34. Schicksalsgötter

"The things I want to remember I can't, and the things I try so hard to forget just keep coming." — Paula Hawkins

Wir waren eine seltsame kleine Gruppe an einem seltsam schaurigen Ort. Ich war in den letzten Monaten in den unterschiedlichsten Konstellationen unterwegs gewesen, aber ich glaube unser Trio hier und jetzt hatte bisher nichts toppen können. Es lag besonders daran, dass wir beinahe gemütlich durch die Wege der Unterwelt schritten und Reed und ich uns komplett darauf verlassen müssten, dass Andrea uns nicht hintergeht. Das konnte nur in einem Fiasko enden. Ich weiß ehrlich nicht, was wir uns hierbei gedacht hatten. Gar nichts vermutlich. Wenn wir an die Güte in Andrea appellierten, war es naiv von uns. Wir würden schon ein wahres Wunder brauchen, um aus dieser Mission erfolgreich oder überhaupt lebend herauszukommen.

Nichts war zu hören. Absolut gar nichts. Nur unsere Schritte auf dem Boden, doch ansonsten nichts. Keine Tiere, kein Wind, kein Anzeichen für irgendein Leben. Musste es nicht irgendwas geben? Hier lebten doch Wesen, oder nicht? Dämonen oder andere Götter oder sonst irgendwas. Ich wollte gern Konversation führen, einfach um meine Angst zu lindern, aber mir fiel kein Thema ein. Es gab zu viel, worüber ich reden wollte und doch würde keines dieser Themen es schaffen, meine Angst zu mindern. Ganz im Gegenteil. Ich klammerte mich an Reeds Hand fest, als würde mein Leben davon abhängen.

„Weißt du, wo du hinmusst, oder hoffst du einfach auf ein Wunder?", fragte Reed und durchbrach die Stille.

„Ich habe eine Vermutung. Wie du weißt, bin ich lange fort gewesen und die Zeit hier verläuft anders als bei euch. Es wird sich einiges verändert haben, aber ich hoffe die Vorgehensweisen meiner Mutter sind noch die gleichen."
„Sie verläuft anders?" Irritiert sah ich zu ihr.

„Schneller. Tage und Wochen vergehen hier und bei euch auf der Erde sind paar Minuten verstrichen."

Das war erschreckend.

Wie lange war Daisy dann schon hier? Sie war seit Monaten fort, bedeutete das, es waren für sie bereits Jahrzehnte hier vergangen? War sie überhaupt noch das Mädchen von einst? Wie könnte sie es schon sein, wenn sie hier sein muss?

„Praktisch, wir verlieren also keine Zeit", sagte Reed vergnügt.

„Hast du dir in all der Zeit auf der Erde nie überlegt, zurückzugehen? Es muss doch furchtbar einsam für dich gewesen sein", fragte ich Andrea, wollte das Gespräch nun, wo es im Gange war, auch weiterführen.

„Du siehst, wie es hier aussieht und was los ist. Ich meine, die Kriege sind jetzt eindeutig vorbei, fürs erste zumindest, aber damals war es schrecklich. Tausende und tausende von Jahren voll Krieg und Elend. Dem zu entkommen war das größte Geschenk gewesen. Ich wusste während meiner Zeit auf der Erde nicht, was hier los war. Die Wege zur Unterwelt wurden kurz nach meiner Flucht durchtrennt. Ich hätte zurückgehen können, aber wenn dort nichts mehr auf mich gewartet hätte, dann wäre ich dort festgesteckt. Erneut wäre ich nicht entkommen. Keiner kann einfach so mehr gehen."
„Aber ein Leben auf der Flucht muss auch unschön gewesen sein."
Sie lachte trocken auf. „Vertrau mir, das weiß ich. Die Irrenanstalt war noch ein recht bequemer Ort gewesen. Ich habe viel erlebt, habe viel vergessen. Wenn du vor der Realität fliehst, fängst du schnell an zu vergessen, wer du eigentlich bist. Manchmal braucht man etwas Hilfe, um sich zu erinnern. Gewisse Gerüche oder Gegenstände oder Orte können helfen. Gesichter sind jedoch die wahren Tore vergangener Erinnerungen. Du wirst nie vergessen, wenn du in die richtigen Augen siehst." Sie lächelte mich beinahe verschwörerisch an und ich zog irritiert die Stirn kraus. Sollte das heißen, sie hatte sich wegen ein Paar Augen erinnert?

