48. Der letzte Tag
"Better to get hurt by the truth than comforted with a lie." - Khaled Hosseini
Ich kam vor Reed bei mir daheim an. Außer ihm, Hayden und Kellin wusste keiner, dass ich überhaupt verschwunden war, und ich war froh darüber. Ich wollte nicht meiner ganzen Familie berichten müssen, dass ich erneut entführt worden war und noch weniger wollte ich erklären müssen, was mir Aurora gezeigt hatte.
Bevor ich irgendwelche Ausreden von ihnen allen höre, bevor ihre Worte mir nur mal wieder den Kopf verdrehen würden, wollte ich meine eigenen Nachforschungen tätigen.
Eigentlich hatte ich mich damit abgefunden, ahnungslos zu sterben. Es war meine eigene Entscheidung gewesen, aber das, was ich gesehen hatte, es ließ mich nicht los.
Der Anblick von diesem Grab, was Rowan gesagt hatte, einfach alles, es irritierte mich, machte mich nervös, so dass ich regelrecht das Armband an meinem Handgelenk im Todesgriff umklammert hielt, versuchte mich nicht zu sehr verunsichern zu lassen.
Ich stürmte so regelrecht nach oben in die Bibliothek, bevor Reed hier auftauchen würde. In dieser suchte ich das Stammbuch meiner Familie auf. So lange hatte ich es nun lesen wollen, nun ging mir die Zeit aus.
Ich hätte das hier längst hinter mich bringen sollen. Ich hatte es viel zu lange aufgeschoben, vermutlich weil irgendein Teil in mir sich immer davor gefürchtet hatte, was mich in diesem Buch für Wahrheiten konfrontieren würden. Nun war es egal. Wenn bald alles enden würde, sollte es egal sein.
Ich klappte das schwere alte Teil auf und blätterte fast zum Ende. Da war eine Seit über Dari und eine über mich. Gut, das hatte ich bereits gesehen, damals, beim Geburtstag meines Großvaters.
Ich seufzte erleichtert. Das Grab musste eine Täuschung gewesen sein. Ein letzter böser Trick Rowans. Zu welchem Sinn und Zweck auch immer. Hier war ja der eindeutige Beweis, dass ich lebte. Das war meine Seite, mit meinem Bild, meinem Geburtstag und ohne Todesdatum.
Wie hatte ich mich auch nur eine Sekunde in die Irre führen lassen können?
Ich musste aufhören, mich von diesen Leuten in den Wahnsinn treiben zu lassen. Ich wusste, wer ich war. Ich erinnerte mich immerhin an mein Leben, an meine Kindheit, alles, was je geschehen ist, und da war ich gewiss nie gestorben. Es wäre unmöglich.
Meine Nerven gingen mit mir durch. Bei meinem drohenden Tod morgen, verlor ich wohl langsam den Verstand. Das alles sollte mir egal sein. Ich wollte meinen Frieden.
Ich wollte das Buch schon zuklappen, als mir was auffiel. Ich zog die Stirn kraus und blätterte hin und her zwischen den Seiten. Das Papier war... anders. Ich blätterte zum Ende des Buches, wo es noch viele leere Seite gab, die gefüllt werden würden, und da bemerkte ich, dass eine Seite ganz am Ende vorsichtig herausgerissen wurde. Würde man nicht genau hinsehen, würde man es kaum bemerken.
Ich blätterte zurück zu meiner Seite, die eindeutig nachträglich eingefügt wurde. Ich sah den feinen Klebestreifen, der mir nie aufgefallen wäre, hätte ich nicht nach etwas Ungewöhnlichem gesucht.
„Was hat das zu bedeuten?", murmelte ich leise und blätterte noch weiter zurück. Keine andere Seite wurde so nachträglich eingefügt. Wieso ausgerechnet meine? War es reiner Zufall?
Wieso nur? Hatte jemand bei meiner Seite geschlampt und musste etwas ausgebessert werden? Fehler passieren, aber wie wahrscheinlich war das schon? Instinktiv griff ich wieder nach dem Armband an meinem Handgelenk, versuchte mich ruhig zu halten.
„Was machst du da?" Ich hätte fast aufgeschrien, so unbemerkt hatte Reed sich in die Bibliothek schleichen können. Ich hinterfragte gar nicht erst, wie er ins Haus gekommen war.
Reed sah besorgt zu mir, als er eintrat und ich klappte das Buch zu, legte es zur Seite und ließ mich von ihm in die Arme ziehen.
