46. Reeds Sicht Teil 4
"It's mortifying to be the one who remembers." — Ryan O'Connell
Reed
Es hieß die Zeit verging schneller, wenn man glücklich war. Ich war nur nicht glücklich. Wie könnte ich glücklich sein, wenn die Frau, die ich liebe, bald tot sein sollte? Trotzdem verstrichen die nächsten Tage zu schnell. Sekunden und Minuten verstrichen immer schneller und schneller und kein Tag, der verging, brachte Besserung. Als Alice mir von ihrem baldigen Tod berichtete, hatte ich es nicht ernst nehmen wollen. Natürlich war ich besorgt gewesen, aber ich hatte gedacht, würde ich erst mit Palina reden, würde das irgendwie verhindert werden können. Ich war mir sicher gewesen, dem auszuweichen. Palina hatte so oft Tode von anderen gesehen, die dann nicht eigetroffen waren, einfach weil wir sie hatten verhindern können. Sie hatte auch schon zuvor Alice sterben sehen, aber damals hatte ich genau gewusst, wer die Ursache dafür sein könnte, und ich hatte alles gegeben, um es zu verhindern. Leider gab es dieses Mal keinen Hinweis darauf, wie man ihren Tod stoppen könnte. Alles war so viel endgültiger und doch auch so viel nichtssagender. Keine Ursache, kein Ort, keine Personen. Da war nichts, nur dass Alice Leben bald vorbei sein würde. Ich hatte mich selten so machtlos gefühlt wie in den letzten Tagen. Zum einen suchte ich zwanghaft nach Antworten und Auswegen und zum anderen wollte ich keine Sekunde von Alice weichen, ich wollte ihr jeden Wunsch erfüllen, sie einfach nur glücklich machen. Es machte mich krank zu sehen, wie verängstigt sie war. Es machte mich krank zu wissen, dass irgendwer versuchen würde sie mir wegzunehmen und womöglich auch noch Erfolg haben würde. Ich wollte nichts anderes als auf sie aufpassen, und offenbar versagte ich darin maßlos. Ich wollte schreien vor Wut, aber ich musste mich zügeln, um ihr ihre eigene Angst zu nehmen. Nachts schlief ich kaum mehr, weil ich so beschäftigt war sie zu beobachten und aus Albträumen zu wecken. Mit dem Schlafmangel wurde ich unkonzentriert, unaufmerksam. Im Grunde war ich als Bewacher genauso nutzlos wie ich es glaubte zu sein. Ich fand nur einfach nicht die Kraft mich zu beherrschen, meine Angst zu verbergen und fokussiert zu bleiben. Die Aussicht sie zu verlieren, ließ mich durchdrehen.
Jeder, der Bescheid wusste, war unruhig, vor allem weil Alice es ihrer Familie verheimlichte. Abgesehen von Malia war jeder ihrer Familienmitglieder ahnungslos. Sie glaubte, es sei besser so, und ich verstand sie in der Hinsicht. Wissen zu viele Bescheid, konnte man sich schnell erdrückt fühlen. Das tat sie sowieso schon und das obwohl es nur wenig Eingeweihte gab.
„Ich will nicht verbrannt werden."
„Was?" Irritiert sah ich zu Alice herab. Wir waren zusammen in ihrem Garten, genossen die sommerliche Hitze hier, wo sie mit ihrem Kopf auf meinem Schoß lag, bisher ganz in Gedanken war, so wie ich auch. Ich hatte ihr Haar gestreichelt, den Irrgarten vor uns angesehen und fieberhaft überlegt, was in paar Tagen geschehen könnte, dass sie stirbt. Es machte mich wahnsinnig es nicht zu wissen. Es war wie die Antwort eines Rätsels, von der man glaubte, sie zu kennen, dass sie einem schon auf der Zunge liegen müsste und doch kam ich nicht drauf.
„Wenn ich tot bin, will ich nicht verbrannt werden. Ich will ein normales Grab haben. Ich habe genug von Feuer und etwas Angst, dass mein Körper am Ende nicht brennt und ich nur nackt auf einem Scheiterhaufen zurückbleibe."
„Du wirst nicht sterben, also gibt es kein Grab", sagte ich grimmig. Es war albern das nicht zu akzeptiere, aber jedes Gespräch um den Tod versetzte mich in Panik. Dann wollte ich aufstehen und rennen. Nie wieder wollte ich so einen Schmerz durchstehen müssen.
