37. Feuer
"You must be ready to burn yourself in your own flame. How could you become new if you haven't first become ashes?" — Friedrich Nietzsche
Nur einen Tag nach dem Treffen in Kellins Haus und nachdem Reed und ich aus der Unterwelt entkommen waren, wurden wir ins Quartier gerufen.
Es ging sicherlich um unser heimliches Treffen mit Rowan, was wir von diesem wollten, was dieser von uns gewollt hatte. Meine Brüder hatten immerhin niemanden etwas über die Unterwelt gesagt. Wüsste das Quartier darüber Bescheid und was wir Rowan als Gegenleistung überreicht hatten, würde es sehr unangenehm werden. Acyn und Riley verstanden, dass der Schaden angerichtet wurde und man nichts mehr ändern könnte. Es brachte nichts, noch mehr Unruhe zu stiften und uns zu verraten. Dennoch mussten wir ins Quartier, immerhin hatten wir vor diesem Deal bereits ein Treffen mit Rowan gehabt, ehe Ramon und dessen Leute alles ruiniert hatten.
Da Kellin immer noch ein Aussätziger war, Elin nicht Teil der Wächter war und Sam nicht an dieser kleinen Konfrontation teilgenommen hatte, wurden nur Reed, Hayden und ich ins Quartier einberufen. Wir hatten gedacht, dass wir uns nun eine Standpauke anhören dürften für das, was geschehen war, aber stattdessen wurden wir eingeladen, an der großen Besprechung der Quartiere teilzunehmen.
Es war wohl Warrens Versuch uns zu vereinen, so dass wir alle nicht länger wahllos hinter seinem Rücken handelten. Es würde nur nichts ändern.
Hier zu sein und alle Anwesenden nur anzusehen, zeigte mir das. So viele Leute aus so vielen Quartieren würden sich nie schnell für irgendwas einigen können. Es würde immer alles zu Politisch bleiben und der eine Monat, den Rowan uns gegeben hatte, näherte sich immer schneller und schneller dem Ende. Ich wünschte mir sehr, wir könnten zusammenarbeiten. Würden wir mit allen Quartieren vereint arbeiten, hätten wir sicher eine Chance auf einen Sieg, aber leider war das mehr ein Wunschdenken. Fürs erste wäre es besser, wir würden uns alle nicht mehr gegenseitig in die Quere kommen, so wie bei der Verhandlung mit Rowan.
Versammelt in einem großen Kreis saßen wir als Teil unseres Quartiers zusammen im Kleinen Saal. Es war eine schaurige Ansammlung mit vielen Anzugträgern und grimmigen Gesichtern.
Aus dem Quartier in Oslo war Ramon da und zwölf weitere Männer und Frauen, die alle finstere Blicke in unsere Richtung warfen. Aus Chicago waren nur drei da, immerhin war das Quartier dort praktisch ausgelöscht. Aus dem Quartier in Kapstadt Südafrika waren zehn Wächter anwesend, die eher gelangweilt wirkten hier sein zu müssen, und aus dem Quartier in Seoul, Südkorea waren ebenfalls zwölf Wächter angereist. In den hinteren Reihen um unseren Kreis herum saßen andere, die nicht direkt von den Quartieren gesandt wurden und auch kein Stimmrecht haben würden. Es waren Adelige, angesehen Bürger und Politiker, die zu den Wächtern gehörten. Jeder, der Rang und Namen oder das passende Geld hatte, war hier und wollte wissen, wie es mit unserer alle Zukunft weitergehen würde.
Die Sicherheitsvorkehrungen waren beängstigend. Es waren so viele Wachen im Raum, vor der Tür, im ganzen Quartier, dass ich Angst hatte auch nur eine falsche Bewegung zu machen, um am Ende nicht dafür erschossen zu werden.
„Ich bin froh, dass ihr alle gekommen seid. So eine Besprechung in diesem Ausmaß hat es seit 125 Jahren nicht mehr gegeben. So gern ich euch also alle hier auf einmal willkommen heiße und sehe, so ernst ist die Lage und so düster ist der Grund für dieses Treffen", sagte Warren, der auf seinem Stuhl zwischen Mr Spencer und Mr Norbert saß. „Ein Rat der Wächterschaft ist notwendig, wenn eine offizielle Kriegserklärung folgt und da mittlerweile nicht nur die Quartiere in Chicago oder hier in London betroffen sind, müssen wir handeln!"
„Es wäre einfacher zu handeln, wenn man wüsste, dass nicht so enorme Sicherheitslücken vorhanden sind", sagte Ramon und Hayden neben mir schnaubte hörbar.
Ramon ließ sich nicht beirren. Finster sah er seinen ehemaligen Freund an, ehe er weitersprach: „Ich habe erst vor wenigen Tagen einen ganzen Haufen eurer Wächter gesehen, wie sie illegale Besprechungen mit dem Feind führten."
„Mehr eine Verhandlung", warf Hayden ein.
„Und das macht es besser?"
„Eine Besprechung sagt voraus, dass wir gemeinsame Sache mit ihnen machen, wohingegen-"
„Hayden", sagte Warren ernst und dieser verstummte.
„Das Handeln meiner Wächter ist nicht ideal und nicht vorbildlich", sagte Warren nun streng. „Alice ist keine ausgebildete Wächterin und man sollte nachsichtig mit ihr sein. Von den beiden Wentworth-Brüdern hätte ich allerdings mehr erwartet."
„Was der nächste Punkt ist", sagte nun ein Mann aus dem Quartier Kapstadts. Er hatte eine tiefe Stimme, lockiges Haar und sein Kinnbart war anders als sein schwarzes Haar silbern. „Wieso ist Reed Wentworth auf freiem Fuß?"
