49. Reeds Geschichte
"Now I have to remember you for longer than I have known you." - C. C. Aural
„Du bist Grace."
Der Satz hallte im Raum und löste kurze Stille aus. Er löste Chaos aus. Er löste das Ende von allem aus. Es war ein so kurzer und einfacher Satz und doch lag so enorm viel Macht in ihm. Mein Mund stand leicht offen und ich sah Reed an, ohne zu wissen, was ich sagen sollte. Acyn war ebenso sprachlos, so dass Reed derjenige war, der als erstes wieder zu Reden anfing. „Ich weiß, es klingt verrückt und komisch und-"
„Stopp", sagte ich leise. „Ich will es nicht hören. Ich bin nicht Grace. Ich kann nicht Grace sein!" Das ergab keinen Sinn. Es durfte einfach keinen Sinn ergeben. Wenn es wahr wäre... nein, es würde alles, woran ich je geglaubt hatte, ruinieren. Ich war nicht bereit hierfür. Ich wusste nicht, ob man für so etwas je bereit sein könnte, aber ich war es gewiss nicht.
Wie sollte ich jemand anderes sein? Ich war Alice! Es war unmöglich, dass ich irgendwer anderes als Alice sein konnte. So etwas wollte ich nicht wahrhaben. Nicht jetzt. Nicht, wenn alles drohte zu enden. Ich war nicht bereit dafür. Ich würde nie bereit für so etwas Absurdes sein!
„Du bist Grace", sagte Reed verzweifelt und wollte mich berühren, aber ich zuckte zusammen und so hielt er in seiner Bewegung inne.
„Ally", sagte nun Acyn sanft und ich sah zu ihm, hoffte, er würde Reeds Worte als Lüge abtun, aber so wie er mich ansah... nein.
„Ich bin Alice!"
„Ich weiß, es ist viel-"
„Nein, du weißt gar nichts", sagte ich aufgeschreckt und Reed wich weiter zurück, setzte sich auf die Fensterbank, während Acyn sich langsam auf den Sessel niederließ, vermutlich um nahe an der Türe zu sein, falls ich plötzlich das Weite suchen wollte, was mir gerade sehr gelegen kam, und doch wollte ein Teil von mir – ein sehr großer Teil sogar – hören, was Reed zu sagen hatte.
„Erzähl es mir. Erzähl mir alles oder ich verliere den Verstand!"
Er nickte. „Ok, ja, ich erzähle dir alles, versuch einfach nur... versuch alles langsam zu verarbeiten, versuch irgendwie ruhig zu bleiben."
Ruhig bleiben?
Ich lachte leicht hysterisch auf und konnte Reed ansehen, dass er es bereute überhaupt irgendwas gesagt zu haben, aber es war zu spät. Wie sollte ich so ein Geständnis einfach ignorieren? Ich wollte es gern, so unfassbar gern, aber es ging nicht.
„Ok, gut, wo fange ich da an... es ist ziemlich schwer. Kellin wollte mir helfen, falls ich dieses Gespräch je mit dir geführt hätte. Fuck. Ok, ok, ich beginne einfach am Anfang... ja, der Anfang ist gut. 1895, als du starbst-"
„Ich bin nicht tot!", sagte ich gereizt, zuckte zusammen, als er so leichtfertig über meinen Tod sprach, als sei ich gar nicht hier.
„Natürlich... als Grace starb... ich wollte nicht akzeptieren, dass du... dass sie tot ist. Unser Band existierte noch. Es war schwach, es war praktisch fort und mehr wie ein Echo von dem, was mal gewesen ist, aber es hat mich daran klammern lassen, sie wäre noch da." Er lächelte traurig und schien seine Gedanken zu sammeln. Es musste schwer sein. Natürlich war es schwer. Über hundert Jahre des Wahnsinns zu erklären konnte kaum leicht sein.
„Ich wusste nicht, ob ich es mir einbilde und es nachlassen würde mit der Zeit. Es war gut möglich, dass ich so in meiner Trauer versunken war, dass ich mir irgendwas einbildete, dass es nur eine Illusion war oder das Band einfach länger brauchte, um ganz zu verschwinden, aber das tat es nicht. Egal wie viele Tage, Jahre, Jahrzehnte auch vergingen, dieses Echo... es war da. Ich bin durch die Welt gereist auf der Suche nach anderen Wächtern, die wie ich ihren Partner verloren haben, und viele haben mir erzählt, dass sie anfangs auch glaubten, die Bindung noch vage zu spüren, aber nicht so wie ich, nicht so lange, nicht so intensiv. Ich war verwirrt von wo die Anziehung herkam. Ich suchte und suchte und suchte und fand keinen Ursprung. Nicht in London, nicht in England, nirgendwo auf der Welt. Es war als hätte ich einen Kompass in mir, der in alle Richtungen gleichzeitig zeigte und mir einfach nicht den richtigen Weg deuten konnte. Ich verlor den Verstand auf der Suche nach dir, ich glaubte, die Götter hätte mich bestraft, weil ich nicht auf dich aufgepasst hatte, weil ich dich in den Tod getrieben hatte."
Tränen funkelten in seinen Augen, die er sich grob wegwischte, bevor sie über sein Gesicht tropfen konnten.
„Ich lenkte mich also ab. Ich zog in die Kriege, ich bereiste weiter die Welt auf der Suche nach etwas, das mich ablenken könnte oder mir helfen könnte zu verstehen. Alle Wächter mit besonderen Fähigkeiten zogen mich an. Ich wollte Verbündete, ich wollte Leute an meiner Seite haben, die mir helfen könnten bei meinen Plänen, bei dem, was ich damals in der Vergangenheit herausgefunden hatte. Ich wollte vieles rückgängig machen, ich wollte vieles verändern und verbessern und am allermeisten wollte ich einfach nur dich finden, herausfinden, wieso dieses Band nicht kaputt war. Gleichzeitig versuchte ich gegen die Reiter vorzugehen. Ich wusste, dass Rowan immer noch sein Unwesen trieb, auch wenn er nach dem Ende der Dunklen Tage stark an Kräften einbüßen musste durch Graces Tod. Er verschwand für eine lange Zeit von der Bildfläche und selbst als er wieder auftauchte und sich einen Namen in der Untergrundszene Londons machte, war er mickrig im Vergleich zu damals. Kellin beschäftigte sich mehr mit ihm in dieser Zeit und ich war zu müde von allem, um mich einzumischen. Ich verfolgte andere Ziele und versuchte herauszufinden, wie man Rowan beseitigen könnte, was er war, aber ich wollte dafür nicht zu nahe an ihn treten müssen. Ich war nicht bereit, erneute Bekanntschaft mit ihm zu machen. Zwischen uns ist einfach zu viel geschehen. Er war einst mein bester Freund... ehe ich wusste, dass er kein Wächter war, dass er ein Monster getarnt als Schüler war. Er hat das Vertrauen, das Grace in ihn gesteckt hatte, ausgenutzt, und ihr den Verstand zerstört, in dem er ihr furchtbare Schmerzen zufügte, sie auf eine Weise quälte, die ich mir nicht vorstellen möchte. Ich werde ihm dafür nie vergeben, aber ich wollte ihn dafür töten und da ich Grace nicht finden konnte, steckte ich alles an Energie, die ich aufbringen konnte, in Rache."
