47. Alice Noir

"My soul shattered with the strain of trying to belong to earth." - Louise Glück

Reed verließ meine Seite nicht mehr.

Wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, mich zu küssen und zu halten, dann telefonierte er mit seinen Leuten. Mit Palina, Arnold oder Kellin. Er wollte meinen kommenden Tod nicht akzeptieren und er suchte einen Ausweg. Was dieser sein würde, wusste ich nicht, ich wollte mir auch keine Hoffnung machen müssen. Ich war einfach froh, dass er hier war und nun die Wahrheit kannte.

Jeder, der es in meinen Augen wissen sollte, war nun eingeweiht. Elin, Sam, Hayden, Malia, Kellin und Reed. Es war unfair meine Familie im Ahnungslosen zu lassen, aber ich brachte es anders nicht übers Herz. Ich wollte nicht, dass meine Eltern mit Dari herkommen und sich unnötig in Gefahr begeben, und ich wollte nicht noch mehr Tränen sehen und mehr Trauer erleben. So wie es jetzt war, war es am besten.

Rowan war zwar eingesperrt, aber seine Leute waren immer noch frei. Leute wie Victoire Bardeaux oder Aurora Wentworth liefen immer noch frei herum. Es war zu gefährlich, nun unaufmerksam zu werden.

„Können wir kurz Partner tauschen?" Ich sah zu Kellin, der mit Malia an seiner Seite mein Zimmer betreten hatte, in dem Reed und ich zusammen im Bett kuschelten. Wir taten das sehr, sehr oft mittlerweile. Obwohl es Sommer war und es in meinem Zimmer gefühlt tausend Grad heiß war, bestand Reed darauf, mich so feste es ging in den Armen zu halten.

„Ich muss mit dir reden. Malia bleibt so lange bei Alice", sagte Kellin weiter und ich löste mich von Reeds Umklammerung, richtete mich etwas mehr auf.

„Natürlich", sagte ich, ehe er protestieren konnte.

„Beeil dich aber", murrte er unglücklich gehen zu müssen, ehe er mich küsste und seinem Bruder aus dem Zimmer folgte, mich mit meiner Cousine allein ließ.

„Wie geht es dir?", fragte ich sie und sie musste lachen.

„Das fragst du mich?"
Ich zuckte mit den Schultern. „Du warst fast einen Monat bei Rowan und bist erst seit wenigen Tagen zurück."
„Mir geht es gut. Es ist nicht das erste Mal, dass ich es überlebt habe bei ihm zu sein. Außerdem war er es das erste Mal, dass ich währenddessen richtig helfen konnte, etwas bewirken konnte."
„Du musst dringend aufhören, mir helfen zu wollen. Ich meine, es ist toll, dass du es geschafft hast ihn einzusperren, aber dass du dich meinetwegen so geopfert hast... es sollte sich nicht wiederholen müssen", merkte ich schmunzelnd an und sie setzte sich auf den Sessel in der Ecke.

„Wir sind Familie..."
„Und du fühlst dich für mich verantwortlich", sagte ich seufzend, das hatte sie das letzte Mal auch schon gesagt.

„Ganz genau. Ich habe dein Leben retten können, also habe ich es getan. Ich habe immer wieder versucht dich im Auge zu behalten, so habe ich dich auch in die richtige Richtung geschoben und dir Mr Spencer als Mentor besorgt."
„Du hast... was?", fragte ich perplex und ihr Lächeln wurde breiter.

„Wann immer ich Kellin überzeugen konnte mich mit in die Gegenwart zu nehmen, habe ich versucht, dir zu helfen. Du brauchtest einen Mentor und ich wusste, er war der einzig geeignete, also habe ich eine Bewerbung für dich geschrieben."
„Aber... wie... du bist... wie hat dich keiner gesehen?" Wenn sie die Bewerbung von mir daheim gestohlen und im Quartier abgegeben hatte, musste sie gewiss jemand gesehen haben!
„Oh, ich wurde gesehen, aber jeder hat gedacht, ich wäre du. Es war einfacher als gedacht. Sag nur nichts Kellin. Wenn er wüsste, wie ich meine Zeit hier genutzt habe, würde er wütend werden."