Sofort ertönte zustimmendes Gemurmel von allen Seiten und ich ergriff Reeds Hand, aus Furcht, jemand könnte versuchen, ihn mir wegzunehmen. Besänftigend erwiderte er meinen Druck, ehe er selbst das Wort ergriff. „Ich bin frei, weil ich für meine Fehler geradestehen will und meinem Quartier helfen will gegen die kommende Bedrohung."
„Das hat dich bei den Dunklen Tagen nicht gestört", zischte Ramon. „Lasst uns nicht vergessen, wer den Reitern geholfen hat, wer als der Dunkle Reiter bekannt geworden ist. Wer sagt, dass das kein falsches Spiel ist?"
„Reed Wentworth hat zwei unschuldige Menschen befreit und das aus den Händen Rowans, der derzeit in der Blütezeit seiner Macht ist. Er hat sich aufopfernd verhalten und ist anschließend ins Quartier zurückgekehrt, obwohl er jederzeit hätte fliehen können", verteidigte zu meinem Überraschen Mr Spencer ihn nun.
„Eine gute Tat kann nicht all die schlimmen richten", sagte nun eine Frau, die mit ihrer kleinen Gruppe aus Chicago gekommen ist. Sie war klein wirkte jedoch wie eine Kämpferin, sie sprach wie eine Kämpferin, laut und herrisch.
„Nein, kann es nicht, aber in Zeiten wie diesen ist jede Hilfe willkommen", besänftigte Warren sie alle.
„Sollte unser Fokus nicht auf der Bedrohung liegen anstatt auf Reed?", fragte ich laut. Es gab wichtigere Dinge zu bereden.
„Natürlich sagt das seine Partnerin, warte nur ab, bis du wie die letzte endest", schnaubte Ramon und Reed ließ mich los, sprang auf seine Beine und wurde sofort von Hayden wieder zurück auf den Stuhl gedrängt, während sich alle Waffen im Raum auf ihn richteten.
„Hör nicht hin!"
„Ein falsches Wort...", drohte Reed und Ramon lachte trocken auf.
„Seht ihr? Man kann ihm nicht trauen! Er ist gefährlich, aggressiv."
„Genug davon!", sagte Warren schneidend. „Alice hat recht, wir sollten über die Bedrohung reden und wie wir gemeinsam gegen die Reiter unter der Führung Rowan ankommen wollen."
Mir schwirrte ein bisschen der Kopf von dem Gezanke aller, das nicht einmal dann aufhörte, als Ramon sich endlich auf das eigentliche Thema konzentrierte. Jeder hatte eigene Ansichten, jeder eigene Pläne und keiner wollte Kompromisse schließen. Ab einem Punkt schrie sich jeder an, so dass es in dem Saal lauter war als in einem Affenhaus.
„Sind solche Gespräche immer so?", fragte ich die beiden Jungs.
„Demokratie, Sonnenschein, jede Meinung zählt, jede Meinung muss respektiert werden", sagte Hayden und Reed verdrehte die Augen.
„Deswegen warte ich ungern auf die Entscheidungen dieser Leute. Bis die sich geeinigt haben, hat Rowan alles erreicht, was er will."
„Also machen wir unser eigenes Ding?", fragte ich, hatte nichts anderes erwartet und er schenkte mir ein Lächeln.
„Aber natürlich."
Wir ertrugen die Verhandlung bis zum Ende, mischten uns jedoch nicht weiter ein. Es war zwecklos. Wir waren keine wichtigen Mitglieder unseres Quartiers, unsere Stimmen waren nicht von Bedeutung und was auch immer Warren sich erhofft hatte, es brachte nichts. Die anderen misstrauten Reed zu sehr und sahen mich als unerfahrenes Kind.
Als die Sonne langsam unterging und keine Einigung getroffen wurde, wurde alles auf morgen vertagt und wir verließen die Besprechung.
„Nichts wie weg, bevor ich Ramon eine verpasse", sagte Reed und eilig folgten Hayden und ich ihm raus aus dem Saal. Ich wollte nur nach Hause und mich ausruhen und das am besten mit Reed zusammen. Die Nächte waren das einzig schöne mittlerweile. Da gab es nur ihn und mich und mein kuscheliges Bett. Ich lächelte freudig von der Aussicht, bis Reed plötzlich im Gang ganz erstarrt stoppte. Während Hayden ähnlich überrascht wirkte wie sein Bruder, war ich eher verwirrt und sah zu dem Paar vor uns im Gang, das die beiden so irritierte. Der Mann sah aus wie 40, hatte einen blonden kurzen Bart und dazu passend blondes Haar. Er trug einen edlen Dreiteiler und unterhielt sich gerade mit Mrs Flores, die nicht bei der Versammlung gewesen ist. Die Frau an seiner Seite wirkte ein bisschen jünger als er. Sie hatte blondes langes Haar, trug ein elegantes enganliegendes Kleid und sie hatte ein herzliches Lächeln aufgesetzt. Beide kamen mir vage bekannt vor, sicher hatte ich sie irgendwann bereits im Quartier gesehen, doch wieso wirkten die Jungs so erschrocken? Sie waren zumindest nicht in der Besprechung gerade gewesen.
„Wer sind die beiden?"
„Das sind Graces Eltern", hauchte Hayden und meine Augen wurden groß. Die Eltern von Grace?
„Björn und Fulda", sagte Reed und wirkte ziemlich angespannt. „Ich habe beide ewig nicht mehr gesehen."
„Ich auch nicht, die zwei sind eigentlich nie in London, nicht seit..."