„Was ist passiert?", fragte er mich und ich atmete seinen beruhigenden Duft ein, schmiegt mein Gesicht an seine Schulter.
„Aurora hat mich überrascht. Offenbar sind die Wachen keine Freunde von mir. Ich denke meinen kleinen Angriff von damals haben sie nicht gut weggesteckt damals."
„Was hat sie getan?"
„Nichts, das ist das komische", murmelte ich und er drückte mich sanft von sich, um mich überrascht anzusehen.
„Nichts?"
„Sie hat mich zum Friedhof gefahren und mir mein eigenes Grab gezeigt", sagte ich und er wirkte erschüttert.
„Sie hat was?"
„Ja, nur war es nicht mein Grab... es kann nicht meines gewesen sein. Laut dem Grab wäre ich als Vierjährige gestorben, was absurd ist, immerhin stehe ich doch hier, oder nicht?"
Reed wirkte einen Moment sprachlos. Er hatte offenbar mit vielem gerechnet, nur nicht hiermit. Er schien genauso wenig zu begreifen, wieso sie das tun würde. Kurz rang er nach Worten, ehe er sich wieder fing und leicht benommen den Kopf schüttelte. „Sie wollen dir schaden. Sicher hat sie es dir deswegen gezeigt. Ein letzter Versuch dich zu verunsichern" Es klang nicht überzeugend, was mich irritierte.
„Weißt du irgendwas dazu, Reed?"
„Was sollte ich schon wissen? Wie du meintest, du lebst. Außerdem gibt es sicher tausend Alice Noirs. So außergewöhnlich ist der Name nicht." Er lächelte mich schwach an und ich schüttelte den Kopf, wich etwas mehr von ihm zurück.
„Mein Familienbuch... die Seite von mir wurde nachträglich hinzugefügt, ich glaube, irgendwas stimmt nicht. Da ist mehr und du weißt mehr. Sag es mir!"
„Beruhige dich bitte", sagte er und nahm mein Gesicht in seine Hände, als ich drohte, unruhig zu werden. Mein Kopf fing zu Pochen an und kurz verschwamm meine Umgebung. „Ich will nicht von diesen Leuten diese letzten Stunden zerstört bekommen. Können wir darüber reden, wenn wir den morgigen Tag überstanden haben?"
„Wie soll ich den morgigen Tag denn überstehen? Ich werde tot sein und-"
„Wirst du nicht!", sagte Reed eindringlich und erschöpft schloss ich die Augen. Das war alles zu viel und zu anstrengend. Ich war müde. So furchtbar müde. Ich kam mir vor, als ob ich mit jeder Stunde, die verging, mehr an Kraft verlor, mein Leben wirklich langsam endete und mein Körper und Geist das längst wussten und sich anfingen, zu verabschieden. Es war gruselig. Alles war einfach nur gruselig.
Während ich die letzten Stunden des Tages mit Reed verbrachte, war ich sehr in Gedanken. Ich dachte daran, dass ich viele Geheimnisse niemals mehr lüften würde, ich dachte daran, dass ich andere Geschehnisse nie begeifern würde. Nicht nur mein eigenes Grab beschäftigte mich. Es war nicht die einzige schräge Sache, die ich in den letzten Tagen meines Lebens herausgefunden hatte. Ich hatte es Reed nämlich nicht erzählt, aber an dem Tag, als ich in den Irrgarten gegangen war, war mehr geschehen. Ich hatte aus Verzweiflung heraus Olivia aufsuchen wollen, damit sie mir hilft. Es war erbärmlich gewesen, immerhin war sie böse und was bedeutete ich ihr schon? Gar nichts natürlich. Ich hatte nicht gedacht, dass sie überhaupt erscheinen würde, und das war sie auch nicht, nicht wirklich zumindest. Erst hatte ich angenommen nun endgültig gaga zu werden, weil ich ihre Stimme wie das Wispern des Windes hörte, aber dann hatte ich mich erinnert, wie merkwürdig die Steinplatte war, dass sie zwar ein verschlossener Durchgang zu anderen Welten war, aber der Schleier an diesem Ort nach wie vor sehr dünn war. Und egal was auch immer Olivia nun war, nachdem Hades sie ‚umgebracht' hatte, sie war nicht wirklich hier. Sie war zu schwach dafür.
„Bist du hier, um nach Hilfe zu betteln?", hatte sie mich herablassend gefragt. „Rowan ist eingesperrt, wie viel Hilfe kannst du noch gebrauchen? Ich hätte dir früher zur Seite stehen können, aber du kommst erst nun, wo alles längst vorüber und zu spät ist."
