glück nicht zu sehr auf die Probe stellen. Ich traute ihm zu, dass er mich aus dem Auto wirft und nach Hause laufen lässt.
Wir näherten uns dem Quartier und ich war froh, dass wir gleich da waren. Ich war zwar dankbar, dass Kellin mich gerettet hatte, aber seine Nähe stimmte mich immer noch nervös. Ich wollte nur fort von ihm und seinem zwielichtigen Freund.
„Was unternimmst du wegen meines Bruders?"
Ich sah überrascht zu Kellin nach vorne, als er das Wort wieder an mich richtete und mich ausgerechnet das fragte. Ich hatte angenommen, er würde irgendwas tun, um ihm zu helfen.
„Nichts. Was sollte ich schon unternehmen?"
„Du wirst ihn in der Zelle verrotten lassen?" Er sah mich an, als würde er mir nicht glauben. Sicher war es schwer vorstellbar. Er wusste genau, wie es war, einen Seelenpartner zu besitzen. Ich meine, mir tat es schrecklich weh, wenn ich nur daran dachte, wie Reed in dieser kleinen, kalten und feuchten Zelle saß, allein. Ich wollte ihn retten, ich wollte ihm helfen, aber zum einen war ich machtlos und zum anderen war er immer noch böse und gefährlich, wenn auch nicht auf die Weise, wie ich es immer angenommen hatte. Ihn nach draußen zu lassen wäre trotzdem selbstsüchtig, waghalsig und es könnte vielen unschuldigen Leuten das Leben kosten. Ich kannte seine Pläne nicht. Nur weil er mich verschonte bedeutete das nicht, dass andere ihm auch wichtig waren.
„Er hat sich selbst in diese Lage gebracht", murmelte ich zerknirscht, wollte nicht darüber reden müssen.
„Und deswegen willst du ihn nie wieder sehen?"
„Ich darf nicht so selbstsüchtig sein. Befreie ich ihn, könnten viele Leute sterben." Sicher war Kellin das egal. Sie waren immerhin beide verrückt.
„Wir sehen uns wieder, wenn du deine Meinung geändert hast", lachte er, schien mir nicht zu glauben. „Ruf einfach diese Nummer an, dann reden wir weiter. Und ahja... du solltest besser nicht erwähnen, wer dich heute gerettet hat. Dein nettes Quartier wird meine heldenhafte Tat vermutlich nur als Teil eines dunklen Plans betrachten und dich zu sehr im Auge behalten. Ich kann es nicht gebrauchen, dass du mir Spione des Quartiers aufdrückst."
Ich nahm den Zettel entgegen, den er mir reichte, steckte ihn weg und würde sicher nicht darauf eingehen. Wenn ich mit ihm zusammenarbeite, würde ich garantiert in einer Zelle neben Reed landen. Irgendwann würde man mir meine Fehler auch nicht mehr verzeihen.
„Was auch immer", murrte ich und stieg aus, kaum stoppte das Auto ein Stück vom Haupteingang entfernt. Kellin sagte nichts mehr und ich erwartete auch nichts weiter. Sein Freund sah mich einen Moment interessiert an, aber auch er schwieg. Es gab rein gar nichts zu sagen.
Ich lief zum Eingang, realisierte dabei erst so richtig, dass meine Tasche in der Schule zurückgeblieben war.
Die Schule... was dort wohl gerade vor sich ging? Ich beschleunigte mein Tempo und eilte regelrecht an den Wachen vorbei nach innen, oder zumindest wollte ich es. Vorher wurde ich noch genaustens kontrolliert, als ob man mich noch nie zuvor an diesem Ort gesehen hätte.
„Alice, den Göttern sei Dank geht es dir gut", rief Mrs Flores, kaum erblickte sie mich in der Eingangshalle. Ich ließ mich von ihr in die Arme schließen, als sie den Empfangstresen umrundete, und es war ein herrliches Gefühl. Ich glaubte, der Schock von dem ganzen Angriff würde erst langsam einsetzen und ich wollte von den Ereignissen weinen und mich in einer Ecke verkriechen vor Angst, was mir noch blühen würde, blieb jedoch standhaft.
„Na komm, wir bringen dich zu Warren. Alle sind so besorgt. Wir dachten, sie hätten dich auch geschnappt."
„Auch? Wen haben sie denn?", fragte ich besorgt. Ich dachte an Hayden und ich wollte mich übergeben vor Angst, sie könnten ihm was angetan haben. Wenn ihm was passiert ist...
„Reyna und so wie es aussieht ein Junge aus deinem Jahrgang, er heißt Darren oder so ähnlich."
