43. Der Tod

"You only live once, but if you do it right, once is enough." — Mae West

Kellins Fausthieb erwischte mich beinahe. Ich taumelte noch rechtzeitig zur Seite, bevor er mich treffen konnte, und fiel dabei zu Boden.

„Du bist unkonzentriert", sagte er. Er war eindeutig wütend. Es war nicht verwunderlich. Er war regelrecht geladen, seit dem verpatzten Versuch Rowan mal wieder zu schnappen und Malia damit zu befreien.

Er investierte dadurch extra Kraft in unser Training, das ich wiederum nutzte, um mich meinen vielen Ängsten nicht stellen zu müssen. Ich war ehrlich, dass ich von Ängsten fast schon zerfressen wurde. Die Worte von Rosa Wentworth machten alles nur noch schlimmer, nagten an mir. Dass ich in irgendeiner Weise in Gefahr schwebte, ängstigte mich sehr. Es war eigentlich nichts Neues, aber dass es so schlimm war, dass sie persönlich in mein Haus gekommen war, um diese Hiobsbotschaft zu überbringen, stimmte mich nervös. Da war Ärger im Anmarsch und es gefiel mir nicht. Ich konnte langsam einfach nicht mehr. Ich hatte genug davon, ständig zu kämpfen. Durfte ich nicht endlich eine Pause kriegen?

Das Training mit Kellin lenkte mich immerhin ab. Seit beinahe fünf Stunden übten wir nun zusammen und machten nur Pausen, wenn Kate uns Wasser aufzwang.

Meine Muskeln schmerzten, aber nach den vielen Tagen des Übens war ich immerhin kein komplett hoffnungsloser Fall mehr. Ich würde jemanden schlagen können, ich würde rennen können und mich vielleicht verteidigen können... ich würde es zumindest versuchen.

Und selbst wenn nicht, hatte ich meine Kräfte. Ich wusste mittlerweile, dass ich sie beherrschen konnte, dass sie mich retten konnten.

„Ich bin dir ausgewichen!", beharrte ich und er schnaubte.

„Du bist gefallen."
„Und ich wurde nicht getroffen."
„Wenn du auf dem Boden liegst, bist du leichte Beute."

Ich grinste und ließ Wurzeln um seine Beine schlingen, brachte ihn selbst zum Fallen. „Nicht wenn der Boden aus Erde gemacht ist."

Kurz wirkte erst erschüttert von seinem Fall, ehe er grinsen musste. „Nicht schlecht."
„Meine Kräfte sind immer noch meine größte Stärke, ich werde sie nicht in Vergessenheit geraten lassen."
„Solltest du auch nicht, aber nicht an jedem Ort ist Erde und das Feuer kannst du nicht fehlerfrei beherrschen. Ein Missgeschick mit der Erde ist nicht schlimm, ein Fehler beim Spiel mit dem Feuer kann böse enden."
„Ich weiß, ich weiß", murrte ich und ließ ihn von den Wurzeln los.

„Ich sage nicht, dass es schlecht ist sie auch zu nutzen. Du solltest immer eher deine Kräfte nutzen als zu versuchen jemanden körperlich anzugreifen. Du hast nicht die Statur, um da gute Chancen zu haben. Du bist zu klein, zu schmal, hast zu wenige Muskeln und bist zu leicht. Jemand wie ich würde dich mit Leichtigkeit besiegen, selbst jemand mit der Statur wie Kilian sie hat würde dich leicht besiegen."

Kilian war kleiner und schmaler als Kellin aber ich wusste, dass er recht hatte. Er würde mich selbst dann noch besiegen können, wenn er nur einen Arm zur Verfügung hätte.

„Ich sollte schießen lernen", sagte ich und er musste lachen.

„In kurzer Zeit würdest du es nicht gut genug lernen, dass ich dir eine Waffe anvertraue. Am Ende verlierst du nur den Halt und drückst einfach ab wie Holly. Am Ende erschießt du dabei nur jemanden, der auf unserer Seite steht."

„Richtige positive Stimmung hier."

„Hey Sam." Seufzend erhob ich mich und sah zu ihm, wie er grinsend und vergnügt auf uns zulief.