Reed seufzte schwer, rieb sich übers Gesicht und ich hing ihm gebannt an den Lippen. Das kurze Chaos in meinem Kopf war für einen Moment ruhig geworden.
„Dann kam Malia ins Spiel. Sie war Kellins Partnerin und zu sehen, wie die beiden zusammen waren... es quälte mich seltsamerweise. Ich war eifersüchtig, dass er seine Partnerin haben durfte, dass er so viel besser darin war auf sie aufzupassen, er bereit war Dinge zu opfern, dass er nicht so viele Fehler beging wie ich und ich fragte mich durchgehend, was gewesen wäre, wenn ich anders gehandelt hätte, wenn ich mehr wie mein Bruder gewesen wäre. Ich hielt es deswegen nicht lange in der Nähe der beiden aus. Nachdem ich sie zusammen gesehen hatte, hatte ich nur gehen wollen. Ich hatte Kellin etwas Angst gemacht, dass ich Malia schaden könnte, aber nie hätte ich etwas derartiges getan. Ich hätte es ihm nicht angetan. Niemand verdient es, seinen Partner zu verlieren, solche Schmerzen zu erleiden. Gern wäre ich damals länger in London geblieben, allein um meinem Bruder zu helfen, gegen Rowan vorzugehen, aber ich wollte mich nicht quälen und war bereit für eine Weile das Land zu verlassen, doch dann warst da du."
Ich zog die Stirn kraus. Ich war da? Er sprach von einer Zeit, die ungefähr 15 Jahre her war. Wir hatten uns da sicher nicht gekannt. Wie auch? Ich war vielleicht vier Jahre alt gewesen.
„Du warst vielleicht drei oder vier Jahre alt und mit deinen Eltern und älteren Brüdern zu Besuch bei deinen Großeltern. Malia war wie eine Löwenmutter in deiner Nähe und versuchte dich um jeden Preis vor mir zu verstecken, was mich natürlich neugierig machte. Wieso wollte sie so dringend ein kleines Mädchen vor mir versteckt halten? Ich war vielleicht ein Monster, aber ich hatte nie einem Kind geschadet, hätte es nie gewagt. Als ich dich dann sah... war ich verwirrt. Ich habe dich angesehen und dich gekannt. Meine Seele kannte dich. Meine Seele hat regelrecht geschrien, dich gefunden zu haben. Endlich hatte die Nadel meines Kompasses ihr Ziel gefunden, es war als hätte plötzlich alles Sinn ergeben und doch auch überhaupt nicht. Es war eines der merkwürdigsten Gefühle, die ich je gehabt hatte. Ich konnte es nämlich nicht zuordnen. Es war irgendwie... falsch." Er schüttelte den Kopf, lachte trocken auf und ich wusste gar nicht, was ich denken sollte, hätte gern tausend Fragen gestellt, aber ich war zu erstarrt, um auch nur ein Wort zu sagen.
„Ich wusste nicht, wieso du mein Ziel warst. Ich kapierte nicht, was für ein kosmischer Scherz das darstellen sollte. Du warst ein fucking Kind, ich kannte dich nicht, es war albern. Ich hatte Angst, was das für die Zukunft zu bedeuten hatte, ich hatte Angst, was du mal werden könntest, also ging ich und hoffte, ich würde dich niemals wieder sehen müssen. Ich schwor mir, nie wieder in deiner Lebzeit nach London zu gehen, einen großen Bogen um ganz England zu machen, wenn ich dir damit aus dem Weg gehen sollte. Ich wollte keine neue Partnerin haben und ich ahnte, dass du eben genau das irgendwann potenziell sein könntest."
„Woran du dich natürlich nicht halten konntest", murrte Acyn, schwieg jedoch sofort wieder, als er einen warnenden Blick von Reed abbekam.
„Nein, konnte ich nicht. Ich wollte es, so sehr. Du weißt gar nicht wie sehr, aber es war eine verdammte Qual. Im Laufe der Jahre wurde ich zu oft von deiner Nähe angezogen. Ich hatte einfach zu lange nach dem Ursprung von allem gesucht, ich hatte über hundert Jahre gesucht, ich musste verstehen, was es mit dir auf sich hatte. Es war unvermeidbar, dass ich dich aufsuche, dass ich mehr über ich erfahre. Ich wollte dabei einfach immer nur sichergehen, dass es dir gut ging. Ich schien keine Ruhe zu finden, ehe ich mich nicht immer wieder versicherte, dass du wohlauf warst, dass du ein glückliches Kind warst, geliebt wurdest, sicher warst. Ich musste einfach sichergehen, dass es dir gutging. Nachdem, was Grace in ihrer Kindheit alles geschehen ist, wollte ich verhindern, dass du etwas Ähnliches erlebst. Also schaute ich alle paar Jahre mal in deiner Gegend vorbei und war etwas überrascht, dass du in dieser Zeit keinen Unterricht zu den Wächtern bekamst, dass du ahnungslos durch die Welt gewandert bist. Aber da du glücklich und gesund warst, sollte es mir recht sein. Ich hörte auf nach dir zu sehen, als du 15 wurdest, weil ich wohl zu viel Angst davor hatte, was sein würde, wenn du deine Kräfte kriegst, falls du Kräfte kriegst. Ich beschloss nicht viel später auf Haydens Wunsch, die Schule erneut anzutreten, einzugehen. Zum einen zur Ablenkung von dem innerlichen Tumult in mir und zum anderen, um mehr Informationen aus dem Quartier zu kriegen, wenn ich wieder aktiv in London wäre. Ich hatte London in den vergangenen hundert Jahren immer gemieden. Seit Grace... ich hatte es nicht ausgehalten hier zu sein und zu wissen, dass sie nie wieder hier sein würde. Auch wenn im Laufe des Jahrhunderts sich alles verändert hatte, waren die Erinnerungen so frisch. Selbst wenn nun mehr Zeit ohne sie vergangen war als ich überhaupt mit ihr zusammen verbracht hatte, schmerzte es wie am ersten Tag, wenn ich im Quartier war, im Dorf, wenn ich nur das verdammte Haus der Noirs ansah."