Sprachlos sah ich sie an und konnte es kaum glauben.

Ich musste lachen. „Wow... danke für die Hilfe. Du bist mutiger als dir guttut." Ohne sie hätte ich niemals Mr Spencer auserwählt, so viel stand fest, aber ich war froh drum. Von allen möglichen Mentoren war er nun einmal der beste.

„Das ist wohl unser Noir-Blut. Wir sind allesamt lebensmüde."
„Oh, das glaube ich auch. Wir werden aber auch von so einigem an Mist heimgesucht. Du wurdest immerhin dein ganzes Leben von Rowan gejagt, im Park bewusst als Ziel herausgesucht und..."

„Oh ja, das waren die Wanderer", sagte sie kopfschüttelnd, als ob es sie kränken würde.

„Die Wanderer wollten dich umbringen? Wieso würden sie das versuchen?" Während der Schießerei im Park, wo wir einen Deal mit Rowan mal wieder vereinbaren wollten, war die erste Kugel für Malia bestimmt gewesen und hätte Kellin sie nicht beschützt, hätte es sicher schlimm enden können. Ich hatte mich immer gefragt, wer es so auf sie abgesehen hatte, und hatte mit irgendeinem Feind Rowans gerechnet, von denen hatte er immerhin so einige als Anführer der Reiter und Mafiaboss. Aber die Wanderer? Sie hatten mir damals wegen Rowan geholfen. Wieso würden sie dann Malia tot sehen wollen?

„Sie wissen, dass ich eine Machtquelle für Rowan darstelle und dass ich leider dazu neige, in seiner Gegenwart schnell schwach zu werden. Für sie ist es leichter, wenn ich fort wäre, anstatt zu riskieren, dass er durch mich gefährlich wird. Woher sie wussten, dass ich in diesem Park auftauchen würde, weiß ich nicht. Vielleicht haben sie die Gegend im Auge behalten, zu deiner Sicherheit vermutlich. Es ist jedoch fürs erste irrelevant."
„Irrelevant? Diese Leute wollen deinen Tod!"

„Kellin hat eine Vereinbarung mit ihnen getroffen, fürs erste werden sie keine Bedrohung mehr darstellen."
„Was für eine Vereinbarung?" Kritisch hob ich die Brauen. Mi erschien es schräg, dass Kellin mit irgendwem vernünftig reden würde, der versucht hatte seine Malia umzubringen. Das war nicht seine Art.

„Nichts von Bedeutung, es gibt derzeit erst einmal wichtigere Themen", sagte sie lächelnd und gern hätte ich protestiert, aber genau in dem Moment kehrte Reed zurück und ich wurde abgelenkt, als er mich sofort in die Arme zog, als ob wir uns seit Tagen nicht mehr gesehen hätten. Es ließ mich kurz alles vergessen.

Malia hatte recht. Es war gerade nicht von Bedeutung und keine Ahnung, ob es das für mich überhaupt jemals sein würde. Die Zeit tickte.



Ich hatte noch zwei Tage. Heute noch und irgendwann morgen würde ich vermutlich meinen letzten Atemzug machen. Morgen würde ich das letzte Mal aufwachen. Morgen würde ich das letzte Mal die Sonne sehen. Morgen würde ich das letzte Mal leben.

Je näher mein Todestag kam, umso nervöser wurde ich. Ich wollte alles genießen, das Essen, die Liebe meiner Familie, das Leben, nur war mir vor Angst so schlecht, dass ich keinen Bissen mehr in mir behalten konnte und die Nähe meiner Familie kam mir so erdrückend vor, dass ich kaum lange bei ihnen sein konnte, ohne zu weinen.