„Und hier zu sein lässt dich sicherlich wieder an alles erinnern", merkte Reed an und mit einem grimmigen Lächeln sah Andrea zu ihm.

„In der Tat. Ich bin Kalma, Tochter von Tuonetar. Ich bin die Göttin des Todes und der Verwesung und mein treuster Begleiter ist Surma, der meine Feinde in den Tod reißt."

„Surma?", fragte ich und sah zu Reed, der blass geworden ist, stehengeblieben war.

„Ihr Hund."
„Hund? Wie Höllenhund?"
„Schlimmer."

„Und mein Baby hat mich gewiss sehr vermisst in all den vielen Jahren", lachte Andrea, pfiff einmal kraftvoll und ein lautes Bellen, das mehr wie eine Kreuzung aus dem Brüllen eines Bären und Heulen eines Wolfes klang ertönte nicht unbedingt weit von uns.

„Renn!", sagte Reed starr vor Schreck. „Renn und schau dem Biest nicht in die Augen, sonst wirst du versteinert."

Versteinert?

War das nun ein Hund oder Medusa?

Bevor ich mich von ihm hätte mitziehen lassen oder gar selbst losrennen können, schlangen sich Andreas dünne und doch sehr kräftige Arme um mich und rissen mich von Reed los.

„Lass sie los!", zischte Reed und zog ein Messer. Gut, er war nicht unbewaffnet gekommen.

„Du solltest fliehen. Surma wird ihr nichts antun, wie gesagt, meine Mutter will sie sehen und ich habe nichts gegen sie. Du hingegen..."
„Reed, lauf!", schrie ich, da ich hörte, wie die Bestie sich näherte. Ich hörte das Knurren, das Bellen, wie der Boden bei jedem verstrichenen Meter bebte.

Panisch sah Reed einen Moment zu mir und ich wollte so gern zu ihm, krallte meine Nägel regelrecht in Andreas Arme, hoffte so sehr, Feuer erzeugen und ihr schaden zu können, aber nichts passierte. Alles war blockiert. Reed du ich waren nutzlos hier an diesem Ort.

„Ich komme zurück! Ich werde dich finden, hab keine Angst!", sagte Reed und rannte los.

Ich schrie, als ich den monströsen Hund an uns vorbeirennen sah. Das Tier war ungefähr so groß wie die beiden Höllenhunde von Leila, doch es sah mehr wie ein Ungeheuer als Hund aus. Es hatte Teile von einem Reptil an sich, war geschuppt und besaß den Schwanz einer Klapperschlange. Kaum lief es an uns vorbei, umhüllte mich ein Geruch, der so stark nach Verwesung roch, dass ich würgen musste und mir schwummerig wurde.

„Schlaf lieber, Alice. Vielleicht spürst du dann nicht, wenn Surma deinen Partner in Stücke reißen wird", lachte Andrea, die mich auch weiterhin eisern in ihren Armen hielt. Selbst dann, als meine Knie unter mir nachgaben und ich zusammenbrach.


Ich glaubte nur für wenige Sekunden das Bewusstsein verloren zu haben und aus einem traumlosen Schlaf zu erwachen. Als ich aufwachte, umgab mich immer noch der schreckliche Geruch von Verwesung, aber dieses Mal ertrug ich es weitaus tapferer. Das nächste, was mir auffiel, war, dass ich auf dem Rücken des Monsters lag, das Reed gejagt hatte und das mich nun brav an der Seite Andreas durch irgendein Gebirge führte. Ich schreckte darüber so plötzlich auf, dass ich zu Boden fiel, wo ich gleich rennen wollte, einfach nur weg von ihr und dem Vieh, aber die scharfen gelben Reißzähne des Tieres, die fast direkt neben meinem Kopf nur darauf warteten, zuzubeißen, stoppten mich.

„Ich würde nicht rennen. Surma liebt die Jagd und dein Partner konnte schon entwischen, noch jemand wird gewiss nicht entkommen."
„Er lebt also", hauchte ich erleichtert, vergaß meine Angst für einen Moment und sackte nur noch mehr zu Boden. Ich presste meine Hände gegen meine Augen, aber die Tränen kamen trotzdem. Er lebte. Oh, Gott sei Dank, er lebte. Ich hätte das hier nicht ohne ihn geschafft. Ich hätte es gar nicht gewollt.

Reed war unglaublich. Wollte ich überhaupt wissen, wie er nur mit einem Messer den Fängen dieses Monsters entwischen konnte?