„Wollt ihr je mit dem Training aufhören?"
„Nein", antworteten Kellin und ich gleichzeitig und mussten darüber sogar lächeln.

„Ok, ok, ich mache mir nur Sorgen um euch, vor allem weil Alice eigentlich so sportlich ist wie eine 80-jährige Frau, das ist nicht normal. Bei plötzlich veränderten Verhalten sollte man immer vom Schlimmsten ausgehen."
„Hey!", sagte ich empört, auch wenn es vielleicht die Wahrheit war. Ich tat das hier auch nur, weil es eine nette Ablenkung war. Reed war im Haus beschäftigt und ich wusste, dass es eigentlich zwecklos war Kämpfen zu lernen, wenn alles dem Untergang geweiht war, aber ich wollte Rowan gern wenigstens einmal ins Gesicht schlagen dürfen und dafür müsste ich üben.

„Ich sage nur wie es ist, Sonnenschein. Aber nun genug davon. Mir ist langweilig, unterhaltet mich bitte etwas."
„Wo ist denn mein Bruder? Ist er schon von dir gelangweilt?"

Sam zog eine Grimasse und schnaubte. „Ich bitte dich. Hayden kann sich nur wünschen, jemals jemand interessanteres zu finden als mich. Ich bin toll."
„Bist du, aber wo ist Hayden nun?", fragte ich, da Sam eigentlich nie ohne diesen hier war. Die Versammlungen waren das einzig interessante für ihn. Der Rest war irrelevant, außer Hayden war da. Und da heute keine Versammlung anstand und Hayden nicht zu sehen war, war es merkwürdig, dass er sich hier freiwillig aufhielt.

„Er und Reed haben gerade etwas wie einen brüderlichen Moment, da will ich nicht stören und dich am besten davon abhalten, deinen Liebsten aufzusuchen und dazwischen zu gehen."
„Brüderlicher Moment?", fragte Kellin stirnrunzelnd.

„Eifersüchtig, weil du nicht eingeladen wurdest?"

„Ich bitte dich", schnaubte Kellin. „Die zwei sind Zwillinge. Ich habe von dem Moment an, wo sie geboren wurden, gewusst, dass ich niemals so eine Bindung zu ihnen haben würde wie sie zueinander, auch wenn die beiden sich die meiste Zeit zu hassen scheinen."
„Ich weiß nicht wirklich, wie es passiert ist, aber beide sind sehr... emotional. Hayden entschuldigt sich gerade bei Reed für irgendwas und Reed entschuldigt sich bei ihm. Alles ganz schräg."
„Klingt, als müsste ich mir das ansehen", sagte Kellin, der einfach nach innen lief, während ich noch etwas irritiert war.

„Schätze mit dem Untergang vor Augen wird jeder sentimental", sagte Sam scherzend.

„Hoffen wir mal, dass es nicht ganz so schlimm wird."
„Wenn alles eskaliert, springe ich in die Vergangenheit und lebe ein paar schöne Jahre in einer neuen Zeit. Ich wollte mir gern mal paar Gladiatorenkämpfe ansehen oder zusehen, wie die ersten Pyramiden gebaut wurden. Dein Reed nimmt dich sicher mit."
„Und was ist mit allen anderen? Was wäre mit Hayden?"

Das ließ sein Lächeln verschwinden. „Ach komm, nimm mir nicht alle Hoffnungen. Ich dachte, das wäre ein guter Back-Up-Plan."
„Es gibt wohl keinen guten Plan, falls wir von Rowan verdammt werden."
„Wir können Palina ja fragen, ob sie uns alle sterben sieht", sagte Sam, da in dem Moment besagte Person mit einem Buch in den Garten trat. Ich sah sie hier so gut wie gar nicht mehr. Die vielen Leute sagten ihr eindeutig nicht zu, so dass sie sich meistens in ihrem Zimmer versteckte.

Ich wollte nicht wirklich fragen, ob sie uns alle sterben sieht, aber ich wollte mit ihr reden. Ich bemühte mich darum, mit ihr auszukommen, was schwer war. Sie war nicht gerade freundlich und schien mich nicht unbedingt zu mögen. Vermutlich mochte sie niemanden so recht. Ich hatte sie noch nie gutgelaunt gesehen. Wenn man ständig vom Tod umgeben war, machte das einen wohl etwas mürrisch.

