40. Kleine Geheimnisse

"And I'd choose you in a hundred lifetimes in a hundred worlds, in any version of reality. I'd find you and I'd choose you." – Kiersten White

Um die Zeit zu überbrücken, bis Acyn für mich kam, zeigte Fulda mir den Garten und erzählte dabei munter Geschichten der Vergangenheit. Es war nicht leicht sonderlich viel in der Dunkelheit zu erkennen, aber aus dem Haus strahlt so viel Licht, dass ich dennoch die vielen Sträucher und Blumen sah. Wie im Vorgarten war fast alles durch den Sommer vertrocknet. Es sah nicht so prächtig aus wie einst, wie damals, als ich vor weit über hundert Jahren hier gewesen bin, was Fulda allerdings nicht kommentierte. Sie konnte ja auch kaum wissen, dass ich bereits hier gewesen bin. Lag der Zustand des Gartens nur an der Hitze oder hatte es etwas damit zu tun, dass Grace fort war? Der Irrgarten war ohne sie immerhin auch irgendwie gestorben oder zumindest hatte er stark an Leben verloren. Ich würde diese Form von Magie nie ganz begreifen können.

Fulda erzählte mir davon, wie sie Björn, Graces Vater, kennen lernte, wie sie sich beinahe auf Anhieb ineinander verliebten. Das war ein paar Jahre nachdem er sich von Helena Aasen getrennt hatte, nachdem er herausgefunden hatte, was für ein Monster von einer Frau er da eigentlich geheiratet hatte.

Ich war dankbar, dass sie während all ihrer Erzählungen Grace nie erwähnte. Sie sprach nur von ihrer glücklichen Zeit mit Björn, dass sie seit einigen Jahrzehnten nur am Reisen waren und nie lange an einem Ort blieben, wobei sie allerdings öfters nach London kamen. Wegen des Hauses, wegen ihrer Zugehörigkeit zum Quartier und weil Björns Sohn Alec öfters hier war.

Ich hatte Alec ganz ehrlich vergessen. Der Junge, den ich damals in diesem Haus angetroffen hatte und der besorgt über unser Erscheinen gewesen war, war aus meinen Gedanken geflohen. Ich hatte mich nie gefragt, was aus ihm mittlerweile geworden ist. Aus der Linie der Zeit stammend lebte er aber offenbar immer noch und war so, wie ich es aus Fuldas Erzählungen entnehmen konnte, derzeit in Irland. Wie meine älteren Brüder arbeitete er auch als Jäger für das Quartier und sorgte für Ordnung überall dort in der Welt, wo keine Quartiere standen.

Ich lauschte ihren Erzählungen und spielte dabei mit dem Armband, das nun an meinem rechten Handgelenk baumelte. Es war wunderschön. Es war so schön und so verflucht teuer, dass es mir so falsch an mir vorkam. Wer war ich schon, dass ich teure Familienerbstücke trug? Vor allem Familienerbstücke, die nicht von meiner Familie waren, die rein gar nichts mit mir zu tun hatten. Fulda war zu gut, zu herzlich. Die Bedeutung hinter dem Schmuckstück war so bewegend, dass ich es nur leider tragen musste. Ich wollte sie nicht beleidigen, in dem ich es ihr zurückgab, auch wenn es mich etwas verwirrte nun etwas zu tragen, das einst Grace gehört hatte. Ich hatte schon genug von ihr übernommen.

Fulda wollte gerade wieder mit mir ins Haus gehen, als ich verborgen zwischen zwei besonders dichten Sträuchern etwas bemerkte, das ich lieber nicht hatte sehen wollen.

„Ist das ihr Grab?" Meine Stimme war nur ein Flüstern, trotzdem hatte sie mich gehört. Ich war stehengeblieben, sah mit Entsetzen zu dem halb verborgenen Grabstein und wusste bei dessen Anblick kaum, was ich denken oder fühlen sollte.

„Ja", sagte Fulda und klang plötzlich ganz traurig. „Normalerweise verbrennen wir Wächter ja unsere Toten, aber auf Wunsch Helenas haben wir sie begraben."
„Wieso?"
„Nur weil es Brauch ist, verbrennt trotzdem nicht jeder seine Toten. Helena war außerdem eine Hexe, sie haben sowieso ganz andere Bräuche und sie wollte das für Grace."
„Aber sie war eine furchtbare Mutter. Sollte es nicht egal sein, was sie wollte?"
„War sie, aber ich glaube Björn hat die Aussicht gefallen, dass sie irgendwie bei uns bleiben würde, dass sie bei den Blumen und Pflanzen sein würde, die sie so geliebt hatte."