„Reed." Sie setzte sich auf und sah mich traurig an. „Wir müssen über so etwas reden. Ich will das. Ich will euch nicht mit ganz vielen Angelegenheiten allein lassen, wenn ich weg bin."
„Ich werde dich nicht gehen lassen, Problem gelöst."
Sie verdrehte die Augen. „Du bist unmöglich."
„Du solltest Vertrauen haben, dass ich gut darin bin, den Tod auszutricksen", sagte ich grinsend.
„Manche Dinge nicht unvermeidbar."
„Mag sein, aber ich werde es versuchen", sagte ich und dachte an eine weitere Sache, die vielleicht wirklich geklärt werden müsste, bevor es zu spät ist. Es gefiel mir nur nicht. Gar nicht sogar.
„Aber wenn du schon über letzte Angelegenheiten reden willst... wir müssen reden."
„Worüber?" Irritiert sah sie mich an und ich atmete tief durch. Ich wollte dieses Gespräch nicht führen. Es machte mir eine scheiß Angst und wenn sie hier zustimmt, würde sie für Antworten auf Kellin warten müssen. Er hatte versprochen, mir bei diesem Gespräch zu helfen. Ich würde Hilfe brauchen. Es war zu viel, zu schmerzvoll, zu chaotisch allein darüber zu reden.
„Die Wahrheit."
„Wahrheit?" Sie sah mich weiter ganz verständnislos an. Offenbar war das alles aus ihrem Kopf verschwunden bei dem, was sonst als war. Ich konnte es verstehen. Wenn man so etwas wusste, erschien alles andere bedeutungslos. Für mich war alles andere bedeutungslos. Die Welt könnte das brennen anfangen und es wäre mir scheiß egal, würde sie dafür leben.
„Die Wahrheit, die ich vor dir verborgen halte. Alles, was du wissen willst und was dir schaden kann... wir sollten darüber reden, was du alles erfahren willst, falls etwas geschehen sollte."
„Oh", hauchte sie und blinzelte verwundert, sah hinab aufs Gras. Was dachte sie? Sie wirkte nicht glücklich. Ich hatte gedacht, die Aussicht auf Antworten würde sie erfreuen. Hatte sie Angst? Vermutlich, es war ein schwieriges Thema.
„Wir können einen festen Zeitpunkt dafür auswählen oder-"
„Ich denke nicht, dass ich es wissen will", unterbrach sie mich und überrascht war ich nun derjenige, der mehrmals hintereinander blinzeln musste.
„Du willst es nicht wissen? Du? Das neugierigste Mädchen aller Welten will die Wahrheit nicht wissen?"
Sie lächelte schüchtern und zuckte mit den Schultern. „Ich habe mich damit abgefunden. Ich will meine letzten Momente in Ruhe genießen. All das am Ende zu erfahren... ich will keine gemischten Gefühle haben, ich will nicht verwirrt und verloren sein. Ich will einfach so glücklich sein wie es nur geht. Manche Geheimnisse sollte man mit ins Grab nehmen. Es ist also in Ordnung, wirklich." Damit hatte ich nicht gerechnet und ich wusste nicht, was ich darüber denken sollte. Einerseits war ich froh dieses Gespräch nie führen zu müssen, andererseits hatte ich immer gehofft, irgendwann durch das Gespräch alles geradebiegen zu können, Vergangenes gut zu machen, ihr in die Augen zu sehen und zu wissen, dass sie versteht, dass sie es weiß.
Es war letztendlich ihre Entscheidung, die ich respektieren würde, auch wenn es mir in gewisser Weise das Herz brach.
„Dir gefällt die Antwort nicht", sagte Alice bedrückt und ich zwang mich zu lächeln.
„Es ist deine Entscheidung. Ich würde dir so etwas nie aufzwängen, aber... es überrascht mich einfach. Ich hätte nicht gedacht, dass du dich damit so zufriedengeben würdest."