„Hey Palina", sagte ich und lief auf sie zu. Sam folgte mir.

„Was wollt ihr? Ich will nur kurz Ruhe haben", sagte sie wie immer kühl.

„Nur kurz? Hast du nicht ungefähr ständig Ruhe?", fragte Sam belustigt.

„Wenn ich ständig den Tod von allen möglichen Menschen sehe, habe ich nie Ruhe", zischte sie giftig und Sam wich ein Stück zurück von ihren harschen Worten.

„Wir wollen dich nicht belästigen. Ich wollte nur wissen, wie es dir so geht", sagte ich besänftigend.

„Mir würde es besser gehen, wenn ihr geht."
„Zicke", sagte Sam leise und versuchte es durch ein Hüsteln zu übertönen. Natürlich verstanden wir beide ihn mehr als nur deutlich.

Genervt sah Palina ihn an und schien gerade etwas sagen zu wollen, als ihr Blick seltsam leer wurde. Sie verlor kurz das Gleichgewicht, taumelte und Sam und ich stützten sie, als sie auf die Knie sank.

„Oh bei den Göttern...", hauchte sie voller Entsetzen und ich wurde nervös. Sah sie jemanden sterben? War es einer von uns? Was sah sie?
„Was ist los?", fragte ich voller Sorge und fassungslos schüttelte sie den Kopf.

„Was hast du gesehen?", fragte Sam, der wohl das gleiche wie ich dachte.

„Den Tod", sagte Palina, ihre Stimme war beinahe nur ein Flüstern.

Ich hörte auf zu atmen. Sie sah den Tod. Wessen Tod? Wen sah sie sterben? Ich dachte an alle Personen, die mir wichtig waren. Meine Eltern, Meine Brüder. Irgendwer aus meiner Familie. Reed. Elin. Oder doch Sam oder Hayden? Wer war es?

„Wer? Wer ist es?"

Sie sah zu mir und ich glaubte gleich durchzudrehen. Ihr Blick wirkte so mitleidig, dass ich es nicht ertrug.

„Reed", sagte ich und war kurz davor hysterisch in Tränen auszubrechen. Wenn er stirbt, wäre alles verloren.

Nein. Nein, nein, nein. Nicht Reed. Das würde ich nicht überleben. Ich würde das nicht schaffen.

„Nein", sagte sie da zu meiner Erleichterung jedoch. Ich hätte fast aufgelacht, wenn das nicht alles so ernst wäre.

„Wer dann?", fragte Sam besorgt und weil sie mich weiter ansah, erkannte ich die Antwort. Sie sickerte wie heiße Lava zu mir durch, ließ alles in mir für einen Moment jetzt schon sterben.

„Du hast mich sterben gesehen", sagte ich leise und ihr Blick war Antwort genug.

„Nein", sagte Sam kopfschüttelnd und wich von ihr fort, als ob sie ihn verbrannt hätte. „Das kann nicht sein."
„Wie? Wann?" Seltsamerweise erschütterte es mich weniger als gedacht. Ich hatte gedacht zu hören, dass ich sterben müsste, würde mir mehr Angst machen. Aber ich war seltsam gefasst. Noch.

„Eine Woche."
„Eine Woche", wiederholte ich monoton und sah mein ganzes Leben jetzt schon an mir vorbeiziehen. Ich würde nicht alt werden. Ich würde keine Zukunft haben. Niemals Kinder kriegen, niemals richtig leben. Es würde keine gemeinsame Zukunft für Reed und mich geben. Ich hatte es ja immer geahnt, aber es so zu hören, war hart. Eine Woche. Das war nichts. Das war gar nichts.

„Warum? Was ist geschehen? Was passiert ihr?", fragte Sam aufgebracht, schrie Palina regelrecht an, als ob es ihre Schuld wäre. Sie konnte nur nichts dafür. Sie war lediglich die Überbringerin.

„Ich sehe es nicht. Es ist... ich sehe einfach, wie ihr Leben endet. Ich sehe keinen Grund, ich sehe kein Bild bis jetzt. Alles ist so verschwommen nur... du bist fort, dein Leben ist zu Ende."