Es war ziemlich seltsam dieses Grab zu sehen, die frischen Blumen auf diesem und wie alt der Grabstein war. Ich konnte in der Dunkelheit die Schrift nicht lesen, aber mir wurde bei dem Anblick ganz anders. Dann dachte ich an Kols Worte während des Feuers im Quartier zurück und ich war verwirrt. Sie musste tot sein, nicht? Aber wieso würde er so etwas dann sagen? Nur wäre sie nicht tot, würde es kein Grab geben. Irgendwer musste hier unten ja begraben worden sein.

„Kommt Reed... kommt er oft hierher?", fragte ich und wusste gar nicht, wieso es wichtig wäre. Vielleicht wollte ich mich einfach vergewissern, dass er wirklich über ihren Tod hinweggekommen war, vielleicht wollte ich mir auch einfach nicht vorstellen müssen, wie er hier weinend auf der Wiese kniet. Mein armes Herz verkraftete diese Vorstellung nicht. Ich hoffte so sehr, dass er diesen Schmerz wenigstens zum Teil überwunden hatte. Zu meinem Überraschen schüttelte Fulda den Kopf. „Nie. Er war noch nie hier. Wir haben ihm damals erlaubt zu kommen, wenn er es denn möchte, aber... er wollte es nicht."

Das hätte ich nicht erwartet. Ich hatte geglaubt, jemand wie er würde sicher jeden Tag herkommen und Blumen niederlegen. Zumindest dass er es damals getan hätte.

„Der arme Junge hat ihren Tod nicht gut verkraftet, es ist besser, dass er nicht gekommen ist. Deswegen bin ich so froh ihn glücklich mit dir zu sehen. Er verdient es, glücklich zu sein. Jeder verdient es."

Ob es jeder verdient, wusste ich nicht. Ein Rowan verdiente es meiner Meinung nach nicht, aber Fulda war so herzlich, ich wollte es nicht sagen müssen.

Wir gingen ins Haus als fast zeitgleich ein Klingeln von der Türe ertönte.

Ich lief mit Fulda zusammen zum Eingang, wo Acyn mich schon regelrecht an sich riss und mich anschließend begutachtete. „Was ist passiert?"
„Ich bin ohnmächtig geworden."
„Ohnmächtig? Wieso? Wo?"
„In Lokis altem Tempel", sagte Fulda, bevor ich es konnte. „Sie scheint wohlauf zu sein, nur etwas durcheinander."
Acyn sah sie einen Moment an, ehe sein Blick durch den Flur wanderte, er die verdeckten Bilder ansah. Ich hatte nicht gefragt, was es damit auf sich hatte, und Acyn würde es wohl auch nicht, da er sich wieder an mich wandte.

„Wieso warst du in Lokis Tempel? Wieso wanderst du überhaupt allein durch die Gegend?!" Streng sah er mich an und ich wurde klein unter seinen Blicken.

„Tut mir leid. Ich dachte nicht, dass so etwas passieren würde."
„Es hätte noch schlimmer als das sein können! Wir sind im Krieg! Darf ich dich daran erinnern, dass jemand wie Rowan dich liebend gern kriegen würde?"
„Er soll es gern versuchen", sagte ich trotzig und Acyn sah aus, als ob er am liebsten was kaputt machen oder mich kräftig schütteln wollte. Stattdessen rieb er sich mit seinen Händen über sein Gesicht und atmete schwer aus.

„Du bringst mich noch um. Wirklich. Ich werde noch bevor ich 30 bin an einem Herzinfarkt sterben vor lauter Sorgen, die ich deinetwegen haben muss."
„So schlimm bin ich nicht", sagte ich und grinste ihn an. Er verdrehte die Augen und sah zu Fulda, die uns amüsiert beobachtet hatte.

„Geschwister. Herrlich. So etwas habe ich lange nicht mehr beobachten dürfen."
„Seien Sie froh darum, manchmal wünschte ich, ich wäre ein Einzelkind", schnaubte Acyn und nahm mich an die Hand, als ob er befürchtete, ich würde sonst nur gleich ins nächste Drama rennen.