Palina sah immer noch keine genauen Umstände und Reed machte es wütend. Ich hatte ihm erst gestern das Handy wegnehmen müssen, weil er angefangen hatte, sie beim Gespräch anzuschreien. Sie nahm es ihm nicht übel und verstand, dass er in panischer Angst war, aber ich wollte nicht, dass er meinetwegen die Kontrolle verlor. Ich hatte gehofft, er könnte stark sein, während ich vor Furcht zerfalle, aber die Aussicht, dass er erneut seine Partnerin verliert, machte ihn wahnsinnig. Es zerbrach mir mein Herz zu wissen, dass er morgen genauso sterben würde wie ich auch. Wäre ich fort... ich wusste wirklich nicht, ob er das ein zweites Mal überlebt und wenn ja, wie es ihm dann ergeht.

Hayden hatte mir versprochen, dass er sich um ihn kümmern würde, aber wenn Reed allein sein wollte, würde er ihn niemals festhalten können und das machte mir Angst. Er wäre eine tickende Zeitbombe und ich wollte nicht, dass er meinetwegen alles verliert.

„Ich habe ja keine Ahnung, wieso ihr zwei kaum mehr dieses Zimmer verlässt, aber langsam nervt es", sagte Acyn, der mein Zimmer betrat und Reed und mich kritisch musterte. „Ich hatte erwartet, ihr wärt fröhlicher, nun, wo Rowan eingesperrt ist."

Er ahnte, dass irgendwas nicht stimmte. Und so wie er mich ansah, ahnte er, dass es übel war. Er schien sich irgendwas zusammenreimen zu wollen und ich fühlte mich furchtbar es ihm nicht zu sagen, aber es war besser so. Für mich zumindest. Durfte ich nicht auch etwas egoistisch sein? Immerhin würde ich sterben, da durfte ich wenigstens einmal an mich denken.
„Wir sind fröhlich", sagte ich und mein Bruder schnaubte. Natürlich glaubte er uns nicht. Reed hatte sein Gesicht an meinem Bauch vergraben und hielt mich dabei umklammert, als ob ich jeden Moment verschwinden würde und ich war wie ein Wrack mit zerzaustem Haar und geröteten Augen vom vielen Weinen.

„Ich dachte, ich lenke euch etwas ab von dem, was auch immer ihr hier macht und von dem ich keine Details haben will", sprach er weiter. „Rowan will ein Gespräch mit dir, Alice."
„Was?", fragte Reed, der nun aufsah und dessen Blick schaurig war.

„Keine Ahnung wieso, aber da er mit keinem von uns reden will, hatte Warren gehofft, du willigst ein. Er bleibt natürlich in seiner Zelle und alles."

„Das ist zu riskant", sagte Reed alarmiert und erhob sich vom Bett.

„Wieso will er denn mit mir reden?", fragte ich und wusste nicht, was ich davon halten sollte. Rowan war eine Gefahr.

Aber was hätte er schon davon, mit mir zu reden? Ich hätte eher gedacht, dass er Malia sehen möchte und nicht mich. Hatte er mir nicht zu oft verdeutlicht, dass er mich kein bisschen ausstehen konnte?

„Er will ihr schaden!", sagte Reed.

„Ich kann es nicht sagen, aber er kann ihr nichts anhaben in der Zelle."
„Worte können genügen", merkte Reed an und hatte recht. Rowan wusste etwas, das ich nicht wissen sollte, nicht hören sollte, wenn ich meinen Verstand nicht verlieren wollte. Vielleicht war er nun so auf Rache aus, dass er mir schaden wollte? Hatte er dann seine alten Pläne aufgegeben? Es wäre interessant mehr zu erfahren, aber dafür müsste ich mit ihm reden.

„Will er mich nur sehen, um mir zu schaden?", fragte ich skeptisch. Es konnte gut möglich sein, aber ich glaubte, es müsste mehr dahinterstecken. Im Grunde war es auch einfach egal. So oder so war ich morgen tot. Wenn ich vorher den Verstand verliere, wäre es schade um den einen Tag, aber dann wäre es halt so.