Reed machte eine kurze Pause, um sich wieder zu fassen und ich war immer noch erschüttert von seinen Worten, dass er mich kannte. Dass er mich so viel länger kannte als ich es je geahnt hätte. Also war unsere erste Begegnung nie unsere erste Begegnung gewesen? Er hatte auf mich aufgepasst? All die Jahre hatte er immer wieder nach mir gesehen, einfach weil er sichergehen wollte, dass meine Familie mich gut behandelt? Das war unerwartet. Es war verwirrend. Ich wusste langsam gar nicht mehr, was ich fühlen sollte.
„Ich erfuhr letzten Sommer, dass deine Familie herziehen würde, und ich wappnete mich auf vieles. Am liebsten wäre ich geflohen, aber ein Teil in mir wollte dich sehen, wollte sehen, dass du auch in den letzten paar Jahren gut zurechtgekommen bist, dass du auch weiter glücklich warst. Als ich dann an einem Tag aus meinem Fenster hier herüberblickte und dich dort auf der Fensterbank sitzen sah, suchte ich sofort das Weite. Dein reiner Anblick hatte mir nämlich schon die Sprache verschlagen. Dieses verfluchte Seelenband in mir hatte augenblicklich deine Nähe verlangt und es hatte mich so wütend gemacht. Du warst immerhin nicht Grace! Es war falsch, dass ich für auch nur einen Moment mich zu irgendwem außer ihr so hingezogen gefühlt hatte. Ich war mir schäbig vorgekommen, als ob ich sie hintergehen würde, sie vergessen und ersetzen würde. Ich ging mit Dawson und Chris los und wollte auf gar keinen Fall von dir bemerkt werden, dich zu sehr sehen, auch wenn ich wusste, es würde unvermeidbar sein und wie ein verfluchter Magnet hast du mich gefunden."
„Ich bin in dich gerannt", sagte ich und dachte an meinen ersten Tag hier zurück. Ich war spazieren gegangen und vor Colin geflohen, ehe ich in ihn gerannt war.
„Ich war... entsetzt", gestand er. „Ich habe dich das erste Mal vom nahen gesehen seit du ein Kind warst, ich habe dich das erste Mal überhaupt berührt und du hast mir regelrecht den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich wusste genau, was du für mich sein würdest und ich habe dich dafür verachtet."
Autsch.
„Ich wollte keine neue Partnerin, ich wollte nicht akzeptieren, dass irgendwem sonst meine Seele gehören könnte, dass du sie ersetzen solltest." Er lachte, als ob das absurd wäre. „Aber im selben Moment hat meine Sicht sich auch verändert."
„Colin", sagte ich. „Du warst sehr interessiert daran, was er von mir wollte."
„Du weißt, wie es um Colin steht, dass die Reiter ihn damals so gefoltert hatten, dass er ein bisschen den Verstand verloren hat. Seitdem ist er etwas speziell und dass er dich unter den vielen Leuten Londons erkennt, findet und für interessant genug erachtet zu jagen und so anzustarren... ich wusste, da war mehr. Es musste mehr sein. Colin hatte Grace damals gekannt, er hat für sie den Verstand verloren. In seinen Augen war Grace immer seine Rettung gewesen oder sie hätte es eher sein können, wenn die Reiter sie gefunden und ihn dafür erlöst hätten. Ein Teil von ihm hatte wohl immer noch gehofft, sie würde ihn irgendwann retten, sie würde ihn irgendwann aus seiner Folter befreien, seinen Platz einnehmen und er würde nach Hause gehen dürfen, so wie die Reiter es ihm damals versprochen hatten. Natürlich war es jetzt egal. Er war kein Gefangener mehr, aber sein Kopf ist nun einmal nicht ganz in Ordnung. Als er dich also so auserwählt hatte, machte dich sehr... interessant und es brachte mich dazu, mich noch am selben Abend in Bewegung zu setzen. Ich hatte viele Wächter im Laufe der Zeit von meiner Sache überzeugen können, unter ihnen Arnold und Palina, wie du weißt. Ich habe ihnen von dir erzählt und Palina sofort auf dich angesetzt. Ich hatte herausfinden wollen, inwiefern sie deine Lebenslinie sah, aber es war verwirrend."
„Wieso verwirrend?", fragte Acyn interessiert.
„Palina sieht das Leben von einem wie eine Linie und sieht sie den Tod, sieht sie die Linie enden. Deine Linie... sie war von Schatten geschwärzt, sie verlief nicht einfach sondern in vielen Abzweigungen. Sie war ganz irritiert davon. Ich wusste, dass ich der Sache weiter nachgehen musste und ich witterte meine Chance, als du deine Kräfte bekamst. Ich weiß noch wie du in dieser Nacht geschrien hast, als du sie bekamst. Ich hatte sowieso kaum ein Auge zubekommen, weil du zu oft in meinen Gedanken warst, und dann hörte ich dich schreien und ich wollte nur zu dir rüber, sehen, dass es dir gut ging. Natürlich war Hayden auch da." Reed schnaubte. „Dass er sofort genauso von dir in den Bann gezogen war, hatte mich keineswegs verwundert, jedoch ziemlich verärgert. Allein wie er dich mir das erste Mal vorstellte, als ob er dich besser kennen würde als ich. Ich hatte versucht mir nichts anmerken zu lassen, aber innerlich war ich am Brodeln gewesen. Ich hatte befürchtet, die Vergangenheit würde sich wiederholen, du würdest meinem Buder verfallen und ich müsste erneut zusehen, wie jemand, zu dem meine Seele sich hingezogen fühlt, bei Hayden landet."
„Ich wollte Hayden nie", sagte ich leise. „Nicht eine Sekunde. Niemals." Es war die Wahrheit. Ich hatte für Hayden nie etwas anderes als Freundschaft empfunden, selbst als wir uns küssten.
„Es beruhigte mich, dass nicht er dein potenzieller Partner wurde, sondern ich. Es hätte mich eigentlich nicht beruhigen sollen. Zwar hatte ich geahnt, dass es so kommen würde, aber ich wollte keine Bindung haben, nie wieder, aber ich wusste auch, dass unsere Bindungszeremonie nicht funktionieren könnte, würde Grace noch leben. Sie hätte dafür anwesend sein müssen beim Ritual. Als es dennoch geklappt hatte, war ich mal wieder am Boden zerstört. Über hundert Jahre hatte ich mich daran geklammert, dass sie doch noch leben könnte und nun hatte ich die Bestätigung gehabt, dass sie fort war, dass sie fort sein musste. Es war so endgültig, es sollte so endgültig sein."