„Genug Theatralik, wir sollten weiter", sagte Andrea ungeduldig und ich sah finster zu ihr auf. Würde sie nicht diesen lächerlichen Jogginganzug tragen, würde sie mit dem Hund an ihrer Seite und der Dunkelheit, die sie mittlerweile wie ein kaum wahrnehmbarer Schleier umhüllte, mächtig und gefährlich aussehen.

Es war mir gleich, wie mächtig sie auch war. Ich würde ihr entwischen. Egal wie. Ich würde ihr entkommen. Ich würde mich nicht versklaven lassen.

„Du und dein Haustier stinkt!" Ich rümpfte angewidert die Nase und erhob mich so würdevoll ich konnte.

„Danke, danke. Der Duft des Todes. Das ist es, was dich erwartet, wenn du abkratzen solltest, also los, noch ist deine Zeit nicht gekommen! Ich weiß nicht, was dein naiver Partner und du euch erhofft habt, aber an diesem Ort seid ihr nichts und zu glauben, es wäre klug gewesen, herzukommen, ist töricht gewesen."

„Ach was", murrte ich und folgte ihr widerwillig weiter.

Sie verspottete mich noch die meiste Zeit weiter. Entweder das oder sie verhöhnte Reed und schwärmte von den Möglichkeiten, wie sie ihn töten würde oder wie andere es sicher längst taten. Ich ignorierte sie. Reed ging es gut. Wäre er tot, wüsste ich es. Oder funktionierten nicht einmal diese Kräfte hier unten? Mein Magen zog sich zusammen und hastig verscheuchte ich solche Gedanken. Er lebte! Reed Wentworth konnte man nicht einfach umbringen! Nicht einmal die verdammte Unterwelt würde das schaffen! Ich lenkte mich ab, in dem ich mich bemühte, mir den Weg zu merken. Während meiner kleinen Ohnmacht hatte ich einiges nicht mitbekommen, aber wenn ich je zurück nach Hause kommen wollte, würde ich wenigstens wissen müssen, wohin ich zu gehen hatte und ich müsste schleunigst von Andrea weg und ihrem Hund, dem ich nicht ins Gesicht blickte. Konnte er einen wirklich in Stein verwandeln?

Ich merkte es, als wir uns dem Ort näherten, an dem wir ihre Mutter auffinden würden. Die Gegend schien noch düsterer zu werden und der schreckliche Geruch von Schwefel nahm zu. Roch jeder Todesgott so? Hades hatte es zumindest nicht. Vielleicht wurde Andreas Familie deswegen an den Rand der Unterwelt verbannt, man ertrug den Geruch anders nicht.

Um uns herum raschelte es in den Büschen und hinter größeren Felsen, so dass ich ungewollt näher an Andreas Seite wich.

„Was sind das für Wesen?" Erschrocken sah ich zu den merkwürdigen Schatten und kleinen Kreaturen, die sich dort versteckten und die mich auf den ersten Blick an Kinder erinnerten, sehr hässliche Kinder. Sie sahen alt und jung zugleich aus, besaßen irgendwas Animalisches an sich. Die Kreaturen lauerten alle in naher Ferne, beobachteten uns und fingen dabei langsam an, uns von hinten den Weg abzuschneiden.

„Das Volk meiner Mutter. Alle, die du erblickst, wurden einst von ihr erschaffen. Sie bringen uns zu ihr. Offenbar hat man mittlerweile von unserer Ankunft hier erfahren. Das ist schlecht."
„Wieso?" Nervös sah ich mich um, mir gefiel es nicht von so vielen düsteren Wesen umzingelt zu sein.

„Hades sollte nicht erfahren, dass du hier bist."
„Wird er das so schnell?"
„Die Schatten reden. Er weiß es also oder wird es sehr bald herausfinden und dann wird es unschön für uns alle werden."

Andreas Mutter hatte sich ihr eigenes kleines Reich hier am Rande der Unterwelt errichtet. Ob Hades es einfach egal war oder ob er nichts davon wusste, das war unklar. Mitten im Gebirge umzingelt von halbtoten, riesigen Bäumen lebte sie mit ihrem Gefolge zusammen. Es war ein sehr simples und wenig prachtvolles Reich, das sie sich errichtet hatte. Nichts wirkte pompös. Knochen wurden gern als Dekoration benutzt, darunter nicht nur die Halterungen einiger Lichter, sondern auch der Thron, der fast ausschließlich aus Schädeln erbaut wurde. Die meisten wirkten recht menschlich. Wollte ich wissen, wie sie an diese herangekommen ist?