„Dawson?", fragte ich schrill und sie nickte.
„Genau, Dawson war der Name."
Ich wurde blass, aber das konnte nicht sein, nicht Dawson. Sie hatten ihn bekommen und nun? Was würden sie ihm antun?
„Wohin haben sie sie gebracht?"
„Wir wissen es nicht. Wir wissen gar nicht, wie wir vorgehen sollen. Wir hatten mit einem Anschlag auf unsere Einrichtungen gerechnet, nicht auf eine Schule. Es ist ein Wunder, dass keiner gestorben ist. Wie konntest du nur entkommen? Wir waren uns so sicher, dass sie dich ganz sicher haben wollten."
„Ich konnte rennen", murmelte ich, wollte Kellin nicht erwähnen. Wie sollte ich schon erklären, dass Kellin mich gerettet hatte? Ich hatte keine Lust, dass mich am Ende irgendwer verdächtigt, mit ihm zusammenzuarbeiten und viele andere Erklärungen würde es für seine Hilfe nicht geben. Er meinte ja selbst, dass man in ihm nicht das Gute sehen würde, was ich total verstehen konnte. Ich verstand ja selbst nicht so ganz, was er von mir wollte.
Sie gab sich mit der Antwort zufrieden, ob es die anderen auch würden, war zweifelhaft.
Sie führte mich zu Warrens Büro und als ich nach einem Anklopfen eintrat, fand ich in diesem bereits meine großen Brüder vor.
„Alice", riefen beide erleichtert aus und ich wurde in ihre Arme gezogen.
„Hey ihr zwei", sagte ich und presste mich an die zwei, die krank vor Sorge gewesen sind.
„Dir geht es gut."
„Wir dachten schon..."
„Wie konntest du entkommen?"
„Ich bin gerannt, zusammen mit Dawson aber ihn haben sie wohl erwischt", nuschelte ich, war in schrecklicher Sorge um diesen und auch um Reyna. Was war nur in sie gefahren, dass sie glaubte, es allein mit den Reitern aufzunehmen?
„Er und Reyna waren mit dir die einzigen, die nicht gefunden wurden", sagte Acyn bedauernd.
Also bedeutete das, alle anderen waren wohlauf. Keiner war tot, keiner sonst wurde vermisst. Hayden ging es gut.
Eine unheimliche Last fiel damit von meinen Schultern, die nur gleich zurückkam, als ich an meine anderen Freunde in Gefangenschaft dachte.
„Was werden sie ihnen antun?"
„Wenn das nur einer wüsste", sagte Warren seufzend. „Sie haben keine Forderungen gestellt. Sie flohen, bevor die Polizei da war oder einer von uns. Sie haben eine falsche Spur gelegt, alle Wachen, die bei der Schule waren, fortgelockt. Wir hätten die Falle bemerken müssen... hatten es nur zu spät."
„Alice!"
Ich drehte mich zu Mr Spencer um, der sich an Mrs Flores vorbeidrückte und mich in eine Umarmung zog, die ich ganz perplex erwiderte. Damals hätte ich niemals gedacht, dass wir zwei je ein gutes Verhältnis haben würden. Wie eine einfache kleine Mentoren-Rolle alles verändern konnte, war schon erstaunlich.
„Mir geht es gut", versicherte ich ihm, bevor er fragen konnte.
„Bei allen Göttern, Mädchen, du ziehst noch mehr Ärger an als irgendeiner meiner Schüler zuvor", tadelte er mich grimmig, war jedoch auch unheimlich erleichtert, dass ich hier war, ich sah es ihm an und ich musste gerührt lächeln.
„Ich bin ein Magnet für Ärger, ich habe Sie gewarnt."
„Und das müssen wir endlich stoppen", sagte Warren dazu. „Die Schule ist jetzt sowieso fertig, das ist gut. Jemand wie Rowan darf nicht in deine Nähe gelangen und bei allem, was sonst los ist, können wir nicht Wachschutz für dich anordnen, also musst du in der Nähe deiner Brüder bleiben oder im Quartier und das wann immer es geht, außerdem musst du deine Kraft perfektionieren. Du musst lernen, dich zu verteidigen!"
„Ich kann mich verteidigen... ein bisschen zumindest", sagte ich und Acyn schnaubte.
„Oh bitte, du halbe Portion, das reicht nicht aus. Du solltest dich auch in einem Raum ohne Pflanzen verteidigen können. Du musst ein bisschen Kampfsport erlernen, wenigstens das Nötigste. Du wirst niemals schnell genug alles beherrschen, aber wenn du deine Angreifer überraschen kannst, ist das ein Anfang."