Erstaunt sah ich das Paar an. Das war also Grace ihr Vater und ihre Stiefmutter. Wobei ihr Vater ja offenbar auch nicht ihr echter Vater war. Ihr richtiger Vater war ein Reiter gewesen, das war nur der Mann, der sie großgezogen und der diese Rolle übernommen hatte. Er stammte aus der Linie der Zeit, anders konnte ich mir sein junges Alter nicht erklären.
Der Blick des Mannes fiel auf uns und leicht sprachlos sah er Reed an, während die Frau eher erschrocken von mir an seiner Seite wirkte. Sicher war es schräg für sie mich an der Seite Reeds zu sehen, wenn zuvor Grace hier stand. Ich versteckte mich unbewusst etwas mehr hinter Reed. Ich wurde schon lange nicht mehr so angesehen und hatte vergessen, wie unangenehm es war.
„Lasst uns gehen", murmelte Reed und nahm meine Hand in seine, zog mich in die andere Richtung und Hayden folgte uns.
„Was machen sie wohl hier?", fragte er.
„Sie gehören immer noch in den inneren Kreis."
„Hat sie die letzten hundert Jahre nicht interessiert und bei der Besprechung waren sie auch nicht."
„Vielleicht weckt der Krieg alle etwas mehr auf und sie wollen privat mit Warren reden", sagte Reed leise. Gern hätte ich meine tausend Fragen gestellt, aber ich riss mich zusammen, für Reed, den diese Begegnung eindeutig verwirrte.
„Ahja, ihr beiden", sagte Warren, der sich uns in den Weg stellte. Er meinte jedoch nicht Reed und mich, wie ich es erwartet hatte, stattdessen sah er zwischen den Zwillingen hin und her.
„Ich muss mit euch Herrschaften reden!"
„Muss das sein? Für noch mehr Politik bin ich zu nüchtern", quengelte Hayden, aber Warren sah nicht so aus, als ob er Lust auf Scherze hätte und ich wollte gewiss keine Diskussion starten.
„Ich warte im Garten", sagte ich, konnte etwas Natur gut gebrauchen. Reed küsste meine Hand ganz kurz, lächelte mich schwach an, ehe er mit Hayden zusammen dem Meister folgte und ich gleich die Türe neben mir nutzte, um nach außen zu eilen, fort von den vielen Leuten und den stickigen und erdrückenden Gängen.
Ich war jedoch nicht allein hier außen. Iran saß auf der Wiese und tippte ungeduldig auf ihrem Handy herum. Ich hatte ihre Familie nicht bei der Besprechung gesehen, was machte sie also hier?
„Wartest du auf jemanden?"
„Fuck, erschrecke mich doch nicht so!", sagte sie tadelnd und zuckte von meinem plötzlichen Erscheinen zusammen. Ich grinste.
„Also?"
„Nasrin wollte gleich kommen. Sie ist oben auf ihrem alten Zimmer, um ein paar Sachen zu holen."
„Ihr geht es besser zurzeit, nicht?" Ich fühlte mich schlecht, wie wenig Kontakt ich zu ihr in letzter Zeit hatte, aber bei allem, was so los war... Ich vernachlässigte da so ziemlich jeden. Nicht einmal meine Eltern rief ich wirklich an.
„Endlich! Vielleicht reicht etwas Verliebtheit genauso gut wie ein richtiger Partner. Zumindest hat sie sich mittlerweile echt gut im Griff." Sie zuckte lächelnd mit den Schultern und spielte wohl auf Nasrins Beziehung zu Reyna an, die Iran wohl offenbar akzeptiert hatte, zumindest benahm sie sich nicht mehr so, als würde sie in Reyna eine Bedrohung sehen.
„Solange die Verliebtheit anhält. Ich spreche aus Erfahrung, dass Liebeskummer nicht gut für die Kräfte ist", sagte ich amüsiert und sie verdrehte die Augen.
„Ich kenne die Lösung dafür. Reyna kriegt richtig Ärger, wenn sie meiner Schwester das Herz bricht. Dann breche ich ihr ein paar Knochen."
„Das ist natürlich auch ein effektives Mittel", lachte ich und sah zur untergehenden Sonne. Solche Tage, wo man einfach im Quartier Zeit verbracht hatte, fehlten mir. Hier war es eigentlich echt schön. Der Wald, die Gärten, das Dorf. Ich hatte all das zu lange nicht mehr richtig gesehen.
„Wie war die Konferenz des Bösen?"
„Nervig. Alle streiten wie kleine Kinder. So werden wir keine Chance haben."
„Das sagt meine Tante auch immer. Deswegen hält sie sich von den Treffen fern, die wollen ihr nur immer verbieten, ihre Hunde zu halten", schnaubte Iran.
„Wieso das denn? Ohne die Hunde kann sie sich nicht fortbewegen." Irans Tante Leila hatte ich zwar schon lange nicht mehr gesehen, aber sie hatte mir damals mal den Hintern gerettet, als Kellin beim Geburtstag meines Großvaters mich noch entführen wollte. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, seit das passiert ist, dabei war nicht einmal ein Jahr vergangen. Es war absurd, wie sehr sich mein Leben verändert hatte in paar Monaten. Manchmal vermisste ich es, wie simpel diese Probleme gewesen sind. Von Kellin gejagt zu werden kam mir mittlerweile recht amüsant vor.
„Sie haben Angst vor Höllenhunden, alles erbärmliche Feiglinge, die sich so krass aufspielen, aber wenn die Gefahr droht, ziehen sie alle ihre Schwänze ein."
„Genau das ist auch meine Meinung, Schätzchen."