„Bei allem, was los ist, bei allem, was meine Neugier mir eingebrockt hat... ich schätze auf dem Weg habe ich gelernt, dass meine Neugier mir viele Probleme bereiten kann. Ich will nicht noch mehr Probleme. Es ist also in Ordnung." Sie lehnte sich dabei an mich und ich legte einen Arm um sie, küsste ihr Haar und wollte sie nie wieder loslassen. Ich würde sie auch niemals loslassen. Egal was geschehen sollte, ich würde bei ihr sein, ich würde sie begleiten, denn wenn ich mir über eine Sache sicher war, dann war es, dass ich nicht ohne sie leben würde. Die letzten hundert Jahre waren eine Qual gewesen, es war Folter. Wenn ich so etwas erneut durchstehen müsste... ich könnte es nicht. Lieber sterbe ich, als erneut so leiden zu müssen. Dann wären wir zusammen. Dann wären wir vielleicht in der Unterwelt glücklich. Ich sagte nichts davon laut, hielt sie nur bei mir. Ich würde es gar nicht erst so weit kommen lassen. Alles würde gut werden. Es müsste. Das konnte noch nicht das Ende sein.
Während Alice mit ihrer Großmutter Limonade in der Küche zubereitete, lief ich nach oben und nutzte den Moment. Ein Gespräch musste her. Eines, das ich ebenso lange vor mich hergeschoben hatte und das nun aber dringend hinfällig war. Als ich so vor Elins Tür hielt, klopfte ich kurz an und wurde schon von ihr hereingelassen, wenn auch irritiert. Kein Wunder. Wann hatte ich je etwas mit Elin zu tun gehabt? Ich hätte mir in Zukunft die Zeit genommen, Alices beste Freundin kennen zu lernen, aber bisher waren zu viele andere Dinge einfach immer wichtiger gewesen.
„Du und ich müssen reden", sagte ich und sie nickte, als hätte sie damit gerechnet, auch wenn sie trotzdem überrumpelt war, dass es tatsächlich passierte, dass ich hier war.
„Ja... ich denke es ist an der Zeit."
„Ahja?", fragte ich amüsiert und sie setzte sich auf ihr Bett, atmete tief durch und hob zwei kleine Bücher hoch. Ich erkannte beide. Es waren die Tagebücher von Malia und Grace.
„Ich weiß, was damals geschehen ist, ich weiß, was du vor Alice verheimlichst, oder zumindest glaube ich es zu wissen."
„Gut, das macht Folgendes viel einfacher."
Denn sie musste die Wahrheit kennen. Keiner in Alice direktem Umfeld konnte länger ahnungslos bleiben. Die Zeit lief davon und Elin könnte helfen.
Es dauerte, bis ich Elins Zimmer mit ihr zusammen wieder verließ. Es hatte viel zu besprechen gegeben und es nervte mich, dass ich dadurch wertvolle Zeit mit Alice verloren hatte, aber es war wichtig. Das Problem war nur, dass ich Alice nun nicht finden konnte. Sie war nicht in ihrem Zimmer, das ganze Haus schien verlassen zu sein. Keines ihrer Familienmitglieder war mehr hier. Die Limonade stand perfekt gekühlt im Kühlschrank, aber von Alice fehlte jede Spur.
Wo war sie? Hätte ich nicht gespürt, dass sie irgendwo in der Nähe wäre, wäre ich vor Angst sicher ganz durchgedreht, aber sie war hier. Irgendwo musste sie sein. Nur wo? Sie ging nicht an ihr Hany, was mich rasend machte, aber sicher ging es ihr gut. Ich spürte keine Angst, kein Leid, aber es war so schwer zu deuten bei allem, was los war.
„Irrgarten?", fragte Elin, die mit mir das Haus abgesucht hatte. Erfolglos bisher.
„Wieso sollte sie dort hinein?", fragte ich, aber es war eine Option. Alice war nur lange nicht mehr dort drinnen gewesen. Keiner von uns beiden war es. Wieso würde sie gerade jetzt dort hineingehen?
„Keine Ahnung, aber wir sollten nachsehen, oder fällt dir ein anderer Ort ein?"
„Nein, nur müssen wir klettern", sagte ich, denn anders als bei Alice machten die Pflanzen für uns keinen Platz.
„Wunderbar. Hätte sie sich keinen anderen Ort aussuchen können?" Missmutig sah Elin das hohe Tor an, ehe sie durchatmete und sich wappnete.
Ich half Elin über das von der Sonne aufgeheizte Tor, nachdem ich selbst auf die andere Seite geklettert war und dabei sicher ein paar Brandblasen davongetragen hatte. Gemeinsam liefen wir los. Ich ließ mich von meinem Band zu Alice leiten und merkte schnell, dass sie wirklich hier war und das in der Richtung der Steinplatte. Was wollte sie dort? Was genau verleitete sie, nun dorthin zu gehen? Ich hatte noch eher mit der Schaukel beim alten Baum gerechnet, aber die Steinplatte beunruhigte mich.