„Lass uns gehen."

„Danke für alles", sagte ich an Fulda gerichtet, die mich warm anlächelte.

„Sei vorsichtig dort draußen, Alice."
„Ich versuche es." Es wird nur absolut nichts bringen.



Zurück im Haus wollte ich nur ins Bett. Leider wurde ich zuvor von den Familienmitgliedern, die noch wach waren, umrundet und verpflegt. Mit Tee, mit Essen und von Elin mit vielen besorgten Blicken. Morgen würde ich mit ihr darüber reden, was heute geschehen ist. Heute war ich zu müde und durcheinander dafür.

„Reed hat mich mit Anrufen terrorisiert. Du solltest ihn anrufen und beruhigen", sagte Elin streng, die von dem, was Acyn erzählt hatte, nicht glücklich war. Das war keiner. Ich verstand es ja, wirklich, aber das mit der Ohnmacht war nun wirklich nichts, wofür ich was konnte, und ansonsten wäre ja nichts geschehen. Es war sicher irgendwo naiv von mir gewesen so kopflos durch die Gegend zu wandern, aber ich hatte tatsächlich keine Angst gehabt. Nachdem, was mit dem Feuer war, fühlte ich mich deutlich weniger machtlos und schwach. Ich wollte keine Angst mehr haben, also würde ich mich nicht verstecken.

Leider wollte ich nicht mit Reed reden müssen, so wie Elin es verlangte. Diese Geschichte mit dem Armband nagte etwas an mir, aber ich wollte ihn auch nicht in Angst leben lassen. Sicher hatte er keine Ahnung, wo ich war, auch wenn er mich sicherlich hier aufsuchen würde.

„Ich schreibe ihm eine Nachricht", sagte ich und folgte ihr nach oben. Sie war so lieb mich jetzt nicht mit Fragen zu bombardieren, auch wenn sie eindeutig tausende von ihnen haben musste.

Ich ging in mein Zimmer, lud mein Handy auf und schlenderte ins Bad. Eigentlich wollte ich duschen, aber ich verschob das auf den nächsten Morgen, sonst würde ich nur in meiner Badewanne einschlafen, wenn das warme Wasser mich erst umhüllt. Ich zog mir frische Kleidung an, frischte mich etwas auf fürs Bett und ging zurück zu meinem Handy, wo ich die vielen verpassten Anrufe und Nachrichten ignorierte. Ich schrieb Reed lediglich, dass es mir gut ging, wir morgen reden sollten, ehe ich mich hinlegte und fast sofort einschlief.


Ich träumte nicht lange, da wurde ich bereits von Reed aufgeweckt. Ich hatte es ja kommen sehen. Er saß neben mir auf dem Bett, streichelte mein Haar.

Meine Augen brauchten ein bisschen, um sich an das mangelnde Licht zu gewöhnen, aber ich sah seine Umrisse, spürte seine Anwesenheit in jeder Zelle meines Körpers und alles in mir wollte mehr von ihm und seiner himmlischen Nähe. Schweigend sahen wir uns an. Ich genoss seine Berührung, wie seine Finger über meine Haut glitten, über mein Haar.

„Du wolltest mich nicht sehen." Er klang verletzt und das verletzte mich. Ich hatte nie die Absicht gehabt, ihn zu verletzen, aber ich hatte den kurzen Abstand gebraucht.

Ich schwieg. Es war ja eindeutig, dass ich ihn gemieden hatte.

„Ich kann verstehen wieso", sprach er weiter und hob meine rechte Hand etwas an, wo das Armband noch baumelte. „Ich kann verstehen, dass es dich... verletzt."
„Ich bin eher verwirrt", murmelte ich müde.

„Ich habe dir damals den Stein von diesem Armband als Hilfe geschenkt... ich... ich hatte gehofft, er könnte dir helfen. Ich hatte gehofft er würde reichen. Ich hatte nicht das ganze Armband, aber ich hatte diesen einen Stein und ich gab ihn dir mit der Hoffnung, er könnte ausreichen, dir mit deinen vielen verwirrenden Gedanken auszuhelfen."

„Du hast zu viele Geheimnisse vor mir und ich verstehe, dass du mir nicht alles sagen kannst, zu meiner Sicherheit, aber Dinge wie das mit dem Stein hättest du mir sagen können. Es hätte meinen Kopf nicht in Pudding verwandelt."
„Damit du den Stein wegwirfst?", fragte er und ich sah ihn schmunzeln. Er legte sich neben mich hin, spielte mit dem Armband herum.