Ich sprang wie Iran auch schneller auf die Beine als ich es mir je zugetraut hätte. Mit großen Augen sah ich zu der Frau, die durch die Büsche zu uns auf die Wiese trat und uns dabei beide neugierig musterte. Ich kannte sie, auch wenn ich einen kurzen Moment brauchte, um mich zu erinnern, woher.
Ein vages Bild kam mir wieder hoch. Ein romantischer Ausflug in die Vergangenheit, eine Gruppe von vier Wächtern, von denen nur noch eine lebte. Das war Aurora Wentworth, die Tante von Reed, die Verrückte, die während der Dunklen Tage eingesperrt wurde und nun wie viele anderen auch vor wenigen Wochen ausgebrochen war. Sie sah nicht mehr aus wie die Person, die ich während meines Ausflugs mit Reed im Jahr 1720 gesehen hatte. Damals war sie so alt gewesen wie ich, sie hatte langes, schwarzes Haar gehabt und war so schön gewesen. Über hundert Jahre im Gefängnis hatten sie verändert. Ihr Haar war von grauen Strähnen durchzogen, obwohl sie immer noch nicht alt war. Sie sah aus wie um die 30 und doch auch wieder nicht. Ihre Haut wirkte vom mangelnden Licht gräulich und spröde. Es war, als ob sie ihren Glanz verloren hätte.
„Aurora Wentworth", hauchte ich den Namen, damit Iran wusste, wer hier vor uns stand.
Während Iran erschrocken die Luft einzog, legte Aurora den Kopf leicht schief.
„Du weißt, wer ich bin. Hat einer meiner Neffen dir von mir erzählt? Ich war mal Reeds Lieblingstante."
„Ich habe dich gesehen, in der Vergangenheit... ganz kurz."
„Ich habe da sicher noch etwas... stilvoller ausgesehen", sagte sie und schaute an sich herunter. Sie trug ein einfaches, schwarzes Kleid mit langen Ärmeln und einem übergroßen Ausschnitt, bei dem es ein Wunder war, dass ihre Brüste noch nicht vorne herausgefallen waren. „Wie dem auch sei, ich habe von einer netten Versammlung gehört und als Teil der königlichen Linie glaube ich, sollte ich anwesend sein." Sie grinste breit und offenbarte ein Haufen an faulen Zähnen. Die Zeit im Gefängnis hatte ihr wahrlich nicht gutgetan.
„Eww", sagte Iran angeekelt und ich schloss kurz die Augen. Aurora war eindeutig sehr... eitel. Solche Kommentare halfen uns nicht gerade.
„Du ekelst dich vor mir?", lachte sie leicht hysterisch. „Du vorlaute kleine Göre bist nicht einmal Teil einer königlichen Linie! Damals waren die Namen von unseren Familien noch was wert gewesen. Jemand wie du hätte sich auf den Boden geworfen vor lauter Dankbarkeit, dass ich überhaupt meine wertvolle Zeit nutze und mit dir rede. Offenbar muss man den Kindern Manieren beibringen."
Ich wusste, dass Aurora zwar aus der Linie der Zeit stammte, aber ohne Kräfte geboren wurde. Sie würde nicht in der Zeit springen, gefährlich war sie dennoch. Ich würde sie nicht unterschätzen und so war ich vorbereitet. Ich hatte keine Ahnung, wo sie ihre Waffen versteckt hatte, aber als das erste Messer direkt auf Irans Kopf zuflog, war ich zur Stelle und ein Ast eines nahestehenden Baumes schleuderte es zu Boden.
Mehr Messer kamen.
„Duck dich!", schrie ich. Ich schnappte mir eines der auf dem Boden liegenden Messer und schmiss mich zu Boden. Ich versuchte konzentriert zu bleiben, den Angriff abzuwehren. Die Pflanzen beschützten uns so gut es ging und ich versuchte eines der Messer nach ihr zu werfen, wagte es jedoch kein zweites Mal. Ich verfehlte mein Ziel zu stark und schleuderte ihr nur ihre eigenen Waffen zurück. Ich war eindeutig keine Messerwerferin. In Filmen sah das immer viel einfacher aus.
Warum war sie hier? Es erschien mir recht naiv, dass Aurora ohne besondere Fähigkeiten hier auftauchen würde, nur um uns wahllos anzugreifen. Wenn ich ehrlich war, roch es stark nach einer Falle, aber da ich diese nicht durchschaut hatte und nicht wusste, was ich sonst machen sollte, wehrte ich ihren Angriff weiter ab, versuchte Iran und mich zu beschützen.
Von dem Krach kamen drei Wachen in den Garten. Einer wurde sofort von einer Klinge getroffen und erstickte an seinem eigenen Blut. Bei unseren Sicherheitsvorkehrungen war es schräg, dass die Wachen erst jetzt da waren und dann auch nur so wenige. Nein, irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Ich hörte Iran schreien und in Panik versetzte ließ ich die Flammen kommen. Wie eine Wand zog ich sie zwischen Aurora und uns auf. Es hinderte sie daran, zu uns zu kommen, es hinderte leider auch die Wachen daran, sie festzunehmen.
Ich ließ das Feuer trotzdem brennen und eilte zu Iran, der eines der Messer im Unterschenkel steckte. Blut quoll aus der Wunde, aber es war nicht viel, auch wenn es dennoch sicher furchtbar schmerzen musste.
„Feuer ist gut", schrie Aurora mir über die Wand zu. „Aber mal sehen, wie du klarkommst, wenn das Feuer dich erst verschlingt."