„Ich brauche deine Hilfe wegen etwas anderem."
„Oh, ich weiß genau, wovor du dich fürchtest. Keiner wird dir mehr helfen können. Ich werde es nicht. Sie hat dich gefunden und sie weiß, dass alle anderen dich auch gefunden haben. Das Versteckspiel wird ein Ende finden."
„Versteckspiel? Was soll das bedeuten? Wer hat mich gefunden?", hatte ich sie ganz irritiert gefragt, war nur noch verwirrter von ihren kryptischen Aussagen gewesen.
Ein leises Lachen war zu mir geweht und das Blut in meinen Adern war mir regelrecht eingefroren, so schaurig hatte es geklungen.
„Ich habe dich immer nur wegen deiner Macht gewollt. Vermutlich ist mein Ziel nun unerreichbar. Ich bin nicht mehr als ein Schatten, ohne Hilfe, ohne Kraft und du entgleitest mir jede Stunde, die vergeht, mehr und mehr. Andere haben dich vor mir gewarnt, wie Caroline diese nervige Bibliothekarin, die mir immer misstraute. Aber wer hat dich je vor der wahren Gefahr gewarnt? Ich mag dich auch nur opfern zu wollen, aber ich habe immer versucht dir einen ehrenvollen Tod zu geben, wenn es so weit wäre. Nach allem, was wir zusammen durchgestanden haben, wäre es das mindeste gewesen, was du verdient hättest. Das wahre Monster behauptete immer dich beschützen zu wollen, aus Liebe gehandelt zu haben, aber sie hatte von Anfang an gänzlich andere Absichten und nun hat sie dich gefunden. Deine Zeit läuft ab, Alice."
Ich hatte sie damals noch mehr fragen wollen. Ich hatte mehr Antworten in dem Moment einfach gebraucht, aber dann war da Reed gewesen und ich hatte es nicht über mich gebracht, ihm von dieser skurrilen Begegnung zu erzählen. Es war einfach zu irreführend.
Von wem hatte sie gesprochen? Wie hatte alles einen Bezug zueinander? Gern hätte ich deswegen Caroline im Quartier angesprochen und gehofft, sie würde auch mehr wissen, wenn sie Olivia schon so viel früher als das, was sie war, enttarnt hatte. Sie hatte mich immerhin damals wirklich vor ihr gewarnt. Nur hätte ich ein Gespräch mit ihr aufgesucht, wäre Reed dabei gewesen und eigentlich war alles nicht von Bedeutung. Zumindest hatte ich mir das so gut eingeredet, bis Aurora mir dieses verdammte Grab zeigen musste.
Nun wurde ich von Bildern und Fragen geplagt, die ich nicht verstand, und es war zu spät alles zu verstehen.
Ich schlief in der Nacht nicht. Nachdem ich beim Abendessen nichts zu mir nehmen konnte und ich mich fragte, ob ich morgen Früh einen von ihnen überhaupt noch sehen würde, weinte ich die ganze Nacht. Reed hielt mich in seinen Armen, sprach mir gut zu und vergoss selbst Tränen, während er mir auf sehr viele Weisen zeigte, wie sehr er mich liebte.
Der Morgen kam zu früh und ich wollte am liebsten den ganzen restlichen Tag in meinem Bett bleiben und auf das Ende warten, wobei Reed nicht mitmachte.
„Palina sieht immer noch nichts, sie sieht jedoch immerhin einen Zeitraum, und zwar dass es nach Sonnenuntergang sein wird, fast direkt nachdem der Himmel dunkel wurde, und dass du an einem seltsamen Ort sein wirst. Sie konnte ihn mir nicht beschreiben, er hat ihr einfach Angst gemacht... was auch immer das zu bedeuten hat."
„Also, wenn wir dieses Zimmer nicht verlassen, ist alles gut?", fragte ich skeptisch. Was geschah denn, dass ich nach Sonnenuntergang nicht mehr hier war? Was würde geschehen?
„Wirkt so, aber es wird sicher nicht so leicht werden. Wenn was geschieht, springe ich mit dir in die Zeit."
„Und was ist, wenn das genau der Grund ist?" Ich würde es nicht ertragen, wenn Reed in der Sache beteiligt war, einfach weil ich wusste, dass er sich selbst verachten würde. So oder so würde er es. Er würde meine Seite nicht verlassen, er würde es nicht verhindern können und egal was auch passiert, er würde sich dafür die Schuld am Ende geben
„Ich werde alles geben, Alice. Ich werde nicht hier sitzen und abwarten", sagte er und ich lächelte ihn an, als es an meiner Türe klopfte und noch ehe ich was sagen konnte, Hayden, Sam, Elin, Kellin und Malia eintraten.