„Wachen wären vor Ort, er kann nichts machen, seine Macht ist durch die Zelle erloschen", versicherte Acyn mir. „Aber du musst es entscheiden. Keiner wird dich zwingen."
„Ich mache es", sagte ich und mein Bruder lächelte, während Reed mich ansah, als wäre ich verrückt geworden.

Acyn ging und ich sprach, bevor Reed es könnte. „Was kann er mir nun jetzt noch anhaben?"
„Vielleicht ist er der Grund, weswegen du sterben wirst?"
„Ich habe noch einen Tag. Solange Palina meinen Tod nicht früher sieht, werde ich heute noch überleben."
„Manchmal ändern die Dinge sich sehr spontan."
„Reed... ich will wenigstens noch einmal helfen, und wenn er nur mit mir reden will, will ich wissen, wieso." Flehend sah ich ihn an. Nicht, weil ich seine Erlaubnis brauchte, sondern weil ich keinen Streit wollte, weil ich wollte, dass er mich verstand. Wenn ich aus dem Haus oder überhaupt aus dem Zimmer rauskomme, wäre es gut. Ich müsste im Quartier sowieso noch lebe Wohl sagen. Ich wollte Mrs Flores ein letztes Mal sehen und auch Mr Spencer. Nasrin wäre vermutlich nicht da, aber ich hoffte so sehr, dass sie Iran wiederkriegen werden, nun, wo Rowan in Gefangenschaft ist.

Sie war nämlich auch weiter unauffindbar, aber vielleicht würde ich ja ein paar Informationen dazu aus Rowan herauskitzeln können? Wenigstens sie sollte leben dürfen.

„Ich werde deine Seite nicht verlassen", sagte Reed grimmig und ich lächelte ihn an, küsste ihn und der Kuss wurde schnell mal wieder sehr leidenschaftlich. So war jeder Kuss mittlerweile. Voller Verzweiflung, Verlangen und Liebe.



Im Quartier wurde es emotional. Für mich zumindest. Es fiel mir verdammt schwer nicht in Tränen auszubrechen, als Mrs Flores mich am Empfang begrüßte. Als hätte ich sie seit Jahren nicht gesehen, fiel ich in ihre Arme und verwirrte die arme Frau damit, so dass Reed mich mit den Worten, ich habe zu viele Disney-Filme geschaut, wegziehen musste.

Wir machten einen kleinen Halt bei Mr Spencer, der davon berichtete, wie er unser Training fortsetzen wollte nun, wo die Bedrohung von Rowan gestoppt war. Das zu hören war nur wie ein weiterer Schlag in die Magengrube. Ich hatte bis jetzt kaum realisiert, was es bedeuten würde, Mr Spencer zu verlassen. Wieder verlor er eine Schülerin. Wenigstens war Malia nun zurück, auch wenn im Quartier selbst bisher kaum jemand darüber Bescheid wusste. Warren wusste es aber mit wem er das Wissen geteilt hatte, wusste ich nicht. Wäre sie jedoch erst wieder bei Mr Spencer, dann hätte er wenigstens sie. Ich hoffte sehr, dass ihre Rückkehr meinen Verlust überdeckt und er sich nicht schlecht fühlt.

Als wir schließlich nach unten in die Kerker liefen, kam ich mir leer vor von den vielen Emotionen und indirekten Abschieden.

„Sicher, dass du das willst?", fragte Reed, der mit jedem Lebe Wohl angespannter geworden war. Ich wusste nicht, was er für morgen geplant hatte, war er machen wollte, um mich zu retten, denn gewiss würde er etwas unternehmen. Entweder mich in die Vergangenheit schleppen, irgendwo in einem sicheren Raum einsperren oder gleich das Land verlassen. Es war nur so schwer dem Tod zu entkommen, wenn man nicht wusste, wo er lauerte. Gut möglich, dass ich am Ende nur wegen einer dieser Fluchtversuche überhaupt sterbe. Es wäre beinahe ironisch.