So viel wusste ich bereits. Damals hatte mich die Antwort traurig gemacht, wütend gemacht. Dass er sich nur an mich gebunden hatte für diesen einen Beweis war verletzend gewesen. Mittlerweile sah ich die Sache anders.
„Ich wäre sicher richtig dramatisch abgehauen, wenn ich nicht dein Inneres gesehen hätte."
„Als ich dich fragte, was du gesehen hast, hattest du es nicht sagen wollen", merkte ich leise an.
„Nein, weil ich entsetzt war."
„Was hast du gesehen?", fragte Acyn interessiert und Reed sah mich an, musterte mein Gesicht.
„Chaos. Das reinste Chaos. Es war wie ein Strudel an tausenden Erinnerungen, die nicht deine eigenen waren, versteckt hinter einem Schleier, als ob etwas versuchen würde sie in Schach zu halten. Und auf der anderen Seite des Schleiers warst du, nur dass du plötzlich dieses kleine Mädchen warst, das ich das erste Mal gesehen hatte. Verängstigt hast du in einer Ecke gesessen und geweint und ich wusste, dass ich dich einfach nur beschützen wollte. Ich musste dich beschützen."
Als ich Reed damals fragte, was er gesehen hatte, meinte er nur, dass ich das selbst am besten wissen müsste. War das ein Test gewesen?
„Der Einblick hat mich verwirrt. Ich wusste von da an, dass da mehr in dir steckte, nur wusste ich nicht, wie viel du wirklich wusstest. Ich beschloss also dich weiter im Auge zu behalten, auf dich aufzupassen, nur hast du mir den Job nie leicht gemacht. Ständig habe ich dich vor irgendwem beschützen oder retten müssen. Ich habe meinen engsten Vertrauten alles über dich erzählt. Arnold war der erste gewesen, der darauf kam, wer du wirklich bist. Ich habe ihm nicht glauben wollen. Erinnerst du dich an den Tag, als ich dich das erste Mal in meinem Auto mitgenommen habe und dabei so wütend war und zum Telefonieren ausgestiegen bin? Da hat er mir erzählt, was er glaubte, und ich war kurz davor gewesen den Verstand deswegen zu verlieren." Reed pausierte kurz, suchte nach den passenden Worten. „Er meinte, es klingt für ihn so, als ob Grace in dir gefangen wäre. Für ihn war es eine plausible Lösung. Wieso ich so angezogen zu dir war, wieso in deinem Kopf dieses Chaos herrschte. Nur konnte er mir nicht sagen, wie das möglich war, auch wenn wir beide wussten, dass deine Familie mehr Ahnung dazu hatte und sehr viel verschwieg. Ich nahm mir also vor, bei Gelegenheit euer Haus etwas näher zu durchforschen, nur habe ich auf eine gute Gelegenheit gewartet. Wenn du im Haus wärst, würdest du mich sofort bemerken, und warst du nicht im Haus, habe ich versucht in deiner Nähe zu bleiben, damit du dich nicht in Schwierigkeiten begibst."
„Ist ja erfreulich zu hören", murmelte Acyn leise.
„Ich nahm mir die Geburtsgasfeier eures Großvaters dafür vor. Es wäre ideal. Ein volles Haus, ich war eingeladen und könnte sicher einiges herausfinden. Bevor es dazu kam, traf ich dich jedoch im Irrgarten."
Ich lächelte bitter von der Erinnerung. Diese Nacht hatte alles verändert.
„Ich ging, wenn ich denn mal in London war, ständig in diesen. Ich verbrachte ganze Nächte dort drinnen, damit ich den Schmerz ertrug, die Sehnsucht. Das war unser Ort gewesen. Als Kinder haben Grace und ich eine halbe Ewigkeit dort drinnen verbracht. Sie hatte den Garten strahlen lassen, sie hatte neue Wege geformt. Sie war es, die die Idee hatte, eine Schaukel an dem alten Baum zu befestigen. Ich fühlte mich ihr so verbunden dort, doch dann warst da plötzlich du. Ich sah dich in einem Moment, wo ich vor Sehnsucht nach Grace fast umgekommen wäre, und ich sah dich und... ich glaubte sie wäre hier. Ich glaubte sie wäre bei mir. Ich fragte dich, wohin du am liebsten in die Zeit reisen willst, wenn du es denn könntest und du antwortetest..."
„Das antike Griechenland."
„Genau. Sie hätte es auch gesagt. Sofort hätte sie es gesagt und ich wusste in dem Moment, du würdest es sagen. Ich musste dich da einfach küssen. Ich verlor die Kontrolle, für einen Moment sah ich durch den Schleier hindurch und sah, wer du wirklich bist. Ich war danach ein Wrack. Ich wollte einfach nur Abstand zu dir haben, weil ich nicht wusste, wie ich mich dir gegenüber benehmen sollte. Ich war so von dir eingenommen, dass ich dich am liebsten während jeder Gelegenheit packen und küssen wollte. Ich wollte dich mit mir nehmen, die Wahrheit aus mir herausbrüllen, wissend, dass es sicher nicht so leicht wäre. Du wolltest nur einfach keinen Abstand einhalten. Als du unbedingt mit zur alten Waldstraße wolltest, wollte ich dich am liebsten erwürgen für deine sture Art und weil meine schwachköpfigen Freunde dich darin auch noch ermutigten."
Ich musste schmunzeln von der Erinnerung an den Tag. Ich war wirklich stur gewesen und er war so wütend gewesen.
„Ich habe dir von den Kerlen erzählt, die damals da waren, und dass sie in gewisser Weise Reiter waren. Mal wieder musste ich Angst haben, jemand könnte Rowans Aufmerksamkeit auf dich lenken, dir etwas sagen, das du nicht wissen sollst. Ich war wütend und handelte unüberlegt... mal wieder. Ich dachte, mache ich das Rennen, lenke ich die Idioten ab. Nehme ich dich mit, wirkst du mehr wie ein Mädchen zum Angeben, wie es eigentlich üblich war. Keiner würde dich mit anderen Augen betrachten. Als du wütend von mir geflohen bist und dabei so anmutig wie eine Göttin durch den verdammten Wald geeilt warst, gestand ich mir ein, dass ich dich liebe. In diesem verdammten Moment, wo du dich von mir abwenden wolltest und ich glaubte, meine Welt würde ohne dich zerbrechen, realisierte ich, wie hungrig ich für dich war, also nahm ich mir, was ich wollte."