„Seid bitte angezogen", sagte Hayden, der sich eine Hand vor die Augen hielt und sich von einem grinsenden Sam ins Zimmer führen ließ.
„Alle sind angezogen", versicherte er ihm und Hayden atmete erleichtert auf.
„Was macht ihr denn alle hier?", fragte ich überrascht sie alle zu sehen.
„Wir wollten euch Gesellschaft leisten. Wenigstens für ein paar Stunden", sagte Elin, die mich in die Arme zog. Ich wollte schon fast wieder weinen, so süß war das, aber ich riss mich zusammen und konnte auch einfach keine Tränen mehr vergießen. Ich hatte so viel geweint, meine Augen waren wie eine Wüste.
„Gibt es genauere Informationen?", fragte Kellin, der sich auf den Sessel niederließ und Malia auf seinen Schoß zog.
„Kurz nach Sonnenuntergang, aber keine Ahnung wieso", sagte Reed, der mich von Elin fortzog, um mich selbst in eine Umklammerung zu ziehen.
„Das sind noch knapp neun Stunden bis dahin", sagte Hayden, der auf sein Handy starrte. „Wir bleiben acht hier und anschließend sind wir auch in der Nähe, falls ihr Hilfe braucht."
So dass Reed und ich eine Stunde nur zu zweit hätten.
Es war süß.
Es war perfekt.
Obwohl ich natürlich nicht sterben wollte, war all das hier irgendwie fast perfekt. So umgeben von Leuten, die einem wichtig waren, so wohlbehütet und geliebt.
„Wir haben ja keine Ahnung, was geschehen wird", sagte Sam. „Aber wenn es darum geht, sie zu beschützen, werden wir alle in der Nähe sein."
Ich lächelte sie alle dankend an und konnte mich kaum glücklicher schätzen, so wundervolle Leute in meinem Leben zu haben, so geliebt zu werden. Wenn ich heute sterbe, dann würde ich glücklich sterben, dann würde ich wissen, dass ich doch etwas erreicht hatte. Ich hatte es geschafft, dass sie alle hier zusammen waren. Die Brüder, die immer im Streit zueinanderstanden, lachten in einem Zimmer zusammen. Meine Cousine war wieder hier, lebendig und wohlauf. Elin hatte ihre Liebe gefunden. Hayden war in sicheren Armen und Reed... er war glücklich, für den Moment. Es war das einzige, was mich störte. Wenn ich heute sterbe, würde es jeder verkraften. Sicher wären sie traurig, aber ich wusste, dass sie alle irgendwann damit leben könnten. Sie alle hatten jemanden, sie alle würden ihre Leben irgendwie weiterleben können.
Reed nicht.
Er hatte über hundert Jahre gebraucht, um über Grace hinwegzukommen und in diesen hundert Jahren war er ein Wrack gewesen. Sterbe ich... ich wusste nicht, wie er das noch einmal schaffen sollte. Ich betete zu all den vielen Göttern, dass die anderen ihm helfen können und doch wusste ich, dass ich im Tod nicht lange auf ihn warten müsste, was mich unendlich traurig machte. Ich wollte nicht, dass er meinetwegen so litt, sich irgendwas antut, alles enden lassen würde.
Wir verbrachten den Tag im Zimmer, bestellten Pizza, die ich nicht essen konnte, sprachen über vergangene Dinge, die Zukunft und über so viel Banales. Keiner erwähnte meinen Tod, keiner erwähne Rowan, den Krieg oder dass immer noch zu viel Schrecken geschah. Kurz lebten wir alle in dieser glücklichen, schönen Blase und ich liebte es.
Eine Stunde vor Sonnenuntergang ließen die anderen uns wie versprochen allein. Nicht ohne, dass ich vorher von allen umarmt wurde. Hayden verdrückte einige Tränen, Elin noch mehr und selbst Kellin war ausnahmsweise freundlich und sah mich an, als ob er mich vielleicht ja sogar vermissen würde.
Elin ging auf ihr Zimmer zu Riley, Kellin und Malia in ihr altes Zimmer unten und Sam und Hayden würden im Garten der Wentworths etwas verweilen, so dass Reed und ich allein waren.