„Ich will Antworten", sagte ich, ging nicht auf seinen Versuch ein, mich abzulenken, auch wenn seine Nähe es mir sehr schwer machte.

„Was willst du wissen?"

Zu viel. Alles.

„Die Spieluhr... wieso suchst du nach ihr?" Er hatte mich damals an Silvester nach ihr gefragt und ich hatte ihm nie verraten, wo sie war. Ich würde es immer noch nicht. Ein paar Dinge würde ich für mich behalten. Wenn er nicht alles mit mir teilte, würde ich auch nicht alles mit ihm teilen.
„Also hast du sie doch", sagte er und ich sah ihn grinsen.

„Also?", fragte ich und er seufzte schwer.

„Die Uhr gehörte Grace." Natürlich. „Ihre Eltern haben sie ihr irgendwann einmal geschenkt. Ich habe Grace eine wichtige Karte gegeben, die sie für mich aufbewahren sollte. Sie hat diese in der Uhr versteckt. Als sie wohl meinte, mir nicht mehr trauen zu können, versteckte sie die Uhr. Ich habe mir schon gedacht, dass sie sie hier im Haus aufbewahrt hat." Er wirkte nachdenklich, aber da ich nicht wollte, dass er über seine Pläne nachdenkt, lenkte ich ihn ab.

„Du willst also in den Tempel." Die Karte, die in der Uhr versteckt war, hatte irgendwas mit dem angeblich verlorenen Tempel unter dem Dorf zu tun. Wieder etwas, woran ich kaum mehr einen Gedanken verschwendet hatte. War das überhaupt noch von Bedeutung? Alles, was nichts mit Rowan zu tun hatte, erschien mir irrelevant, auch wenn dieser Tempel irgendwas mit Reeds geheimen Plänen zu tun hatte.
„Du warst fleißig am Suchen, Herzblatt. Aber ja, ich will den Tempel finden und dafür brauche ich die Karte."
„Was ist im Tempel?"

„An dem Ort soll alles möglich sein. Angeblich kann jedes Ritual, jeder Zauber, alles kann dort funktionieren, egal wie unmöglich es auch aussehen mag", sagte er und es klang wie ein Märchen.

„Was willst du denn bewirken?"
„Das kann ich dir leider nicht sagen, aber ich habe dir ein paar Antworten gegeben, das sollte deinen neugierigen Ohren doch hoffentlich für eine Weile reichen."

Ja, immerhin etwas.

„Ist es nicht eigenartig, dass ich die Melodie der Uhr kannte?", fragte ich ihn leise, während er sich näher an mich kuschelte.

„Du kanntest sie?"

„Ich habe als Kind diese Melodie so oft gesummt. Das war meine Melodie und dann fand ich die Uhr und..." Ich brach ab, in meinem Kopf flackerten wieder verschiedene Bilder auf. Ich sah wieder Haydens Freund James bei diesem Ball, ich bildete mir ein draußen im Gang würden Kinder lachen, ich bildete mir ein, die Melodie zu hören, als ob sie jemand spielen würde.

Ich wurde nervös und Reed merkte es.

„Psht", sagte er leise, presste sein Gesicht an meinen Hals, küsste meine Haut dort. „Lass nichts in deinen Kopf, was dort nicht hingehört. Konzentriere dich auf das Armband."

Ich versuchte es. Mit meiner linken Hand umklammerte ich das Handgelenk, an dem es baumelte. Ich berührte die einzelnen Steine, versuchte bei jedem von ihnen eine weitere Sache wegzusperren. Die Musik, das Lachen, die Bilder. Ich tat es, bis es wieder ruhig wurde, bis meine Atmung wieder ruhig war und ich mich entspannen konnte.

„Das Armband kann dir helfen, Herzblatt. Bitte lass dir helfen, du musst dich nicht quälen, du darfst dich nicht zu sehr verlieren."

Das wollte ich auch gar nicht. Wenn dieses blöde Armband also helfen konnte, dann würde ich es lassen, dann würde ich es tragen.


Wörter: 2347

Aloha :) Ich hoffe es gefällt euch, auch wenn es etwas kürzer war. Montag geht es weiter xx


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top