„Ok, aber das sind ja nur Spekulationen, nicht? Man kann dem doch irgendwie ausweichen, oder?", fragte Sam und Palina sah ihn erschüttert an.

„Wenn man wüsste, was passiert... vielleicht, aber so... ich habe ja keine Ahnung, was geschehen wird."
„Das geht nicht!", sagte Sam und ich schüttelte selbst den Kopf.

„Es ist ok."
„Ok?", fragte er schockiert.

„Also nein, ist es nicht. Ich will nicht sterben, aber so ist es nun einmal. Wir haben das zu akzeptieren." Ich wollte gar nichts akzeptieren, aber würde ich nun hysterisch werden, würde Sam durchdrehen und Palina vermutlich anfangen durchzuschütteln. Ich wollte kurz nicht die Nerven verlieren, auch wenn ich gar nicht wusste wie. Ich glaube, die ganze Tatsache war noch nicht ganz zu mir durchgedrungen. Ich sollte sterben. Es erschien mir so schräg. Mir ging es doch gut, wieso sollte ich dann bald tot sein?
„Bullshit! Ich will sehen, wie Reed reagiert, wenn-"
„Du wirst es ihm nicht sagen. Keiner von euch!", sagte ich und beide sahen mich schockiert an.

„Du willst es verschweigen?"
„Nein... ich will nur nicht, dass er es jetzt gleich erfährt, ich... ich muss das kurz selbst verdauen." Würde Reed es wissen, würden seine Gefühle mich erdrücken. Seine Angst, Trauer und Sorge würden mich einnehmen. Vorher wollte ich mir erst selbst meine Gedanken machen dürfen. Ich musste das verarbeiten und mir überlegen, wie ich diese paar Tage nutze.

Eine Woche. Das war nichts. Wie sollte ich in einer Woche Abschied nehmen und lebe Wohl zum Leben sagen?

Wo sollte ich da anfangen? Was würde ich noch machen wollen? Es gab Millionen Dinge, die ich erleben wollte, aber dafür würde mir die Zeit fehlen. Ich wollte die Welt bereisen, ich wollte heiraten. Ich wollte Kinder kriegen. Ich wollte mit Delfinen schwimmen, Tauchen gehen, in der Zeit reisen und endlich glücklich sein dürfen. Ich würde nichts davon mehr schaffen.

„Bitte", sagte ich flehend an beide gerichtet. „Ich werde es ihm sagen, aber nicht heute. Gibt mir diesen einen Tag wenigstens."
„Ok", sagte Palina zuerst, die mich immer noch mitleidig ansah. „Aber du musst es ihm sagen! Er lässt mich auf fast nichts anderes achten als auf dein Leben, wenn ich ihm das verschweige, würde er mir das niemals verzeihen."
„Ich werde es!", versprach ich und sah zu Sam, der ganz blass im Gesicht war. Ich sah ihm an, dass er am liebsten fliehen wollte, so wie er es gern tat, wenn ihn die Welt zu erdrücken schien, aber er blieb.

„Ich verspreche es, aber... ich werde das nicht so einfach akzeptieren", sagte er schließlich und ich lächelte ihn an.

„Ich auch nicht, auch wenn ich nicht weiß, was wir schon schaffen können."



Sam wollte mich heimfahren, damit ich daheim in Ruhe über alles nachdenken konnte. Als wir dafür durch das Haus liefen und einen Blick in den Salon warfen, kamen mir beinahe die Tränen. Dort saßen die drei Wentworth-Brüder zusammen und es war das erste Mal, dass ich sie so erlebte. Lachend saßen sie zusammen, wirkten so vertraut, so glücklich. Wie Geschwister es sein sollten. Reed so zu sehen, ließ mein Herz schneller schlagen. Ich wollte weinen, einfach weil der Gedanke so schrecklich war, ich könnte ihn verlassen, ihn allein und gebrochen zurücklassen. Ich wollte ihm keine Schmerzen zufügen und doch würde ich es nicht verhindern können.