Ich hatte mir das Armband abgelegt und einen kurzen Schlafanzug angezogen. Ich wollte versuchen, alles so normal wie immer zu lassen und wenn ich sterbe, wollte ich als ich sterben.
„Gleich ist es so weit", hauchte ich und sah aus dem Fenster, wo der Himmel noch normal wirkte, höchstens etwas rötlicher.
„Denk nicht darüber nach", mahnte Reed mich, der seine Arme von hinten um mich schlang und meinen Nacken küsste. „Ich will auch nicht daran denken. Wir sollten die Vorhänge zuziehen und nicht mehr raus sehen."
„Dann hilf mir zu vergessen", sagte ich und sah zu ihm auf, wo er mich sofort küsste. Der Kuss war so voller Verzweiflung, dass ich zittern musste, halb erstickte, als ich ein Schluchzen unterdrückte. Reed drängte mich gegen die Wand und ich keuchte auf von der Wucht der vielen Gefühle in mir.
„Ich liebe dich so sehr. Lass mich bitte niemals allein", hauchte ich gegen seine Lippen und er verteilte küsse gegen meinen Hals.
„Niemal. Niemals, niemals, niemals. Ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr, Gracie."
Noch ehe ich es realisiert hatte, hat Reed seinen Fehler selbst bemerkt und hörte prompt mit den Küssen auf, um mich schockiert anzusehen.
Als ob er mich geohrfeigt hätte, drückte ich ihn von mir und sah ihn entsetzt an.
„Wirklich?"
„Fuck... nein, es tut mir leid..."
„Du nennst mich so? Jetzt? Während wir uns küssen? Während ich dem Tode geweiht bin?" Wollte er mein Herz unbedingt noch brechen, bevor alles endet?
„Nein, du musst mir zuhören, Alice..."
„Oh, jetzt bin ich wieder Alice?"
„Hey, könnte mir einer verraten, was heute mit euch allen los ist, ich..." Acyn war ins Zimmer getreten, wo er jedoch irritiert stoppte, als er sah, wie Reed und ich uns ansahen. „Was ist hier los?"
„Nichts", sagte ich aufgelöst. „Nur dass Reed mich Grace nennt!"
Mein Bruder sah Reed entsetzt an. Er konnte genauso wenig fassen, dass er das getan hatte. Wieso ausgerechnet jetzt? Weil ich gleich genauso tot bin wie sie? Ich verstand es, dennoch war es verletzend. Mir schwirrte etwas der Kopf und ich wurde hysterischer als es normal wäre. Ich steigerte mich in die Sache hinein, nicht nur wegen des Namens, doch die Aussicht, dass ich in einer Stunde schon tot sein könnte, machte mich fertig. Alles kam hoch. Ich verlor etwas die Kontrolle über meine Gedanken, Gefühle, es war, als ob die vielen Kisten, die ich in mir weggeschlossen hatte, aufbrechen wollten.
„Alice, darf ich es dir erklären?", fragte Reed mich und wollte weiter auf mich zulaufen, aber ich wich zurück, so dass Acyn weiter ins Zimmer lief, sich zwischen uns stellte.
„Du bleibst da, wo du bist. Wenn sie nicht will, dass du ihr zu nahekommst, bleibst du fern von ihr!"
„Ich will es ihr nur erklären!"
Während die zwei sich stritten hielt ich mich am Bettpfosten fest und merkte, wie mir ganz schwummerig wurde. Der Tag war zu anstrengend. Die ganzen Emotionen waren zu anstrengend. Tränen kullerten unkontrolliert über mein Gesicht und ich fühlte mich so, wie wenn ich einer meiner Halluzinationen bekam, nur dass es dieses Mal so viel schlimmer war.
„Alice?", fragte Reed, der mir ansah, dass irgendwas nicht stimmte.
„Was ist los?", fragte Acyn und ich schüttelte den Kopf, massierte mit einer Hand meine Schläfen, während ich mich mit der anderen festhielt, als ob mein Leben davon abhing. Mir wurde heiß, verdammt heiß und schlecht.
„Ich verliere es...", murmelte ich durcheinander.
„Was verlierst du, Herzblatt?" Reed stützte mich, damit ich nicht ganz zusammenbrechen konnte.
„Sie verliert die Kontrolle", sagte Acyn leise. „Was hast du angestellt?"
„Das ist die ganze Situation. Es macht zu viel kaputt."
„Ich kann es nicht zurückhalten", sagte ich verängstigt, dass die Stimmen und Bilder und eigenartigen Szenen sich langsam hochschlugen, mich umhüllen wollten, mein Kopf immer nebeliger wurde.