„Ich bin eine sportliche Niete. Das würde niemals funktionieren." Ich würde mir am Ende sicher nur selbst schaden. Am besten sollte ich niemals versuchen müssen, mich ohne Kraft zu verteidigen. Ich würde mich bei meinem Glück nur selbst K.O. Schlagen.
„Das stimmt. Du hast weniger Muskeln als unsere Großmutter", schnaubte Riley und ich sah ihn finster an.
„Du wirst einen guten Trainer zur Seite gestellt kriegen", versicherte Warren mir. „Aber fürs erste sind wir alle beruhigt, dass du wohlauf bist. Du willst sicher nach Hause."
„Ja, aber ich würde auch gern wissen, was aus Reyna und Dawson wird", stellte ich klar. Ich würde keine Ruhe finden, bevor ich nicht wüsste, was mit ihnen ist, wie man ihnen helfen würde.
„Das wird alles noch besprochen werden. Sobald wir konkretere Pläne haben oder wissen, was die Reiter von ihnen wollen, wirst du es sicher von deiner Familie erfahren."
„Wir werden es dir sagen, aber du solltest wirklich nach Hause, Ally, Mum ist krank vor Sorge", sagte Riley nun deutlich fürsorglicher und ich nickte. Ich wollte heim, ich wollte Ruhe von diesem kleinen Chaos und vorerst würde ich wohl tatsächlich rein gar nichts bewirken können. Ich würde allerdings Chris kontaktieren müssen. Er sollte wenigstens wissen, was mit seinem Freund geschehen war.
Zurück im Haus hatte ich dem Rest meiner Familie schildern müssen, was in der Schule genau vorgefallen war. Lediglich Dari hatte sich dafür nicht interessiert. Dieser war oben in seinem Zimmer und er war Gott sei Dank während des Angriffs auch nicht in der Schule gewesen. Hätte ich das nicht gewusst, wäre ich krank vor Sorge um ihn gewesen.
Unsere Gebäude waren zwar nur durch einen Durchgang miteinander verbunden, aber ich wollte ihn dennoch niemals in der Nähe von Reitern wissen. Sie hätten ihn garantiert als Druckmittel mitgenommen und ihm sonst was angetan. Mir wurde schlecht, wenn ich es mir nur vorstellte und so lief ich nach oben. Ich wollte den Kleinen sehen und mit ihm reden.
Ich klopfte an seiner Türe und trat ein, war verwundert zu sehen, dass er in seinem Bett lag und schlief. Das war ungewöhnlich. Es war erst Nachmittag und mein Bruder neigte nicht dazu, kleine Schläfe zwischendurch zu machen.
„Dari Schatz, alles in Ordnung?", fragte ich sanft und näherte mich meinem Bruder, setzte mich zu ihm aufs Bett, wo ich über sein Haar strich und gleich verwundert bemerkte, dass sein Kopf heiß war.
„Ally", sagte er leise. Seine Stimme klang kratzig und als er seine Augen öffnete, waren diese gerötet.
„Alles gut? Du bist heiß, hast du Fieber?" Das wäre unmöglich und doch glühte seine Stirn regelrecht.
„Mir geht es nicht gut", nuschelte er schläfrig und musste husten.
Besorgt wollte ich ihm weiter übers Haar streichen, als Acyn mich plötzlich an den Schultern packte und von ihm zog.
„Was zum...", sagte ich irritiert, weil er mich ganz besorgt weg von Daris Seite zerrte.
„Er ist infiziert!", zischte er und ich brauchte kurz, um seine Worte zu verstehen.
Er war infiziert.
Das Gespräch von heute Morgen kam mir zurück in Erinnerung.
Er war krank. Er hatte sich bei dieser neuen Seuche der Reiter angesteckt.
Er war krank.
„Nein", hauchte ich erschüttert, wollte zurück zu meinem kranken Bruder, der ganz schwach die Hand nach mir ausstreckte, nicht verstand, was los war.
„Du kannst nicht zu ihm. Du könntest dich anstecken, es ist zu gefährlich. Er muss ins Quartier!"
„Aber wir müssen ihm helfen!"
„Wir werden ihm helfen, aber im Quartier und du darfst ihn nicht anfassen! Das ist zu riskant. Das ist eine Krankheit, die uns Wächter betrifft und da wir nie krank werden, reagiert unser Körper über, wenn mal eine Seuche uns krank machen kann."
„Aber was macht man im Quartier? Wie kann man ihm helfen?"
„Ich weiß es nicht, aber fass ihn nicht an, ich hole Riley und Vater!" Acyn verließ das Zimmer und verzweifelt sah ich zu meinem kleinen Bruder.