„Du bist doch bei mir, was kann mir da schon geschehen?", fragte ich und versuchte die Stimmung zu lockern. Rowan würde kaum Kräfte entwickeln, mit denen er nun ausbricht. Wieso sollte er dafür auch ausgerechnet auf meine Ankunft warten?

„Ich kann offenbar nicht einmal deinen Tod verhindern", zischte Reed und ballte die Hände zu Fäusten.

„Reed", sagte ich sanft. Er musste damit aufhören. „Noch bin ich nicht tot."
„Und du sollst nicht sterben!"

„Das kann keiner verhindern. Du bist nicht mächtig genug, um den Tod auszutricksen."
„Werden wir noch sehen", murrte er und ich umgriff seine Hand, zwang ihn, lockerer zu werden. Seine Finger umschlossen meine und ehe ich mich versah, drückte er mich gegen die kühle Wand des Treppenhauses, kapselte mich ein.

„Es wird alles gut", sagte ich sachte und er küsste mich zur Antwort. Es war nach den paar Tagen kein ungewohntes Benehmen mehr, dass er mich so aus dem Nichts küsste und das mit einer Intensität, die mir den Atem raubte.

Ich glaube so oft wie in den vergangenen Tagen hatten wir noch nie Küsse geteilt, Sex gehabt und unsere Körper gegenseitig erforscht. Ich liebte jeden Moment davon, auch wenn ich mir gewünscht hätte, dass es unter anderen Umständen geschehen wäre.

Obwohl das nicht der geeignete Augenblick war, küsste ich ihn auch jetzt wie jedes Mal sonst zurück. Er brauchte das und ich mindestens genauso.

„Treppenhäuser sind unser Ding", kicherte ich atemlos und entlockte ihm ein Lächeln, als er wohl wie ich auch an den Tag in Chris' Apartment zurückdachte, wo wir uns im Treppenhaus nach einigen kleinen Problemen nähergekommen waren.

„Das hier kann gerne noch weiter gehen", sagte er neckend und ich verdrehte die Augen, drückte ihn von mir.

„Wir werden damit nicht hier anfangen. Ich glaube Warren wäre nicht ganz so glücklich wie Chris, wenn er uns so erwischt."

„Scheiß auf Warren, ich habe eine ganze Liste an Orten, in denen ich dich noch vögeln will und die ich nun niemals beenden werde."
„Du hast eine Liste?", fragte ich kichernd und zog ihn mit mir weiter nach unten. „Was für Orte stehen denn dort so drauf?"
„Der Irrgarten, die Schule, auf der Titanic..."
„Titanic?", fragte ich verwirrt.

„Wir steigen ein, haben Sex und steigen beim ersten Stopp aus, lange bevor wir mit irgendwelchen Eisbergen konfrontiert werden."
„Romantisch, wenn man weiß, dass alle um einen sterben werden."
„Nur ein paar."
„Nur ungefähr zwei Drittel."

„Verdirb mir nicht den Spaß. Ich könnte dich gleich nach diesem Gespräch ins Jahr 1912 bringen und wir können den einen Ort von meiner Liste abhaken."
„Am Ende ist das der Grund, weswegen ich sterbe", merkte ich an und er seufzte wehleidig, legte den Arm um mich, als wir unten ankamen, wo die Wachen uns kritisch musterten. Es waren dieselben, die ich damals hier verwundet hatte, um zu Reed zu gelangen. Sie waren eindeutig nachtragend, so wie sie uns ansahen.

Normalerweise gab es um diese Zeit gar keine Bewachung hier, aber da es sich bei dem Gefangenen um Rowan handelte, ging man offenbar stärkere Sicherheitsvorkehrungen ein.

„Guten Tag, Herrschaften", sagte Reed gutgelaunt, dem es eine große Freude bereitete, hier als freier Mann herumlaufen zu dürfen. Die Wachen schwiegen und wir liefen in den Zellentrakt, wo ich mich enger an Reed schmiegte. Ich dachte an das letzte Mal hier zurück, wie ich Reed befreite, um Dari zu retten.

„Wie gut, dass nun das wahre Monster eingesperrt ist", sagte Reed leise, der wohl an dasselbe dachte.