„Ok, genug Details. Ich will nicht wissen, was ihr zwei... nein danke." Acyn schüttelte angewidert den Kopf.
Reed grinste leicht. „Wir haben im Wald nichts getan. Erst im Auto, da haben wir-"
„Reed!", warnte ich ihn mit knallroten Wangen und er lachte leise, ehe seine Mine wieder ernst wurde.
„Als du zuvor in den See gefallen bist... da kam alles wieder hoch. Ich sah Grace wieder vor mir, wie sie leblos in dieser Wanne lag, ich sah wieder, wie ich sie beatmete und sie einfach nicht aufwachen wollte. Ich dachte, du würdest ertrinken, ich dachte, ich wäre zu spät, ich dachte... ich wollte dich nicht erneut verlieren, nicht erneut ans Wasser verlieren, überhaupt verlieren."
Unruhig umklammerte ich die Bettdecke unter mir. Seine Worte fingen an, mich aufzuwühlen. Ich konnte es nicht ganz deuten, aber ich wurde angespannt, meine Beine waren fest auf dem Boden verankert, als ob ich jeden Moment losrennen wollte.
„Als es dir gut ging, hätte ich vor Glück sterben können einmal nicht versagt zu haben. Ich hatte dich nur noch in Sicherheit wissen wolle, auch wenn ich wusste, dass unser erneuter Kuss alles nur noch mehr ins Chaos stürzte. Ich musste einfach erst herausfinden, was es mit dir auf sich hatet. Ich konnte nicht in deiner Nähe sein, ehe ich mehr wusste. Nur war es so schwer. Du schienst hin und weg von mir zu sein und jedes Mal, wenn du mich angesehen hast, als ob du mich begehren würdest, war meine Selbstbeherrschung etwas mehr zerfallen. Ich musste versuchen dich von mir zu drücken und wenn ich ein Arsch war, klappte das am besten, nur gleichzeitig zerstörte es mich auch am meisten. Ich war also mal wieder ein Wrack aber umso mehr darauf aus Antworten zu erlangen. Also forschte ich in eurem Haus herum, als der Geburtstag kam, und ich fand tatsächlich Dinge, die mich stutzig machten. Deine Großmutter hat neben ihrem Bett ein kleines Kästchen, in dem ein ganzer Haufen Kinderfotos sind. Ich erkannte sie sofort, weil es deine Bilder waren. Wieso sollte deine Großmutter von allen Enkeln, die sie hatte, lediglich nur Bilder von dir in einer Truhe neben dem Bett aufbewahren? Kurz glaubte ich, es wären vielleicht Bilder von Malia, da ihr euch so ähnlich seht und tatsächlich waren einige von den Bildern auch von ihr, aber nicht alle."
Es war tatsächlich irritierend. Hätte sie Bilder von uns allen aufbewahrt, wäre es ja noch normal gewesen, aber wieso nur wir zwei?
„Ich wurde in meiner Suche leider etwas abgelenkt als mein Bruder dich angegriffen hat. Zu wissen, dass er dich wollte, dir schaden könnte, dass ich es nicht geschafft habe auf dich aufzupassen, obwohl wir im selben verdammten Haus waren, hatte mir fast wahnsinnig gemacht."
„Also dachtest du wirklich, er wollte mir schaden?"
„Keine Ahnung. Ich hatte Kellin 15 Jahre nicht mehr gesehen. Ich wusste nicht, was damals geschehen ist, wieso er so den Verstand verloren hatte. Er war so glücklich mit Malia gewesen, er war so verrückt nach ihr gewesen und dann war er plötzlich fort, nur um jetzt wieder aufzutauchen. Wenn Malia wirklich tot war, worauf alles deutete, dann war es gut möglich, dass er dich wollte, einfach weil du ihn an sie erinnerst. Ich wusste genau wie es war, seine Partnerin zu verlieren, vor allem wie schmerzvoll die ersten Jahre waren, und dass er dich auch noch jagte... mir wäre nichts anderes in den Sinn gekommen."
„Stattdessen wollte er sie auch nur beschützen", brummte Acyn und Reed ignorierte ihn mal wieder.
„Ich habe in der Nacht wach bleiben wollen, als ich bei dir schlafen durfte. Ich wollte aufpassen, dass er nicht kommt und gleichzeitig war ich auch so fasziniert davon gewesen, dir beim Schlafen zuzusehen. Du hast dich so wie sie benommen. Wie du meine Hand gehalten hast, dich an mich geklammert hattest, als wäre ich ein Anker. Grace hat immer einen Anker gebraucht, weil sie sonst Angst hatte, nicht mehr aus ihren wirren Träumen zu erwachen. Sie hatte sich nachts an mich geklammert, als ob ihr Leben davon abhängen würde, und du hast es auch getan. Ich war so glücklich gewesen... seit mehr als hundert Jahren habe ich nicht mehr so gut geschlafen wie in dieser einen Nacht." Er lächelte mich liebevoll an und in meinen Augen funkelten die ersten Tränen, die ich noch zurückhielt. „Als du am nächsten Morgen abgehauen bist und ich dann erfahren musste, dass du Reitern begegnet bist, bin ich panisch geworden. Bis dahin hatte ich die Reiter als keine sehr große Bedrohung angesehen. Sie waren gewiss riskant und ich hatte meine offenen Rechnungen mit Rowan, aber ich glaubte du wärst sicher. Du hattest es zwar einmal bereits so stark in Rowans Nähe geschafft, dass ich glaubte, nun wäre alles dahin, aber ich hatte dich noch gut verborgen halten können."
„Wann war das?", fragte ich neugierig. Reed hatte mich zu Beginn so oft vor irgendwas oder irgendwen versteckt, dass ich nie gewusst hatte, was los war. Ich versuchte ein Bild vom ganzen zu kriegen.
Er musste leicht lächeln von der Frage.
„Das war relativ am Anfang noch. Du warst mal wieder in diesem verdammten Park spazieren, der Rowans Gebiet ist, und da hast du ihn gesehen und sogar beobachtet, weil Sasha damals bei ihm war. Ich habe dich hinter einen Baum gezogen, um dich zu verstecken. Du weißt gar nicht, wie wütend ich auf dich war."
„Ich hatte ja keine Ahnung", murmelte ich leise. Hätte ich auch nur geahnt, wovor Reed mich die ganze Zeit hatte beschützen wollen... nun gut, es war im Moment egal.