„Ally, was ist los?", fragte dieser verwirrt und ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Du bist etwas krank geworden, aber wir bringen dich ins Quartier und dann wirst du wieder gesund."
„Ich fühle mich nicht gut. Mir ist heiß und ich bin so müde."
„Versuch etwas zu schlafen. Wenn du aufwachst, wird es sicher besser werden", sagte ich und hoffte, dass Schlafen wirklich das Beste wäre. Ich hatte beinahe etwas Angst, er könnte die Augen nicht mehr öffnen, würde er sie erst einmal schließen. Das war sicher sehr theatralisch gedacht, aber wenn man nie krank wurde, war das ein erschütternder Anblick. Sein Körper wusste sich doch gar nicht zu wehren und Seuchen der Reiter waren gewiss nicht darauf konzipiert, harmlos zu verlaufen.
Dari wurde unter Sicherheitsvorkehrungen ins Quartier gebracht und ich hatte mich gegen die Proteste meiner Eltern gesträubt, war nun auch in diesem, wo ich nur durch die offene Türe in die Krankenstation blicken durfte, in dem gerade die meisten Betroffenen lagen. Bisher waren es mit wenigen Ausnahmen nur Kinder oder ältere Personen, die krank geworden sind. Ich kannte außer Dari keinen von ihnen, auch wenn ich glaubte, ein paar von den Kindern vielleicht schon in Daris Klasse oder irgendwo im Dorf gesehen zu haben. Sie alle lagen schlafend in ihren Betten. Jeder hatte hohes Fieber, manche hatten auch starken Husten, andere bekamen nur schwer Luft. Es war schwer mitanzusehen.
Ich hatte nebenbei erfahren, dass ein paar von den Kranken wie Mr Norbert in gesonderten Räumen untergebracht waren, weil es ihnen noch schlechter als anderen ging. Wenn diese Reiter anfangen, mir die Leute zu nehmen, die ich liebe, dann würde ich durchdrehen. Ich konnte niemanden verlieren, besonders nicht Dari. Er war viel zu jung. Keines dieser Kinder verdiente es sterbenskrank zu sein.
Im Gang sprach meine Mutter gereizt mit einer der Heilerinnen und ich versuchte ihre besorgten Stimmen auszublenden, während ich meinen Bruder mit viel Abstand beobachtete. Keiner wusste so recht, wie es übertragen wurde, aber ich war bisher kerngesund, also hatte ich mich durch das bisschen an Hautkontakt noch nicht angesteckt.
Ich wollte zu Dari, ich wollte ihm helfen, nur wie? Wenn die Heiler nichts machen konnten, würde ich es erst recht nicht. Von Krankheiten besaß ich keine Ahnung. Ich war machtlos. Keine Kraft von mir würde ihn retten können. Egal wie stark ich auch war, es würde ihm in keiner Weise helfen können.
Ich blieb im Quartier bis zum späten Abend. Meine Eltern sprachen mit allen möglichen Heilern, mit Warren und anderen Arbeitern des Quartiers. Ich verweilte einfach beim Eingang der Krankenstation und beobachtete meinen Bruder, war viel zu gelähmt vor Angst und Sorge, dass ich nichts anderes mit mir anzufangen wusste. Dieser Tag war einfach nur stressig gewesen. Meine Abschlussprüfung, der Angriff, die Rettung durch Kellin und nun das. Ich wollte Elin anrufen, nur wusste ich gar nicht, was ich sagen sollte. Hayden hatte mir geschrieben und versucht mich zu erreichen, aber auch wenn ich gerade gern Gesellschaft hätte, wollte ich mit niemanden reden, der mir nur sinnlose beruhigende Worte sagt und das würde derzeit jeder. Wenn ich ganz ehrlich war, gab es im Moment nur eine Person, die ich gern sehen wollte, nur eben diese durfte ich nie wieder sehen. Nur eben diese Person war eingesperrt und würde nie wieder frei sein. Ich könnte Reed nicht sehen... oder besser gesagt ich sollte ihn nicht sehen. Ich hatte mich damit abfinden wollen, ich hatte mein mentales Lebe Wohl gesprochen, sollte das nicht reichen?