„Alice?" Ich rief nach ihr, als die Platte ins Sichtfeld kam und ich sie dort stehen sah. Direkt vor ihr stand sie ganz starr, beachtete uns gar nicht, als würde sie nicht merken, dass wir hier waren.
„Alice", rief ich erneut ihren Namen und näherte mich nun deutlich vorsichtiger. Irgendwas war nicht in Ordnung. Sanft berührte ich sie an ihrer Schulter und riss sie damit wie aus einer Trance. Sie zog verschreckt die Luft ein, sah mit geweiteten Augen zu mir und wirkte für einen Moment durcheinander.
„Alles gut, ich bin da", besänftigte ich sie und zog sie zu mir.
„Ich... ich wollte nur sehen, ob Olivia hier sein würde... ob sie vielleicht helfen könnte", erklärte sie sich aufgelöst und mein Herz schmerzte. Dass sie vor lauter Angst sogar bereit war jemanden wie Olivia aufzusuchen, zerstörte mich. Wie sollte ich ihr nur je diese Angst nehmen und auf sie aufpassen? Wie sollte ich sie vor diesem Unheil beschützen?
„Und war sie hier?", fragte Elin, die nähergekommen war. Alice war überrascht sie zu sehen, fing sich jedoch schnell wieder.
„Nein. Ich verstehe nur nicht wieso. Sie sagte, ich würde sie hier finden." Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Alice ein wichtiges Detail verschwieg, dass hier gerade mehr geschehen war, als ein gescheiterter Versuch eine Gottheit zu finden. Ich sagte nur nichts. Sie wirkte so unglücklich, da wollte ich sie nicht noch weiter verstimmen. Wäre es wichtig, würde sie es sagen.
„Naja, da wollte sie dir auch noch wegen Rowan helfen. Das haben wir aber auch ohne sie geschafft", sagte Elin aufbauend. „Vielleicht hat sie nun kein Interesse mehr dir zu helfen?"
„So oder so ist es besser. Man kann ihr nicht trauen. Das ist eine Göttin, eine sehr böse Göttin, die alles geben würde, um zu ihrer alten Kraft zurückzufinden", sagte ich, war erleichtert, dass das hier nicht schlimmer enden musste.
„Ich weiß, ich wollte doch nur... es war dumm."
„Es ist ja alles gut", sagte Elin aufmunternd und nahm Alices Hand in ihre eigene, drückte sie sanft. „Wir brauchen nicht die Hilfe von irgendwelchen Göttern."
„Sie hat recht", stimmte ich Elin zu. „Wir schaffen das allein, so wie alles andere zuvor auch. Alles wird gut."
Alice wirkte nicht überzeugt. Traurig lächelte sie uns beide an und drückte sich mehr an meine Seite. Ich würde alles geben, um diese Trauer von ihr zu nehmen. Ich würde Palina nicht in Ruhe lassen, bis sie mehr sieht, ich würde mit meinen Brüdern alles planen, um Alice am Tag des Geschehens zu retten. Ich würde nicht trostlos darauf warten, dass irgendwas geschieht und gewiss würde ich meine Hoffnung nicht in die Hände von Leuten legen, die Alice mehr schaden wollten als irgendwer sonst.
Grimmig sah ich zur Steinplatte, bevor ich Alice aus dem Garten führte. Für einen kurzen Moment glaubte ich, Geräusche einer anderen Zeit von dieser aus zu hören, zu spüren, wie dünn die Durchgänge geworden sind. Rowan hatte es nicht geschafft, die Durchgänge zu öffnen, das Reisen zwischen den Welten zu ermöglichen, so wie er es kurz vor seiner Gefangenschaft geplant und beinahe erreicht hätte. Aber ich fragte mich dennoch, wie nahe er seinem Ziel gewesen ist, was seine Absichten an dem Tag seiner Gefangenschaft mit Alice waren. Wieso hatte er so leichtsinnig gehandelt? Ich wurde das Gefühl nicht los, dass alles zu einfach gewesen ist, wir irgendwas ganz Wichtiges übersahen und dass genau das alles am Ende ruinieren würde.
Wörter: 2375
Aloha :) Recht kurz und einfach, aber es kommen lange Kapitel auf euch zu. Mittwoch geht es weiter. Wir sind fast beim Ende des Buchs. Schreibt mir gern eure Meinung xx
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