Reed sprach weiter. „Je mehr ich glaubte, du müsstest Grace sein, umso mehr bekam ich Angst. Ich hatte Angst, was die Reiter, die dich sahen, weitergeben würden, wer von dir erfahren könnte, was sie dir sagen könnten. Würde Rowan mehr über dich herausfinden, wäre es nicht gut. Er würde dich so schnell durchschauen, das wusste ich und das wollte ich verhindern. Ebenso hatte ich Angst, er könnte dir von meiner Vergangenheit verraten und dich gegen mich hetzen, uns gegenseitig ausspielen, darin war er schon immer sehr gut."
Kurz schwieg er wieder, als ob er seine Gedanken sammeln müsste.
„Ich nahm dich an diesem Tag mit zu Chris, weil ich dich nicht gehen lassen wollte, weil ich dich ablenken wollte. Du hattest schon genug Fragen und ich wollte nicht, dass du anfängst über Reiter nachzudenken, dass deine lästige Neugier dir in die Quere kommen könnte. Kaum waren wir jedoch dort, merkte ich, was ein Fehler es war. Ich konnte diese zwei Leben nicht verbinden. Da war das 'normale' Leben, das ich vor den Jungs vorgegeben hatte mit meinen vielen Fehlern, und dann warst da du. Es hat mich überrumpelt, du hast mich überrumpelt, einfach weil ich merkte, wie verdammt sehr ich dich haben wollte, wie verrückt ich nach dir war. Dass du dann Hayden angerufen hast, damit er dich abholt, hat mich... ich war so wütend. Nicht auf dich, viel eher auf mich selbst... und vermutlich auf Hayden. Ich war ein Idiot, weil ich eifersüchtig war. Ich war eifersüchtig, weil ich wusste, jemand wie Hayden wäre so viel besser für dich. Er war keine schlechte Person wie ich, er trug nicht mehr Schuld auf seinen Schultern als er es tragen könnte. Er war gut, er bracht dich zum Lachen... schon immer. Damals... du hast ihn... Grace hat ihn nicht umsonst geliebt. Wenn ich nicht wie eine Plage dazwischen gegangen wäre, dann wäre... alles wäre anders geworden. Aber ich war schon immer selbstsüchtig. Ich wollte dich, ich wollte dich so sehr. Damals wie heute. Mein Leben macht keinen Sinn ohne dich, doch Hayden bei dir gesehen zu haben, es zeigte mir nur wieder, was für eine fürchterliche Person ich doch war."
Ich wollte was erwidern, ihm sagen, dass er nicht so streng zu sich sein durfte, aber da fuhr er bereits fort: „Ich hielt Abstand. So gut ich konnte, aber wie zwei Magnete wurden wir immer wieder zueinander gezogen und als du mir das Ultimatum in der Kampfhalle gabst, konnte ich nicht mehr. Ich brauchte dich, ich wollte dich, ich liebte dich und mir war es kurz egal, wer du wirklich warst und wer nicht. Ich war mir zwar zu beinahe hundert Prozent sicher, dass irgendein Teil von Grace in dir sein musste, aber es reichte. Selbst wenn es nur ein Funken von ihr war, wollte ich alles von dir. Ich glaubte Arnolds Worten, ich wollte vermutlich an sie glauben, auch wenn ich absolut keine Beweise bis dahin hatte. Ich hatte nur meine Gefühle, die Seelenbindung, eigenartige Zufälle. Aber es reichte. Ich war so glücklich mit dir, dass es mir als Bestätigung reichen musste, dass du sie warst oder das Universum mir eine zweite Chance des Glücks zumindest geben wollte, dass Grace vielleicht wollte, dass ich glücklich werde. Dann musste mein verehrter Bruder nur alles zerstören."
Das war, als Kellin den Bann auf uns legte.
„Er hielt mich von dir fern und ich wusste, es würde mich umbringen bei dir zu sein, ohne wirklich bei dir zu sein. Ich nutzte also meine Abwesenheit, um meinen Kopf klarer zu kriegen und nach Antworten zu suchen."
Er erhob sich ruckartig, wo er anfing, auf und abzulaufen, gestresst wirkte. Ich sah dabei zum Fenster hinaus. Der Himmel war rot. Die Sonne würde bald fort sein. Wie lange würde die Geschichte noch dauern? Wenn er mir wirklich jeden Schritt bis zu diesem Punkt jetzt erzählen wollte, dann eine Weile, aber er durfte nicht mehr aufhören. Ich musste alles erfahren. Mein Kopf arbeitete fleißig mit jedem Satz mit. Als wartete mein Geist nur darauf, endlich zu verstehen.
„Ich habe sehr viel nachgeforscht und als Chicago angegriffen wurde, wusste ich, dass ich schneller handeln musste. Die Zeitalter, die von den Wächtern als Schreckenszeiten auserwählt wurden, bedeuteten meistens großes Unheil. Dass genau jetzt so eine Zeit war, wo du hier warst, Grace so ähnelst... es war, als ob alles zusammenkommen würde", sagte Reed und setzte sich wieder auf die Fensterbank, raufte sein Haar. „Ich habe Chicago nicht angegriffen, die Reiter haben offenbar Chicago auch nicht angegriffen. Da blieb die Frage, wer war es dann?"
„Und du hast die Antwort?", fragte Acyn skeptisch und ich selbst sah interessiert zu ihm.
„Teilweise, nur ist es gerade eigentlich irrelevant, was genau ich wie herausgefunden habe. Wichtig ist nur, dass ich dadurch wusste, dass ich Hilfe brauche, mächtige Hilfe und zugleich besser auf ich aufpassen musste." Er sah mich an. „Hades war früher ein guter Verbündeter gewesen, aber unser Pakt war lange her, die Kräfte, ich die im Tausch bekommen hatte, kaum mehr vorhanden. Ein neuer Deal hätte mir sehr geholfen, aber wie beschwört man den König der Unterwelt her? Damals konnte ich es nur, weil ich dein Blut – Graces Blut – hatte. Was auch immer es mit dir auf sich hatte, war zu kompliziert, um das zu wiederholen. Um Hades überhaupt zum Reden zu bringen, damit er mir überhaupt helfen würde, würde es nur mehr brauchen als damals. Ich wusste, er wollte Daisy, aber Daisy konnte ich kaum einfach opfern und ich hatte es auch nie in Erwägung gezogen."
„Bis der Ball kam."