Ich sah meinen schlafenden Bruder an, lauschte dem Husten der anderen Patienten und ich ertrug es nicht mehr. Ich ertrug es nicht hilflos zuzusehen, ich ertrug es nicht allein in diesem Gang zu stehen. Am liebsten wollte ich fliehen. Ich wollte raus, in den Wald und rennen. Wie gern ich einfach rennen und alle Probleme dieser Welt hinter mich lassen wollte, nur würde ich es nicht können, es würde nichts bringen. Man konnte seinen Problemen niemals lange genug entkommen. Also rannte ich stattdessen nach unten zu den Zellen. Um diese Zeit waren noch keine Wachen aufgestellt und so nutzte ich den Moment, mich zu Reed zu schleichen. Würde davon irgendwer was erfahren, würde ich großen Ärger kriegen, so viel stand fest. Es war mir im Moment absolut egal.
„Hallo Herzblatt."
Mein Herz schlug gleich schneller, kaum erblickte ich ihn. In den letzten Wochen musste es ihm elendig hier unten ergangen sein. Er wirkte dünner, zerzauster, aber immerhin hatte ihm irgendwer wohl neue und frischere Kleidung gegeben. Dennoch sah er mitgenommen aus.
Es war ein Fehler gewesen, herzkommen. Sein Anblick zerbrach mir nur noch mehr das Herz, so dass ich zu Weinen anfing, kaum hatte ich sein ganzes Erscheinen in mir aufgenommen.
„Was ist passiert?", fragte Reed alarmiert, während ich kurz vor seiner Zelle auf dem Boden sank, nahe genug, dass er durch die Gitter zu mir greifen konnte, mein Gesicht in seine Hände nahm. Fast sofort machte mein Herz kleine Saltos und ich bekam Schluckauf.
„Dieser Tag... es ist zu viel", schluchzte ich und schmiegte mich an seine Berührung, genoss seine Zuneigung.
„Was ist geschehen?"
Also erzählte ich ihm alles, während mein Schluckauf langsam wieder abnahm. Jedes noch so kleine Detail erzählte ich ihm und wie zu erwarten, gefiel es ihm ganz und gar nicht. Nichts davon.
„Verdammt nochmal. Kellin wird das ohne mich niemals alles hinkriegen", fluchte er und hatte mittlerweile meine beiden Hände in seine genommen, spielte mit meinen Fingern herum. Meine Tränen waren während des Erzählens getrocknet. Seine Nähe und mit ihm reden zu können hatte geholfen, stark geholfen.
„Er scheint viele Leute zu haben", sagte ich leise und dachte an die Autofahrt zurück, an die Namen, die er genannt hatte.
„Verdammt viele Leute, aber diese Sache ist ziemlich groß und wenn der verdammte Kompass weg ist und Rowan ihn hat, wird es ernst", murrte Reed konzentriert.
„Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Wenn meinem Bruder irgendwas passieren sollte..."
„Es wird sicher alles gut. Die Heiler hier sind sehr gut."
„Zwei Kinder sind schon gestorben. So gut sind sie also doch nicht!", sagte ich leicht aufgebracht. Ich konnte nicht auf die Wunder von Heilern vertrauen.
„Sicher arbeitet man mit allen Kräften daran, irgendein Heilmittel zu finden. Ich wünschte, ich könnte mehr sagen, dir mehr gute Worte überbringen, aber von hier unten in diese Zelle kann ich nichts bewirken."
„Ist in Ordnung", murmelte ich müde. Ich war so furchtbar müde von einfach allem.
„Halte dich bitte einfach fern von ihm. Ich würde es nicht ertragen, wenn du auch krank wirst, vor allem, weil mir keiner irgendwas sagen würde. Du solltest dich ausruhen, Herzblatt. Du wirkst erschöpft."
„Mich lässt sowieso keiner zu ihm und schlafen kann ich erst, wenn er gesund ist."
„Dein kleiner Bruder ist zäh. Ich glaube fest daran, dass er schnell wieder fit sein wird", munterte er mich auf und ich lächelte schwach, als er meine Hände einzeln küsste.
So viel dazu, dass ich ihn nie wieder sehen würde. Würde man ihn erst nach Griechenland bringen, würde ich innerlich sterben. Ich konnte nur hoffen und beten, dass Kellin ihn irgendwie hier rausholen würde. Es war furchtbar egoistisch, das wusste ich, aber ich würde es nicht ertragen, auf ewig von ihm so weit getrennt zu werden. Ich hoffte wohl am allermeisten auf ein Wunder, das alles richten würde. Den Krieg enden lässt, Reed in einen Märchenprinzen verwandelt und bei dem alle Sorgen verschwinden, wir alle einfach normale 18-Jährige wären. Nicht mehr, nicht weniger.
Wörter: 3532
Aloha :) Ich hoffe es gefällt euch. Es geht etwas dramatischer weiter, mal sehen, ob jeder lebend aus der Sache herauskommen wird...
Freitag geht es weiter xx
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