Hayden erzählte gerade lebhaft etwas, worüber Reed laut lachte und Kellin schmunzelnd den Kopf schüttelte, seine jüngeren Brüder mit einem Blick ansah, in dem so viel Liebe steckte.

Mochte sein, dass dieser Kampf gegen Rowan furchtbar war und uns allen viel Leid erbracht hatte, doch er hatte die drei auch näher zusammengebracht. Zuvor war da so viel Misstrauen und Abstand zwischen ihnen gelegen. Das war nun weg. Sie waren eine Familie. Sie waren endlich das, was sie längst hätten sein sollen.

„Willst du sagen, dass du gehst?", fragte Sam und ich schüttelte hektisch den Kopf, lief weiter.

„Ich würde nur weinen und er würde wissen, dass irgendwas nicht in Ordnung ist."

„Dann bringe ich dich mal heim."



Zuhause war meine ganze Familie anwesend. Also abgesehen von meinen Eltern und Dari. Zu wissen, dass ich sie nie wieder richtig sehen würde, ließ mich schon wieder fast in Tränen ausbrechen. Emotional wurde es dennoch. Ich umarmte erst meine Großmutter für fast zwei Minuten, ehe ich das bei meinem Großvater wiederholte. Wenn mein Benehmen schräg war, ließen sie es sich nicht anmerken, was ich ihnen hoch anrechnete.

„Beunruhigende Neuigkeiten", sagten meine älteren Brüder, als sie den Salon beraten, wo ich mich gerade von meinem Großvater löste.

„Was ist geschehen?"

„Wir haben Wind davon bekommen, dass Rowan wohl einen Weg gefunden hat, das Reisen zwischen den Welten wieder zu ermöglichen. Er hat es bis jetzt noch nicht geschafft, aber er wird nun alles daran setzen, diese Wege freizulegen."
„Jetzt bin ich verwirrt", sagte Elin, die bis dahin meinen emotionalen Ausbruch amüsiert beobachtet hatte, sich nun neben mich stellte.

„Es gibt Wege zwischen den einzelnen Welten zu reisen. So dass du beispielsweise von hier zu einer der Welten der Götter gelangst oder in das Reich der Feen oder in irgendeine andere Welt. Man braucht dafür Durchgänge und meistens auch gewisse Gegenstände oder Relikte, da man in viele Welten nicht einfach so gelangt, solange man keine Bindung zu ihr besitzt. Früher war das zumindest auf diese Weise möglich gewesen, aber vor vielen hunderten Jahren wurden die Bindungen durchbrochen. Keiner konnte diese Wege mehr nutzen", erklärte Acyn und ich dachte an die Steinplatte im Irrgarten. Sie war so ein Durchgang.

„Was wäre so schlimm daran, wenn diese Wege wieder offen wären?", fragte ich, da es mir bisher nicht wirklich schlimm vorkam. Es wäre ja dennoch nicht einfach.

„Bei jemanden wie Rowan wäre vieles daran schlimm. Das würde bedeuten, wenn er eine Bindung zu den Welten kreiert, kann er hingehen, wo er will. Er kann derzeit nur in die Unterwelt. So könnte er nun mit den richtigen Hilfsmitteln in jede andere Welt gelangen, in denen er Verbündete oder Macht erlangt und das wäre für uns fatal", sagte Riley.

„Außerdem könnte auch jeder zu uns kommen und nachdem die Erde vom Netz sozusagen abgetrennt wurde, haben sich viele Wesen sehr lange nicht gesehen und diese würden sicher liebend gern einen Besuch auf die Erde abstatten", merkte Acyn an und ich erkannte das Problem. Mehr Macht für Rowan, mehr Unruhen für uns. Manche Wege waren vielleicht besser verschlossen.

„Und was können wir tun, um das zu stoppen?", fragte Elin und meine Großmutter schüttelte den Kopf.

„Ihr schon einmal gar nichts. Mir gefällt es nicht, wie sehr ihr zwei Mädchen euch die ganze Zeit in alles einmischt. Ihr seid zu jung, ihr seid keine ausgebildeten Wächter, und Elin ist ein Mensch."
„Es ist unser aller Krieg", sagte ich fest entschlossen. Ich hatte nur noch eine Woche. Ich würde so viel helfen, wie ich nur konnte. Würde ich Rowan dabei mit mir in den Tod ziehen, wäre es das wert gewesen.