„Wir sollten sie ruhigstellen, das ist zu gefährlich. Ich hole meinen Vater", sagte Acyn und wollte gehen, aber Reed stoppte ihn. „Nicht ruhigstellen! Ich werde ihre letzte Stunde nicht verschwenden, in dem sie ruhiggestellt wird!"
„Letzte Stunde? Wovon sprichst du?"
„Ihre Zeit läuft ab", zischte Reed besorgt und setzte mich aufs Bett, wo ich mein Gesicht in meine Hände nahm, meine Nägel regelrecht in meine Haut bohrte und versuchte, nicht durchzudrehen.
„Was zum Teufel nochmal verschweigt ihr uns? Was ist los? Ich wusste doch, dass irgendwas nicht stimmt und nun verliert sie die Kontrolle! Was gedenkt du bitte zu tun? Es einfach zuzulassen? Sie weiß nicht, was passiert."
„Und es ist Zeit mit den Lügen aufzuhören. Sie sollte die Wahrheit kennen. Sie verdient die Wahrheit", murmelte Reed.
„Bist du verrückt geworden?"
„Ich werde sie nicht jetzt anlügen."
„Reed", schluchzte ich, wollte am liebsten fliehen, dem Streit entkommen, den Stimmen entkommen. Ich wollte abwarten, bis es vorbei war.
„Ich weiß wir haben uns geeinigt, dass ich alles verborgen halte bis zum Schluss, Herzblatt, aber ich denke, es ist besser so, ok? Du verlierst zu sehr die Kontrolle und ich weiß nicht, wie ich dich beruhigen soll. Versuch mich einfach nicht zu sehr zu hassen, ja? Versuch es zu verstehen."
„Wage es ja nicht!", drohte Acyn ihm kalt, bedrohlich.
„Ich weiß ich habe versucht die Wahrheit vor ihr zu ihrem Schutz geheim zu halten und ich weiß, dass es riskant ist, aber sie verliert jetzt schon den Verstand, keiner von uns wird sie so einfach ruhig bekommen und sie steht an der Schwelle des Todes. Sie verdient es zu wissen, wer sie ist. Sie verdient die Wahrheit."
„Schwelle des Todes?"
„Welche Wahrheit?", fragte ich und sah Reed, der vor mir kniete, verwirrt an. „Welche Wahrheit, Reed?"
„Reed!", warnte Acyn ihn und Reed sah mich einen Moment hilflos an, haderte mit sich selbst.
„Bitte lass es mich einfach erklären, ok?"
„Welche Wahrheit, Reed?"
„Du musst versuchen alles, was ich sage, so gefasst wie möglich anzunehmen. Bitte versuch es. Ich flehe dich an, du musst es versuchen."'
Schweigend sah ich ihn an, verstand nicht, was das sollte, was hier geschah. Ich war so durcheinander und obwohl es sicher nicht der beste Moment für eine Wahrheit war, obwohl ich akzeptiert hatte, sie nie zu erfahren, ich sie nicht mehr kennen wollte, so wollte ich nun nichts anderes mehr wissen. Ich musste es einfach wissen.
Reed wusste, dass es bald vorbei wäre. Er wusste, es würde keinen Unterschied machen. Er hatte akzeptiert, dass der Tod heute Abend in diesem Zimmer lauerte, mich holen würde. Ich verdiente die Wahrheit und auch wenn ich diese Wahrheit nicht mehr wissen wollte, akzeptiert hatte, dass ich sie nie erfahren würde, war die Zeit gekommen.
Obwohl sie schockierend war, wusste ich genau, was er sagen würde, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte. Vermutlich hatte ich es immer gewusst. Ein Teil von mir hatte es immer gewusst und es nie ganz akzeptiert.
„Die Wahrheit ist... du bist Grace."
Wörter: 3540
Aloha :) Ich denke mal, mit dem Ende haben einige gerechnet. Mal sehen, was es damit auf sich hat, denn das nächste Kapitel ist Reeds Geschichte. Da das nächste Kapitel verdammt lang wird, also wirklich, wirklich krank lang und ich beim Schreiben davon ein bisschen den Verstand und sicher einen Teil meiner Seele verloren habe, bin ich mal so gemein und veröffentliche es je nachdem wie viel support ich bei diesem Kapitel kriege. Seid ihr ganz ganz lieb, kommt es am Mittwoch. Seid ihr eher weniger lieb, lasse ich euch ganz lange warten xD xx
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