„Ich hatte es nie geplant. Ich hatte nie gewusst, was dort geschehen würde. Ich wusste nur, dass ich dich nicht in Rowans Nähe haben wollte, dass es in den Reihen der Wächter zu viele gab, die nur einen Grund suchten, um für Chaos zu sorgen und dass keiner dich sehen sollte, dich und dein Potential. Du wolltest nur nicht auf mich hören. Du hast ihnen allen zu schnell geglaubt, wenn es um mich ging. Du wolltest dir von mir nichts erklären lassen und ich merkte in dieser Zeit erstmals, wie wackelig deine Mauern geworden sind. Du bist richtig krank geworden, weil dich alles verwirrt und gestresst hatte."
So wie ich mitten auf der Straße beim Schnee umgekippt war. So wie ich angefangen hatte zu halluzinieren.
„Ich wollte dich umso dringender von allem fernhalten. Ich realisierte, dass die Wahrheit alles ruinieren könnte, dein geistiger Zustand in Gefahr schwebte, großer großer Gefahr. Du bist damals daran... Grace ist damals daran zerbrochen. Wenn man Dinge erfährt, die man nicht erfahren soll, wenn man Sachen herausfindet, die das ganze Leben von einem zerrütten, dann schadet es dem Kopf. Ich habe gesehen, wie du... wie Grace daran zerbrochen ist und ich wusste, wenn du dich daran erinnerst, wer du wirklich bist, es wäre eine Katastrophe. Es würde dich umbringen und ich konnte das nicht zulassen. Leider ist es beinahe unmöglich dich von irgendwas fernzuhalten, also warst du auf dem verdammten Ball und natürlich ging alles schief. Ich bin unendlich dankbar dafür, dass Hayden bei dir war, und ich wollte ihn nicht sterben sehen. Daisy an Hades zu opfern war die einzige Möglichkeit, die einzige, die allen helfen könnte. Ich bekam meinen Deal mit ihm, und mein Gespräch mit dem Gott der Unterwelt gab mir die letzten Hinweise, die ich gebraucht hatte."
„Hinweise?"
„Dass du lebst, dass du wirklich Grace bist. Er erzählte mir von der echten Alice-"
„Echten Alice?", fragte ich und Reed sah zu meinem Bruder, der sein Gesicht mittlerweile in den Händen vergraben hatte, als wollte er nichts mehr hören müssen.
„Acyn? Was hat das zu bedeuten?" Welche echte Alice? Das alles klang absurd und doch dachte ich an das Kindergrab, das ich gesehen hatte, und mir wurde schlecht. In meinem Kopf fing es zu Rauschen an. Diese vielen Informationen, diese vielen verrückten Informationen gefielen mir allmählich nicht mehr. Sie machten mir einfach Angst.
Acyn schüttelte nur den Kopf, nicht bereit zu reden, so dass Reed es übernahm.
„Alice Noir starb im Alter von Vier, nachdem sie schwer krank geworden ist."
„Wächter werden nicht krank."
„Doch, du hast es selbst gesehen bei deinem Bruder. Wir können krank werden, nur mit einer anderen Art von Krankheit. Alice Noir steckte sich recht unerwartet mit einer alten und höchst seltenen Krankheit an, die Kinder früher häufiger bekommen hatten. Wächterfieber. Es galt als so gut wie ausgerottet, aber alle paar Jahre stirbt dennoch ein Kind aus einer Wächterlinie daran. Hohes Fieber, starker Husten und irgendwann sind die Kinder zu schwach und ihre Herzen hören auf zu schlagen."
„Das kann unmöglich wahr sein!"
„Es ist wahr", sagte Reed und machte Anstalt auf mich zuzugehen, stoppte jedoch, weil ich auf dem Bett weiter zurückwich. „Ich weiß es klingt eigenartig-"
„Es klingt unmöglich! Denn ich bin hier und lebe!"
„Ok, ich erzähle einfach weiter und am Ende... am Ende kannst du entscheiden, was du denkst, ok?"
Ich nickte leicht und er sprach weiter: „Nachdem ich das wusste, zu hundert Prozent wusste, wollte ich nur noch herausfinden, wie ich dich zurückbekomme, den Bann zwischen uns breche, Rowan davon abhalte, die Wahrheit herauszufinden und es zu schaffen, deinen Verstand bei allem nicht zu beschädigen. Beim Bann halfen mir die anderen und kaum warst du wieder in meiner Nähe, ging es mir besser und dir auch, auch wenn du dich zu sehr darüber plagen ließt, was richtig und was falsch war. Ich beobachtete dich öfters als ich es sollte. Zum einen aus Sehnsucht, zum anderen aus Angst. Zu viele Leute waren hinter dir her. Olivias Anhänger, Rowans Gefolge und noch viele andere. Ich musste wissen, wie ich deinen Geist schütze, wie ich allen voran Rowan stoppe, also bin ich mit dir ins Jahr 1838 gereist, um Helena Aasen aufzusuchen, um Antworten zu verlangen."
„Was nebenbei super dumm war", murmelte Acyn, wurde jedoch ignoriert.
„Es war riskant dich in das Jahr zu bringen. Gesichter sind wie ein Spiegel an Erinnerungen. Würdest du dir selbst begegnen, könnte es sehr gefährlich werden. Aus dem Grund hatte ich von Anfang an dafür gesorgt, dass alle Bilder von Grace verschwinden. Aus meinem Haus, aus deinem Haus... ich hoffte einfach, dass deine kindliche Version nicht ausreicht. Das Gesicht eines Kindes ist immerhin nicht das, was es später sein wird, aber dieser Ausflug hatte auch andere Hürden, wie Helena selbst."
„Weil sie eine Hexe ist", sagte ich und er nickte.
„Weil sie eine Hexe ist und dadurch einen schnell durchschauen kann. Sie hat dich fast sofort als ihre Tochter durchschaut. Zwar wusste sie nicht, was die Ursache war, aber nach wie vor wollte sie mich beseitigt haben und dem auf die Schliche gehen." Er schüttelte den Kopf und ich selbst dachte ungern an die Ereignisse dieses Ausflugs zurück. „Es gab mir dennoch irgendwie eine Bestätigung, dass du sie warst, dass Helena selbst irgendwie in der Sache verwickelt war. Ich hatte zwar keinerlei Ahnung, was genau geschehen sein musste, aber ich ahnte, dass sie mehr wusste, nur leider fehlte mir etwas die Zeit, dem zu sehr auf die Schliche zu gehen. Rowan war mir das erste Mal seit einer sehr langen Zeit wieder als Bedrohung nahegekommen. Er war auf uns alle zu sehr aufmerksam geworden und ich wusste, es war riskant dich in meiner Nähe zu lassen, wenn Rowan von dir weiß und es war nur meine Schuld, dass er uns schließlich zu sich holte. Ich war am Durchdrehen, als er drohte, dir die Wahrheit zu sagen. Ich wusste nicht, was es mit dir machen würde, wie es dir ergehen würde. Nur plagten mich Erinnerungen an seine früheren Taten. Ich wusste also, dass er nicht davor zurückschrecken würde, dir etwas Schlimmes anzutun."