„Aber es gibt Leute, die besser ausgebildet sind und mehr helfen können. Ihr seid zu jung. Rowan hatte dich schon zu oft in seinen Händen, Alice", sagte mein Großvater nun streng. Sie sorgten sich. Es war verständlich, aber es würde nichts an meiner Meinung ändern und an Elins auch nicht. Sie war fast noch sturer als ich.

„Tut mir leid, aber die zwei sind zu stur, um aufzuhören und besser wir planen mit ihnen alles zusammen, anstatt dass sie ihr eigenes Ding machen und draufgehen", sagte Acyn an meine Großeltern gerichtet und ich lächelte ihn dankbar an, dass er nicht versuchen würde, uns von irgendwas zu überzeugen oder uns zu sverbieten, zu helfen.

„Das wird noch ihr Tod sein", sagte meine Großmutter aufgebracht. „Ich bin für sie verantwortlich!"
„Ich bin genauso für sie verantwortlich. Alice ist meine Schwester! Elin genauso."
„Für mich ist Elin ja nicht meine Schwester. Ich will es nur mal anmerken", warf Riley ein und Elin und ich verdrehten genauso wie Acyn die Augen.

„Es ist wie es ist. Wir stecken alle da drin und ich werde nicht meine Augen schließen in der Stunde der Not."

Meine Großeltern sahen aus, als ob sie gern mehr sagen wollten, als ob für sie die Lage nicht so eindeutig wäre wie für mich oder für die anderen, aber offenbar ahnten sie, dass sie keine Chance hatten, dass sie in der Unterzahl waren.

Meine Brüder standen hinter mir, sie wussten mittlerweile zu gut, wie stur ich sein konnte und dass der Ärger mich auf die eine oder andere Art finden würde. Wüssten sie, dass ich sowieso bald tot wäre, würden sie sicher einsehen, dass es sowieso keinen Unterschied macht. Gut, sie würden sich sicher nicht so leicht damit zufriedengeben, aber um mein Leben jetzt zu bangen, war unnötig. Meine Stunden waren gezählt.


Oben in meinem Zimmer setzte ich mich auf mein Bett und überlegte, was nun zu unternehmen wäre. Sollte ich ein Testament verfassen? Vielleicht wäre ein inoffizielles nicht schlecht. Oder zumindest Abschiedsbriefe. Ein Brief für jeden. Ich würde viel zu Schreiben haben und ich wusste nicht einmal, wie man so etwas angeht. Der Gedanke nur damit anzufangen, trieb mir die Tränen in die Augen.

Ich wollte nicht sterben. Sicher hatte es Momente in meinem Leben gegeben, wo ich gern tot umgefallen wäre; hatte diese Momente nicht jeder? Aber wirklich abzukratzen, wirklich so dem Ende geweiht zu sein, war gruselig. Ich wusste nicht einmal, was mich erwarten würde. Ich wusste nicht, was geschehen würde. Am liebsten hätte ich hiervon nie erfahren. Seinen eigenen Tod zu wissen war scheiße. Wie sollte ich je die verbliebene Zeit genießen, wenn ich nur daran denken könnte, was noch sein würde?

Vielleicht irrte Palina sich auch. Sie hatte oft das Ende von anderen gesehen und es hatte sich noch geändert. Aber irgendwas an ihrer Art hatte mich geängstigt. Sie hatte selbst überrascht gewirkt, als ob mein Tod anders gewesen wäre, endgültiger, unausweichlicher. Gern wollte ich hoffen, dass ich es aufhalten könnte, nur wie? Wie trickst man den Tod aus? Also wenn ich es nicht stoppen könnte, müsste ich mich wenigstens vorbereiten. Ich musste letzte Worte aussprechen. Ich würde unbedingt nochmal mit Dari und meinen Eltern reden müssen. Ich würde mir überlegen müssen, wie ich das Reed gestehe und den anderen. Nicht jeder musste unbedingt Bescheid wissen. Sicher wäre es fair, aber dann wäre es... es wäre zu viel für mich. Ich wusste nicht, ob ich das schaffen würde. Elin müsste ich es neben Reed auf jeden Fall sagen. Hayden auch. Er würde anderenfalls Sam umbringen, wenn dieser es ihm nicht vorher gesagt hätte. Und der Rest? Was wäre mit meiner Familie?