„Lösch das Feuer!", schrie einer der Wachen und ich konzentrierte mich erneut, versuchte die Flammen zu ersticken, sie zu bändigen, sie zurückzuziehen. Das Gras, das zerstört wurde, konnte ich nicht richten, ich war zu erschöpft und wollte sowieso nur Iran fürs erste fortbringen.
Aurora war in der Zwischenzeit verschwunden, die Wachen rannten ihr nach.
„Komm, wir müssen rein!", sagte ich an Iran gerichtet, versuchte kurz nicht zu sehr darüber nachzudenken, was genau diese ganze irrsinnige Aktion sollte.
Ich traute mich nicht, das Messer aus ihrer Wunde zu ziehen, also ließ ich es stecken. Vermutlich war es sowieso klüger so. Sollte man so etwas nicht grundsätzlich drinnen lassen?
Humpelnd und von Schmerzen geplagt ließ Iran sich von mir helfen. Ich war froh, als weitere Wachen am Eingang zu uns kamen und Iran auf die Arme hoben und noch erleichterter war ich, als ich meine beiden Brüder sah. Sie waren während der Versammlung nicht dabei gewesen.
„Alles in Ordnung?", fragte Acyn und nahm mein Gesicht in seine Hände, suchte nach Schäden an mir.
„Was ist geschehen?", fragte Riley.
„Aurora Wentworth ist geschehen."
„Tante Aurora?", fragte Hayden, der mit Reed zu uns lief, von Warren fehlte jede Spur. Reed zog mich aus Acyns Hände zu sich, begutachtete mich nun genauso wie dieser nach irgendwelchen Schäden.
„Sie wollte wohl ein Familientreffen", sagte ich trocken.
„Wo ist Großonkel Charles, wenn man ihn mal braucht. Er hasst sie mehr als irgendwen sonst. Er wartet nur darauf, sie noch einmal ins Gefängnis zu befördern", sagte Hayden und seufzte wehleidig.
„Ich verstehe nicht ganz, was sie hier wollte", sagte ich ehrlich und ließ mich in einen leeren Nebengang führen, wo ich mich mit Reed auf die Bank setzte, die dort vor dem Fenster stand.
„Sie war allein?", fragte Acyn und ich nickte.
„Das ist seltsam", bestätigte Reed. „Sie ist verrückt, keine Frage, aber einfach auftauchen und ziellos angreifen?"
„Das ist nicht ihre Art", sagte Hayden nachdenklich.
„Ich gehe nachschauen, ob die anderen Hilfe brauchen", sagte Riley und ging zurück zum Garten.
„Dann gehe ich mal nach eurer Freundin sehen und schaue, ob alles gut ist", sagte Acyn und ließ mich mit den Zwillingen allein.
„Was glaubt ihr, was das sollte?", fragte ich die beiden. Sie mussten ihre Tante immerhin besser kennen als ich.
„Aurora gehört zu den Leuten, die fest an den alten Bräuchen halten. Du weißt schon, dass Leute aus den Hauptfamilien mehr wert sind, die natürliche Rangordnung beibehalten werden muss. Sie ist eine Fanatikerin. Sie gehört zu den Irren, die glauben, dass wenn man mit den Reitern zusammenarbeitet und es tatsächlich schafft, hohe Mächte heraufzubeschwören, diese ihnen helfen werden alles zu erreichen, was sie wollen. Als kurz vor den Dunklen Tagen die normalen Sitten immer weiter zerbrachen und die Reinheit der Familien sich drohte aufzulösen, hat sie das in den Wahnsinn getrieben."
„Wie viele andere auch, ist sie dafür ins Gefängnis gekommen. Sie ist über Leichen gegangen für ihre Ziele."
„Das erklärt nicht, wieso sie nun hier auftaucht und-"
Bum.
Ein lauter Knall ließ mich zusammenschrecken und mit großen Augen sah ich den Gang entlang. Das war aus dem Dorf gekommen.
„Bleib bitte hier!", sagte Reed, der mit Hayden zusammen aufgesprungen war.
„Nein! Ich will helfen!"
„Das riecht für mich stark nach einer Falle, Alice. Bitte, ich flehe dich an, geh zu Iran und Acyn, ich will nicht, dass Rowan dich erneut in die Finger kriegt."
„Wir wissen doch nicht einmal, dass das Rowans Werk ist!"
„Wer soll es sonst sein? Aurora wurde durch ihn befreit, das alles hier riecht nach irgendeinem Trick und du bist zu wertvoll, Alice", sagte nun auch Hayden.
„Er hat Malia, er braucht mich nicht mehr."
„Er hat den Dolch, ihm sind sicher einige neue Wege eingefallen, wie du nützlich sein kannst", sagte Reed grimmig und nahm mein Gesicht in seine Hände.
„Bitte bleib hier. Ich komme sofort zu dir zurück. Ich schaue nur, was los ist, ok?"
„Wenn dir was passiert..."
„Mir wird nichts passieren."
„Ich passe schon auf ihn auf", versprach Hayden und ich seufzte ergeben. Reed küsste meine Stirn und rannte mit Hayden los.
Ich hasste es zurückzubleiben. Ich wollte helfen, ich wollte etwas tun, aber leider hatten sie ja recht. Es war sicher eine Falle. Rowan hatte mich genau wegen solcher Situationen zu oft in die Hände bekommen und falls ich es war, auf die er es abgesehen hatte, sollte ich aufhören, ihm so alles zu vereinfachen.