„Hat er aber nicht."
„Nein, weil er seine Spiele spielt und weil er weiß, dass er nichts davon hat, wenn du ihm nicht vorher gehörst. Als er uns beide so in die Lagerhalle lockte auf Wunsch Olivias, sah er seine Chance."
„Er wollte jedoch keinen Deal. Er hat nichts mehr dazu gesagt, bevor ich es ihm nicht vorgeschlagen hatte!"
„Er musste nichts sagen, weil er genau wusste, wie du handeln würdest. Ich drohte zu sterben. Niemals würdest du da einfach zusehen. Er wusste, was passieren würde, lediglich Olivia war zu naiv es zu erkennen und zu handeln. Selbst mit dir an sich gebunden wollte er jedoch keine drastischen Schritte zu schnell wagen. Er erhoffte sich ein Druckmittel mit dir zu erschaffen, vor allem als er hörte, wie ich dich in die Vergangenheit entführte, auf die exakt gleiche Weise wie Kellin Malia damals entführt hatte. Er ahnte mittlerweile, dass Malia eventuell noch leben könnte, und natürlich wollte er sie haben, noch viel dringender als dich."
„Das ist alles... es ist alles zu viel", unterbrach ich ihn, bevor er noch mehr sagen konnte. Es waren langsam viel zu viele Informationen, zu viele Bilder, die in meinem Kopf schwirrten. Ich konnte kaum mehr etwas miteinander verknüpfen, konnte alles kaum mehr richtig verstehen. Alles, was er sagte, ergab so viel Sinn und doch auch gar nicht, denn wieso war ich überhaupt hier? Wie konnte irgendwas davon wahr sein? Wieso erinnerte ich mich nicht? Wieso würde das jeder verheimlichen? Wie war das alles möglich?
„Ich weiß, Kleine", sagte Reed besänftigend und ich zuckte von diesem Kosenamen zusammen, als ob er mich geohrfeigt hätte. Reed nannte mich Herzblatt. In letzter Zeit war ihm das Wort Kleine immer mal wieder herausgerutscht, genauso wie Kol mich immer so genannt hatte...
„Kol... was hat es mit Kol auf sich?", verlangte ich zu wissen und Reed atmete tief durch.
„Kol ist tot, aber damals war er dein bester Freund, ehe Rowan ihn tötete."
„Er sagte Grace würde leben. Er hat gesagt, ich kann ihr nicht helfen... das ergibt keinen Sinn."
„Weil du dich erinnern müsstest, um ihr zu helfen, um dir zu helfen, und sich zu erinnern ist in einem Fall so enorm gefährlich. Du siehst, wie alles hier auf dünnem Eis steht. Je mehr ich dir sage, desto mehr verschwindet diese Barriere in dir, die dein jetziges Ich von deinem alten Ich abschirmt. Alles, was einst war, ist in dir, aber es wird blockiert", erklärte er mir. „Erinnerst du dich noch daran, als du mich gefragt hattest, wieso wir zwei nicht so eine mentale Bindung haben wie Kellin und Malia?" Ich nickte. „Weil da diese starke Blockade in deinem Kopf ist. Es wurde mit allen Mitteln versucht dein altes Leben und alles damit verbundene wegzusperren, aber manche Dinge kann man nicht wegsperren. Unsere Seelenbindung zum Beispiel ist dafür viel zu stark gewesen oder der Blick von anderen Göttern, so wie Andrea. Sie hat durch die Blockade durchsehen können, selbst Rowan konnte es nach einiger Zeit und weil er sich vermutlich genug zusammengereimt hatte."
„Aber wieso? Wieso existiert überhaupt eine Blockade? Wieso würde irgendwer mir so etwas antun? Was habe ich je getan? Wieso... wieso erinnere ich mich trotzdem an nichts... wieso bin ich dann hier und..." Ich schluchzte ganz aufgelöst, zog meine Knie an meine Brust und schlang meine Arme um meine Beine. Das war alles zu viel. Ich konnte nicht begreifen, dass irgendwas hiervon wahr sein sollte. Ich wollte es einfach nicht begreifen müssen.
„Hey, ich weiß es ist alles viel und ich weiß es klingt alles so unglaublich verrückt, das hat es für mich auch, Kleine. Es hat alles so absurd geklungen, aber es ist die Wahrheit. Ich habe alle Zeiten nach dir gesucht und dich endlich gefunden", sagte Reed beruhigend, traute sich jedoch nicht, in meine Nähe zu gehen. „Ich habe dich gefunden und alles gegeben, um auf dich aufzupassen, dich zu beschützen. Nachdem wir zurück in der Gegenwart waren, nachdem ich dich zu deinem Schutz entführt hatte, wusste ich, dass es schwer sein würde dein Vertrauen zurückzugewinnen, aber dass ich bis zum bitteren Ende um dich kämpfen würde. Ich habe alles gegeben, um deine Bindung zu Rowan zu durchbrechen, dich in Sicherheit zu wiegen. Ich habe gehofft, dabei einen Weg zu finden, dich zurückzukriegen als die Person, die du eigentlich bist, aber ich habe auch schon vor vielen vielen Wochen und Monaten akzeptiert, dass es egal ist. Du bist du. Und egal wie sehr ich auch mit dir alte Erinnerungen teilen möchte, in deine Augen sehen will und erkenne, dass du dich erinnerst, egal wie sehr ich mir wünsche, dir wäre nie etwas angetan worden, ich werde nichts davon je erreichen können. Aber jetzt hier am Ende sollst du wissen, wer du bist, wieso ich solche Geheimnisse vor dir bewahren musste. Und du sollst wissen, dass ich dich liebe, dass ich dich so unendlich sehr liebe, Grace."
Wörter: 7425
Aloha :) Puh, das Kapitel war hart. Ihr wisst gar nicht, wie schwer es war mal alles an Infos so zusammenzusetzen. Ich komme mir langsam vor wie in einer Mordshow, wenn Leute ihre Tafeln mit den ganzen Schnüren und alles haben, um ihre Infos zu verbinden hahaha. Natürlich ist das noch nicht alles an Infos gewesen, es fehlen immer noch dutzende Antworten, die ihr auch alle kriegen werdet, wenn auch zum Großteil erst im nächsten Buch. Das nächste und damit letzte Kapitel wird nett werden. Sonntag geht es weiter xx
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