„Redet ihr über mich? Das ist nicht sehr nett", sagt Rowan, der uns hörte und den wir nun auch in seiner Zelle sehen konnte. Es war dieselbe, in der Reed zuvor gesessen hatte.

Rowan tat die Gefangenschaft nicht gut. Er wirkte... dürr. Ohne sich hier und da von Leuten nähren zu können, schien er deutlich geschwächt zu sein. Er war immerhin nur wenige Tage hier und doch wirkte er so, als ob man ihn aushungern lassen würde.

„Du wolltest mit mir reden", sagte ich kühl und versuchte stark zu wirken, selbstbewusst.

„Ja, mit dir und nicht mit deinem Loverboy."

„Ich verlasse ihre Seite nicht!"

„Wie schade, dann wird es wohl kein Gespräch geben." Rowan grinste und setzte sich auf den Boden seiner Zelle, so dass er uns direkt gegenüber war.

Ich wollte Reed schon sagen, dass ich es auch ohne ihn für ein paar Minuten überleben würde, als hinter uns Schritte ertönten und eine neue Wache auftauchte.

„Der Meister will mit dir reden", sagte diese uns sah dabei zu Reed.
„Sag dem Meister, dass er warten kann", schnaubte Reed unbeeindruckt.

„Reed", mahnte ich ihn. „Ich schaffe das."
„Ich lasse dich nicht mit ihm allein!"
„Was soll passieren? Zwei Wachen sind im Gang und er ist eingesperrt."

Ich sah ihm an, dass das nicht allein der Grund war, weswegen er nicht gehen wollte. Mich zu verlassen, ängstigte ihn, einfach weil jeder Moment so kostbar mittlerweile war, so selten.

„Geh vor, ich bin bei Warrens Büro noch bevor du dein Gespräch mit ihm richtig begonnen hast", versprach ich.

„Ja Reed... geh", sagte Rowan amüsiert und Reed ignorierte ihn, küsste mich mal wieder voller Verlangen.

„Ist der Kerker auch auf deiner Liste?", fragte ich atemlos und er lächelte.

„Nein, das komischerweise nicht. Unter dieser Gesellschaft würde ich ungern Sex haben." Er sah dabei kurz zu Rowan, der die Augen verdrehte.

„Geh, ich bin sofort wieder bei dir", versprach ich ihm und er küsste mich erneut flüchtig, ehe er mich losließ.

Reed ging und folgte der Wache zurück, so dass ich mich nun an Rowan wandte, der sich langsam und geschmeidig erhob.

„Ich hätte nicht gedacht, dass du kommen würdest."
„Nun, ich bin aber hier, also rede, worüber du reden willst, denn du hast ja gehört, dass ich vorhabe, gleich zu gehen!"

„Dabei bist du doch sonst immer so neugierig, ich hatte gedacht, wenn du dem Tode so nahe bist, wärst du interessiert an ein paar Wahrheiten", sagte Rowan und ich wurde blass. Er wusste davon? Wie konnte er das wissen?

„So anhänglich und besorgt wie der Junge ist, ist es offensichtlich", spottete er.

„Was weißt du dazu?"
„Nur, dass ich nicht schuld daran bin, wenn du von uns gehst. Wie sollte ich? Ich bin hier", lachte er und lief dabei mit langsamen Schritten auf und ab.

„Es spielt keine Rolle. Ich brauche nichts mehr vorher erfahren. Ich habe meinen Frieden mit den Dingen geschlossen, so wie sie sind."
„Ja, ich vermute, wenn man ein zweites Mal stirbt, nimmt es etwas von dem schockierenden Effekt, nicht?"
„Zweites Mal?", fragte ich irritiert. Eigentlich wollte ich keines seiner Worte auch nur annähernd an mich heranlassen, aber wenn er die Sachen so aus dem Nichts um sich warf, war es schwer, der Versuchung zu widerstehen.