Ich lief also eilig los, um Acyn zu finden und musste nicht lange suchen. Er war mit Iran, einer Heilerin und zwei Wachen zusammen im Aufenthaltsraum der Wachen. Es war ein großer Saal mit vielen Sitzecken, in dem ich nie zuvor war. Wie alles im Quartier hatte auch dieser Raum einen eigenen Stil. Es erinnerte mich ein wenig an einen Salon aus dem Barock. Alles wirkte so pompös und alt und doch irgendwie hübsch. Wären da nicht hier und da moderne Geräte im Saal, wie eine Kaffeemaschine oder mehrere Laptops, könnte man fast glauben, in einer anderen Zeit gelandet zu sein.
Es roch irgendwie eigenartig in dem Raum, aber ehe ich mir zu viele Gedanken darüber machen konnte, lenkte mein Buder mich ab.
„Alice, was ist dort los?", fragte Acyn, der mich zu sich zog.
„Keine Ahnung. Die Jungs sind nachsehen gegangen. Wie geht es ihr?" Ich sah zu Iran, der man das Messer gezogen hatte, die jedoch sehr blass geworden ist.
„Die Klinge war vergiftet. Ich versuche herauszufinden, um was für ein Gift es sich gehandelt hat", sagte die Heilerin, eine ältere Frau mit puderweißen Haaren. Iran musste von den beiden Wachen auf das Sofa heruntergedrückt werden, damit sie sich nicht zu sehr gegen die heilenden Hände der Frau wehrte.
„Wie kann ich helfen?", fragte ich, als da mehr und mehr Leute in den Saal kamen. Verletzte Wachen wurden hereingetragen, Wächter, die bei der Versammlung dabei gewesen sind, kamen, um zu sehen, was hier vor sich ging.
„Bleib einfach bei ihr, es könnte sie beruhigen."
„Irgendwer sollte Nasrin holen. Sie ist auch hier irgendwo", sagte ich und kniete mich an eine freie Seite Irans, wo ich einer ihrer Hände ergriff und versuchte, ihr irgendwie Halt zu geben.
„Ich gehe sie suchen, bleib einfach hier." Acyn rannte aus dem Saal und ich sah voller Sorge zu den blutenden Verletzten, verstand nicht, was los war.
Wo waren Reed und Hayden? Ich hoffte sehr, dass sie nichts Waghalsiges taten, dass es ihnen gutging und...
„Riecht ihr das?" Ich rümpfte die Nase, aber je länger ich hier im Raum war, desto mehr roch es hier so eigenartig, es roch ganz nach...
„Benzin", sagte einer der Wachen an Irans Seite, der das wohl auch bemerkt hatte. Ich sah mich in dem Raum um, versuchte zu erahnen, was hier so penetrant danach riechen konnte und mein Blick fiel auf die vielen Blumenvasen, die fast schon gezielt an jeder erdenklichen Ecke im Raum aufgestellt waren, und ich kapierte, was los war. Ich verstand Auroras Worte von vorhin.
„Wir müssen hier raus! Wir müssen hier sofort alle raus!", schrie ich, als alles ganz schnell ging. Mehrere Wachen warfen die vielen Vasen im Raum um. Auf den Boden, den Möbeln, an den Wänden und Vorhängen wurde das Benzin verschüttet und noch ehe sie sich selbst in Sicherheit bringen konnten, warf jemand ein Feuerzeug.
Die Wucht der Flammen war unglaublich. Wie ein loderndes Meer breiteten sie sich innerhalb von Sekunden aus. Schreie, die so fürchterlich klangen, dass sie mich bis ans Ende meiner Tage verfolgen würden, drangen an mein Ohr. Meine Augen waren geblendet von dem Inferno und wie gelähmt stand ich da, sah zu, wie die Verräter aus dem Raum stürzten, doch nicht alle.
Zwei rannten geradewegs auf uns zu und ich rechnete damit, dass sie es auf mich abgesehen hatten, und wollte mich schon mit Händen und Füßen wehren, doch sie schubsten mich nur achtlos zur Seite und rissen die schreiende Iran aus den Händen der Heilerin und der Wachen, die sie allesamt dabei niederstachen.
Sie flohen mit der verletzten Iran zusammen und einige andere mit ihnen, aber hier waren zu viele Verletzte, die Flammen hatten sich innerhalb Sekunden im ganzen Raum ausgebreitet und machten die Flucht für alle anderen, die wie ich zu langsam waren, unmöglich.
Ich kam mir immer noch wie in Trance vor. Ich saß auf dem Boden, sah zu den schreienden Leuten, zu denen, die in den Flammen längst verbrannt waren oder die von den Verrätern umgebracht wurden. Ich sah zu den Toten neben mir, deren Blut sich immer mehr ausbreitete, mich bald berühren würde.
Und schon wieder vergoss Rowan das Blut von uns Wächtern. Schon wieder ließ er uns leiden. Schon wieder raubte er Leben.
Ich hatte genug davon. Ich würde nicht mehr mitansehen, wie irgendwer in diesem Raum stirbt. Ich würde nicht danebenstehen und nichts tun. Ich richtete mich auf und sah mich um. Ich war eine verdammte Wächterin der Natur, die Feuer bändigen konnte. Zwar hatte ich noch nie etwas Vergleichbares getan, aber ich würde es schaffen. Ich musste!
Ich schloss die Augen, hieß die Hitze willkommen, die ich zwar deutlich spürte und die für die anderen ein Albtraum sein musste, doch mir machte sie kaum was aus. Ich ließ das Feuer in mich herein, ließ die Macht und die Wucht und das wilde Leben von dem Element in mich hinein und zügelte die Flammen. Ich zog sie von der Türe weg, kreierte einen Durchgang.