Weinend legte ich mich aufs Bett zurück und sehnte mir Trost herbei. Gerade bereute ich es, Reed nichts gesagt zu haben. Nur würde Reed mich nicht trösten. Reed würde durchdrehen und Pläne schmieden und mich am Ende in einer Wolldecke gepackt in der Vergangenheit verstecken.

„Reiß dich zusammen", schniefte ich und richtete mich auf. Ich konnte meine kostbare Zeit nicht mit Weinen verschwenden. Ich musste sie nutzen. Gut nutzen. Also rief ich als erstes meine Eltern an.


Für eine Stunde sprach ich mit ihnen und Dari. Ihnen ging es gut. Sie waren immer noch sicher versteckt und gesund. Dari fand es super cool, Pause von der Schule zu haben und erzählte mir begeistert von den neuen Videospielen, die er bekommen hatte. Ich lauschte seinen Erzählungen, unterbrach ihn nicht einmal und lächelte durchgehend wie ein Idiot. Es war so schön seine Stimme zu hören und ihn so glücklich zu erleben. Daran zu denken, dass ich nie sehen würde, wie er erwachsen wird, dass ich nie herausfinden würde, ob er Kräfte kriegt, es zerbrach mich. Ich wollte gar nicht aufhören mit dem Gespräch, wollte seiner Stimme am liebsten ewig zuhören, aber da mein Akku den Geist aufgab und ich bei meinem kleinen Chaos mein Ladekabel nicht fand, musste ich das Gespräch irgendwann beenden, aber nicht ohne vorher tausende Male gesagt zu haben, wie sehr ich ihn liebe. Wie sehr ich meine Eltern liebe.

„Kommst du uns bald besuchen?", fragte Dari und ich blinzelte angestrengt meine Tränen weg.

„Ich werde es versuchen."
„Ich würde gern zurück zu euch, aber Mum sagt ja, dass es zu gefährlich ist."
„Bald ist es hoffentlich wieder ruhiger", merkte meine Mutter im Hintergrund an.

„Es wird sicher alles gut werden", sagte ich beruhigend. „Aber vergiss nicht, dass ich dich liebhabe."
„Das hast du schon so oft heute gesagt", stöhnte er genervt.

„Es ist halt die Wahrheit. Du bist mein kleiner, putziger Bruder und du bist furchtbar mutig und stark und schlau und du wirst mal genauso kriegerisch wie Acyn und so groß wie Riley."
„Ich werde sogar noch größer und noch kriegerischer."
„Das wirst du", sagte ich lächelnd. „Ich muss aber aufhören, sonst..." Und mein Handy ging aus.

Ich seufzte trübe, legte das Handy zur Seite und sah aus dem Fenster, sah hinüber zum Haus der Wentworths, zu dem Zimmer, das Reed dort besaß. Kein Licht brannte. Ich wusste gar nicht, wann das letzte Mal in Reeds Zimmer Licht gebrannt hatte. Er war gar nicht mehr dort. Ob er heute Nacht zu mir kommen würde? Einerseits hoffte ich es nicht, weil ich dann ehrlich sein müsste, andererseits gingen mir die Nächte aus und ich wollte keine einzige mehr ohne ihn verbringen. Ich wollte niemals mehr ohne ihn neben mir aufwachen.

Es klopfte an der Tür und Elin schaute grinsend in den Raum.

„Lust auf ein paar Brettspiele? Deine Brüder wollen deine Tante etwas ärgern und das geht nicht besser als mit einer Runde Monopoly."
„Ich bin dabei", sagte ich. Eine letzte Spielrunde mit meiner Familie würde ich mir nicht nehmen lassen.


Wörter: 3855

Aloha :) Happy Halloween. Ich hoffe es hat euch gefallen. Die arme Alice kriegt auch nie eine Pause. Da die Woche etwas stressig wird, geht es leider erst Sonntag weiter xx


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