„Gibt es nicht längst ein Grab mit deinem Namen, Alice Noir?" Er lächelte und sah dämonischer aus als üblich, was mir nicht gefiel. Ich wich weiter von seiner Zelle zurück.

„Von was sprichst du?"
„Deine liebe Familie hat so viele gemeine Geheimnisse vor dir. Sie sollten es dir sagen, aber vermutlich wirst du dich nicht trauen danach zu fragen, so kurz vor deinem Tod", sagte er schadenfroh. „Wie viel Zeit hast du noch? Tage? Wochen? Oder doch nur Stunden? Ich würde mich ja sehr geschmeichelt fühlen, wenn du deine verbliebene Zeit hier unten bei mir verbringst."
„Ist es das, was du willst? Mich hier herholen nur um mich ein letztes Mal zu quälen?"

„Nein, ich sorge nur dafür, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Nicht wahr, meine Hübsche?", sagte er und sah lächelnd an mir vorbei. Ich reagierte nicht schnell genug. Als ich mich umdrehte, stand sie schon direkt vor mir und ehe ich richtig realisierte, was los war, wurde meine Welt schon schwarz.



Ich wachte mit einem benebelten Kopf auf und fühlte mich etwas, wie nach einer wilden Partynacht. Am liebsten wollte ich die Augen schließen und schlafen, aber als ich mich langsam daran erinnerte, was passiert war, war ich augenblicklich hellwach. Ich war nicht mehr in den Kerkern dafür in einem Auto, wo ich auf dem Beifahrersitz saß, den Kopf gegen die Scheibe gelehnt.

„Auch mal wach? Ich dachte schon, ich würde ewig warten müssen." Verwirrt sah ich Aurora Wentworth an, die mich mit Hilfe des Blutes, das Rowan damals von mir bekommen hatte und von dem er ihr was abgegeben haben musste, lahmlegen konnte.

Jetzt verstand ich, wieso es ein Fehler war, sein Blut an irgendwen abzugeben.

„Wie hast du..."
„Im Quartier gibt es zu viele Verräter. Langsam solltest du das nun wirklich wissen, kleine Noir. Die Wachen sind keine Freunde von dir gewesen, nach deinem kleinen Angriff auf sie."

Wunderbar. Noch mehr Verräter. Konnte man im Quartier überhaupt jemanden trauen? Mir kam es vor, als würde der Ort von den Reitern geführt werden.

„Wie hast du mich aus dem Quartier bringen können, ohne dass es jemand sieht?" Es wäre dennoch ein weiter Weg und sicher konnte nicht jede Wache der Feind sein. Außerdem war sie unmöglich stark genug, mich allein zu tragen.

Sie grinste. „Wie bereits gesagt, wenn du die richtigen Wege kennst und weißt, welche Wachen korrupt sind, ist es ein Kinderspiel. Dein geliebter Reed dreht sicher längst durch."

Was auch der Grund war, weswegen ich schnell hier fortwollte. Panisch sah ich nach außen, wollte herausfinden, wo sie mich hingebracht hatte, was all das sollte, und ich war leicht perplex von dem, was ich sah.

„Ein Friedhof?", fragte ich und sah starr nach vorne. Wir standen auf einem Parkplatz und direkt vor uns erstreckte sich die Landschaft der vielen Gräber.

„Willst du nicht wissen, wovon Rowan gesprochen hat, als er meinte, du müsstest tot sein?", fragte sie herausfordernd und stieg aus, ohne auf meine Antwort zu warten.

Ich zögerte. Das alles hier gefiel mir nicht. Es war schon Sonnenuntergang und ich wollte meine Zeit mit meiner Familie nutzen, aber andererseits war ich nun auch schon hier und ich war leider neugierig geworden. Sehr neugierig sogar. Wieso sollte dieser ganze Aufwand wegen eines Grabes gemacht werden? Rowan lockte mich wirklich ins Quartier, ließ mich aus diesem entführen, nur um mich zu einem Friedhof bringen zu lassen? Was erhoffte er sich hiervon? Wie könnte ihm das irgendwas bringen?