„Raus! Versucht alle zu gehen, ich halte den Weg frei!", schrie ich an die übrigen Lebenden. Ich wünschte ich wüsste, wie ich das Feuer zum Stoppen bringen könnte. Ich wollte es ganz beenden, aber es war so stark, so mächtig und ich merkte, wie das hier schon alles an Kraft aufbrauchte. Meine Beine zitterten wie verrückt unter meinem Gewicht, das Atmen fing an schwerer und schwerer zu werden. Die Luft hier drinnen war heiß, voller Rauch und auch wenn dieser selbst mir eigentlich nicht ganz so schaden konnte, tat er es doch je schwächer ich wurde. Ich sah zu, wie die Verbliebenen sich gegenseitig aus dem Raum halfen, wie einer nach dem anderen Dank mir rennen konnte und ich wimmerte vor Schmerzen, so anstrengend wurde es. Die Flammen hatten mich derweil eingekreist. Ich spürte, wie meine Kleidung teilweise brannte, aber ich spürte außer einem warmen Kribbeln nichts auf meiner Haut. Ich wollte mich nicht davon beirren lassen, ich wollte nur allen helfen.
Und dann war jeder fort. Als die letzte Person ging, brach ich zusammen. Das Feuer holte sich den von mir beschützten Teil des Raums zurück und keuchend und nach Luft japsend lag ich da, sah zu, wie ich in einer Welt von Flammen umhüllt war, wie das Feuer mich einnehmen wollte und es nicht schaffte.
Würde ich ersticken?
Vermutlich nicht.
Verbrennen auch nicht.
Es war nur gut möglich, dass ich hier drinnen lebendig begraben werde, wenn die Decke über mir erst zusammenbricht. Ich konnte mich nur nicht mehr bewegen. Ich war so furchtbar müde geworden, so aufgebraucht. Noch nie zuvor hatte ich so enorm viel Kraft von mir genutzt.
Ich dachte an Reed und wollte zu ihm, wollte nicht von ihm getrennt sein, wollte nicht hier liegen und nichts tun können, während ich auf irgendwas wartete, vermutlich das Ende. Ich dachte so sehnsüchtig an Reed, dass ich mir sogar einbildete, seine Stimme zu hören.
„Was ist passiert? Bei den Göttern, was ist passiert?"
Doch bildete ich mir das ein?
Ich hörte jemanden weinen und drehte einen Kopf zur Seite, sah einige Meter von mir entfernt jemanden mit dem Rücken zu mir gedreht auf dem Boden sitzen. Eine junge Frau mit wild gelockten blonden Haaren und vor ihr kniete Reed.
„Was ist gesehen, Grace? Was ist geschehen? Rede mit mir, Kleine."
„Ich habe dich Kontrolle verloren", schluchzte Grace und hatte ihr Gesicht an Reeds Brust gedrückt. „Ich habe sie alle umgebracht."
Ihre Worte entsetzten ihn, er schien nicht zu wissen, was er sagen sollte.
„Sie hat mich dazu gezwungen... sie hat... ich wollte doch nur... sie sind alle fort. Alle Wächter der fünften Linie, alle Wächter der Magie sind tot." Sie weinte bitterlich und er verfestige seine Umklammerung um sie, küsste ihr Haar und sagte ihr leise etwas, das ich nicht hörte.
Ganz benebelt sah ich beide an, wusste, dass keiner von ihnen wirklich hier war, das hier nur irgendeine Einbildung war, doch sie faszinierte mich. Noch nie hatte ich Grace als etwas anderes gesehen als ein Kind, und auch wenn ich nicht viel von ihr sah, so irritierte es mich sehr.
Ich sah zu, wie Reed sie wegtrug, wie beide aus meinem Blickfeld verschwanden und hilflos streckte ich meine Hand ihnen nach, wollte nicht allein zurückbleiben, glaubte zu ersticken vor Einsamkeit.
Würde jemand für mich kommen?
Nein. Die Antwort war klar. Keiner würde es hier hineinschaffen.
Jeder Atemzug war eine Qual geworden. Ich glaubte nicht mehr länger in einem Raum voll Flammen zu sein, sondern als wäre Wasser um mich herum. Es erschien mir unmöglich Luft zu kriegen, unmöglich etwas anderes als Schmerz in meinem Brustkorb zu fühlen.
„Psht, du musst atmen", sagte eine weitere vertraute Stimme.
Kol.
Der Tote, den ich seltsamerweise und ohne irgendeine logische Erklärung sehen konnte, wann immer ich um Hilfe schrie.
Ich hatte gewusst, er würde kommen und ich war froh nicht mehr allein zu sein. Ich verstand zwar nicht, was es mit ihm auf sich hatte, aber ich war nicht länger allein und das war kurz alles, was von Bedeutung war.
„Du bist das Feuer, es kann dir nicht schaden, atme tief ein und aus." Beruhigend sagte er diese Worte und ich schaffte es, gegen die Blockade in mir anzukämpfen, atmete tief ein, nur um hustend von dem vielen Rauch auszuatmen.
„Du musst hier raus! Du bist zu schwach, um deine Kraft aufrecht zu halten, Kleine."
Ich versuchte es. Ich versuchte aus diesem Raum zu entkommen, aber ich schaffte es nicht, mich aufzurichten. Mein Körper zitterte wie verrückt und Kol war nicht echt. Ich meine, er war echt und doch auch nicht. Ich spürte seine Berührungen nicht, er konnte mir nicht aufhelfen, denn eigentlich durfte er auf dieser Welt gar nicht mehr existieren. Vermutlich hatte ich vor langer Zeit den Verstand verloren, dass ich ihn sehen konnte. Ich musste den Verstand verloren haben, wieso sah ich sonst all die Dinge, die ich immerzu sah?
Ich sah zur Türe, würde meinetwegen aus dem Raum kriechen, aber ich würde nicht aufgeben, ich würde hier herauskommen, ich würde nicht aufgeben. Ich wollte nach Hause, ich wollte zu meiner Familie. Ich wollte zu Reed.
Das hier war noch nicht vorbei.
Ich war eine Wächterin.
Ich war eine Kämpferin.
Feuer war mein Element und ich würde mich nicht davon töten lassen.
In dem Moment hörte ich sie. Ich hörte ihre Schreie.
„Kol. Kol bitte hilf mir." Schluchzend rief das Mädchen, das ich dank er feurigen Wand nicht erkennen konnte, nach dem Namen meines Begleiters, der kurz erschüttert wirkte.
„Grace?", fragte er und ich suchte wie er auch das Meer aus Flammen nach einer Gestalt ab.
„Du kannst sie auch hören?", fragte ich ihn. Noch nie zuvor hatte jemand meine Einbildungen gesehen oder gehört.
„Kol... bitte hilf mir... lass mich nicht zurück... ich weiß nicht, was los ist. Ich bin ganz allein."
„Ja", hauchte Kol und schüttelte leicht den Kopf, sah wieder zu mir. „Du musst gehen!"
„Aber sie braucht Hilfe!"
„Du kannst ihr nicht helfen, du musst hier raus!"
„Aber du kannst sie auch hören... wieso? Sie muss dann doch hier sein, oder nicht? Wieso höre ich sie? Wieso sehe ich dich? Sag mir wieso! Sie ist tot, sie kann nicht hier sein, genauso wenig wie du", sagte ich verzweifelt, würde mich nicht bewegen, bis ich endlich eine Antwort hatte, bis ich verstand, was mit meinem Kopf nicht richtig war.
Es war völlig idiotisch gerade jetzt nach Antworten zu verlangen, aber ich war von meiner eigenen Schwäche wohl nicht mehr ganz dicht im Kopf.
„Sie und ich sind sehr sehr stark aneinandergebunden, deswegen kann ich sie hören, deswegen ruft sie nach mir. Sie weiß, dass ich hier auf der Erde bin und du... die Wahrheit ist, sie ist nicht tot... nicht wirklich zumindest. Nicht so wie ich. Sie ist mehr verloren."
„Nicht tot?" Das war unmöglich.
Sie musste tot sein.
Jeder sagte, sie wäre tot.
Wie könnte sie es auch nicht sein?
Kol sah mich mitleidig an und ich verstand genau wieso. Wenn sie nicht tot war, was bedeutete das für mich? Für Reed? Für unsere Bindung?
Sicher nichts Gutes. Aber Reed könnte glücklich sein. Wäre Grace am Leben, würde vielleicht ein Teil seiner nie heilenden Traurigkeit verschwinden. Er würde aufhören können, mit all den Schuldgefügen von damals zu leben. Er könnte sich selbst vergeben.
„Ich muss sie retten!", sagte ich, wollte mich erneut erheben und schaffte es dieses Mal sogar. Ich wollte zurück, tiefer in den Raum, näher zu den Schreien, aber Kol hielt mich auf, packte mich am Arm und verwundert sahen wir beide hinab, denn ich spürte seinen Griff.
„Du stehst an der Schwelle des Todes. Du kannst sie nur deswegen hören und ich kann dich nur deswegen berühren, weil du fast genauso wenig hier bist wie ich, weil du gerade mehr tot als lebendig bist. Du musst sofort gehen oder es wird nichts mehr geben, wohin du gehen kannst!"
„Aber-"
„Du kannst sie nicht retten! Nicht so. Sie ist nicht wirklich in diesem Raum und das weißt du, Alice. Tief in dir drinnen weißt du das. Du hörst sie nur, so wie du sie immer hörst, aber sie ist genauso wenig wirklich hier wie ich. Wenn du sie wirklich finden willst, musst du gehen, jetzt!"
Er ließ mich los und ich stolperte von ihm weg, wollte rennen, aber als ich alles an mich heranließ, konnte ich es nicht.
Ich war hier, das Quartier brannte wegen den Reitern. Grace lebte angeblich auf irgendeine Weise, die ich nicht begreifen konnte, und brauchte obendrein Hilfe. Würde ich ihr diese Hilfe geben und würde ich sie von wo auch immer sie gerade war befreien, würde ich Reed sicherlich verlieren.
In mir drinnen herrschte Wut, Verzweiflung, Eifersucht und so viel Liebe. Denn egal wie sehr ich mit allem zu kämpfen hatte, ich würde für die Liebe alles tun und ich würde alles geben, um Reed glücklich zu sehen, selbst wenn es nicht mit mir sein sollte.
Ich wusste nicht, woher ich die Kraft nahm, aber ich holte das Feuer zu mir. Ich zog es auf, ich hieß die Flammen willkommen, ließ mich von ihnen verschlingen und brachte alles zum Ersticken.
Als ich fertig war, brannte es nicht mehr. Der Rauch war verschwunden, Kol war verschwunden, alle Schreie waren verstummt. Nur noch ich war da in diesem verbrannten Saal.
Ich lag auf dem schwarzen Boden, sah zu der verbrannten Decke hinauf und meine Augen fielen mir zu.
Wörter: 6032
Aloha :) Ein sehr langes Kapitel mit vielen neuen Wenden. Ich denke ja persönlich, es ist mittlerweile ziemlich eindeutig, worauf das alles hinauslaufen wird, aber eure Meinung würde mich dennoch sehr interessieren. Was denkt ihr, was der Angriff zu bedeuten hatte? Oder Kols Worte? Mittwoch geht es weiter xx
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