Ich stieg aus und folgte Aurora mit großem Abstand an den vielen Gräbern vorbei. Friedhöfe waren ein eigenartiger Ort. Sie waren so friedlich und traurig. Sie zerbrachen mir immer etwas das Herz und doch hatte ich es immer ganz entspannend gefunden auf einem zu sein. Die Ruhe hier; der Hauch der Vergangenheit, der über jedem Grab lag. Es faszinierte mich.

Schweigend gingen wir unseren Weg entlang und stoppten schließlich vor einem Grab. Wir waren bei den Kindergräbern angekommen und hier zu sein ließ mich nervös werden. Ich vermied es strikt auf die Namen und Daten der Gräber zu sehen, schaute nun jedoch das Grab vor mir an und war verwirrt.

Alice Noir. Geboren 15. August 2001. Gestorben 17. Oktober 2005. „Mögen die Götter auf deine Seele aufpassen und dich vor jedem Unheil bewahren."

„Was zum...", murmelte ich ganz entsetzt. Das war nicht mein Grab. Wie konnte es mein Grab sein? Es musste einfach eine andere Alice Noir sein, die am 15. August 2001 geboren wurde. Ich lebte ja eindeutig noch. Außerdem würde mein Grab kaum hier sein. 2005 hatte ich nicht in London gelebt. Nur die Inschrift war verwirrend.

Götter.

Wie viele Menschen sprachen hier in London heutzutage noch von Göttern? Man glaubte fast immer nur noch an einen Gott oder gar keinen Gott. Also wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass genau hier ein Kind mit meinem Namen gestorben ist, das am selben Tag wie ich geboren wurde und dessen Eltern auch an die Götter geglaubt hatten?

Mir schwirrte der Kopf.

„Seltsam, nicht? Wie kannst du nur leben, wenn du da unten doch verrottest." Aurora lächelte mich amüsiert an und ich sah das Grab weiterhin verdutzt an. Unzählige Blumen und Kerzen lagen auf dem Grab. Die Kerzen waren aus, die Blumen waren frisch. Irgendwer kümmerte sich um das Grab, was weniger verwunderlich war. Kindergräber wurden selten vernachlässigt, solange noch jemand lebte, der sich darum kümmern konnte.

Ein ziemlich mitgenommener Teddy thronte auf einem Blumentopf, der mir nicht bekannt vorkam. Das hier war irreführend. Das war alles einfach nur irreführend und hatte rein gar nichts zu bedeuten. Wie könnte es das? Ich war hier und lebendig.

„Wieso zeigst du mir das? Was ist dein Plan? Was will Rowan hiermit bezwecken? Mich verwirren? Ich spiele seine Spiele nicht mehr mit!"
„Ich habe keinen Plan und Rowan ist eingesperrt völlig harmlos. Er will dir nur einen letzten Gefallen erweisen. Und ich selbst finde nur, du solltest das sehen. Mehr will ich auch gar nicht von dir. Fang mit der Information an, was du möchtest, Alice Noir." Sie wandte sich ab und lief zurück zum Auto. Verdutzt sah ich ihr nach, ehe ich wieder zu dem Grab sah und den Kopf schüttelte.

„Ich bin nicht tot."

Und wenn ich sterbe, würde ich nicht hier enden!

Das alles war einfach albern.

Ich zog mein Handy aus meiner Hosentasche, wo Reed dutzende Male versucht hatte, mich zu erreichen. Während ich ihn zurückrief, lief ich fort vom Grab, fort vom Friedhof. Würde ich mit diesem letzten großen Geheimnis sterben können oder würde ich es lüften wollen, bevor alles endet?


Wörter: 4311

Aloha :) Na, was glaubt ihr, was es damit nun auf sich hat? Ist Rowan der gute Held, der nur helfen wollte? Fragen über Fragen. Drei Kapitel + Epilog kommen noch und die drei Kapitel sind um es nett anzudrücken eine Wucht xD Freut euch auf so einiges. Sonntag geht es weiter xx


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