„Meine Tochter." Andreas Mutter, deren Name mir ohne Reeds Hilfe längst wieder entfallen war, erhob sich von ihrem Thron und sah mit Tränen in den Augen zu ihrer Tochter. Wir waren einige Meter vom Thron entfernt stehengeblieben, umzingelt von all den Monstern, die zu ihrer Königin hielten und uns alle abschätzend musterten. Mich noch mehr als Andrea. Sie wussten, dass ich ein Mensch war. Sicher sagte einfach alles an mir ‚Hey, schaut mich an, ich bin ein Mensch.'.

Ich hielt meinen Blick fest auf die Königin vor uns gerichtet. Sie sah schaurig aus. Ihre Hände waren so knochig, dass man glauben könnte, sie müsste uralt sein, doch ihr Gesicht wirkte jung und strahlend. Ihr helles Haar war zu einer Krone geflochten, denn eine echte besaß sie nicht. Gehüllt war sie in Schwarz und wie bei ihrer Tochter auch umgab sie ein dunkler Schatten, der fast wie ein grauenvoller Nebel wirkte. Sie sah unheimlich aus, aber ich verstand, wieso sie nicht die wahre Königin geworden ist. Sie besaß nicht dieses Eindrucksvolle wie Hades. Sie wirkte im vergleich zu ihm deutlich harmloser, auch wenn ich sie gewiss nicht unterschätzen würde.

Wie sollte ich hier nur je entkommen? Ich war umzingelt von Bestien und Dämonen und vor mir war eine Thronanwärterin der Unterwelt, eine Göttin. Langsam rechten mir die göttlichen Begegnungen. Sie endeten nie gut.

„Mutter", sagte Andrea und lief auf diese zu, schloss sie in eine emotionale Umarmung. Ich war überrascht. Irgendwie hatte ich angenommen, man würde hier herzloser miteinander umgehen, aber so war es nicht. Sie hatten sich hunderte und hunderte von Jahren nicht gesehen. Für Andreas Mutter müssten es tausende von Jahren gewesen sein. Wie schräg es wohl war, jemanden, der einem so wichtig war, so verdammt lange nicht zu sehen?

Es beruhigte mich in gewisser Weise, dass es an so einem Ort Liebe gab. Vielleicht lag es daran, dass sie Götter waren, aber sie waren nicht herzlos. Vielleicht war dieser Ort nicht durch und durch verkorkst.

Andrea und ihre Mutter lächelten sich an, als ob sie kaum glücklicher sein könnten, sie umarmten sich, als würden sie nie wieder loslassen wollen. Ich stand derweil nur starr neben der Bestie und versuchte keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, dennoch sahen fast alle anderen Anwesenden lieber zu mir als zu der verlorenen Tochter. Die Blicke der meisten wirkten... hungrig. Aßen Dämonen Seelen? Irgendeinen Wert musste ich ja haben, andernfalls würde es keinen Sinn ergeben, wieso sie so scharf auf mich waren.

Wo war Reed nur? Ich hätte ihn so gern bei mir. Wie sollte ich das hier ohne ihn schaffen?

Ich wünschte, wir hätten eine Verbindung zueinander wie Malia und Kellin... wie sie es hatten, bevor Malia bei Rowan landete. Hätten wir so etwas, würde ich ihn im Geiste rufen können, dann würde ich wissen, wo er war, und er würde wissen, wo ich war. Wie sollten wir uns hier nur je wieder finden? Keiner von uns würde ohne den anderen gehen, doch würde ich überhaupt je wieder gehen können? Wie auf Kommando sah Andreas Mutter zu mir, ihr Blick war neugierig und sie musterte mich eingehend.

„Du hast mir ein Geschenk mitgebracht", sagte sie leise und schritt näher auf mich zu.

„Eigentlich hat sie mich zu dir gebracht, Mutter. Sie meinte, du wärst ihr im Traum begegnet", sagte Andrea. Versuchte sie mich zu retten? Es klang stark so. Sie stellte mich zumindest nicht als Gefangene vor, sie stellte mich so vor, dass ihre Mutter mich mit mehr Respekt betrachten müsste. Mit Dankbarkeit.

„Du hast tatsächlich einen Weg hierher gefunden. Ich bin überaus beeindruckt mit dir. Alice Noir."

„Ich kann sehr ehrgeizig sein. Du hast versprochen, dass du mir mit Rowan hilfst, und ich brauche diese Hilfe."

Sie lachte ein kühles Lachen und streichelte ihrer Tochter dabei über den Kopf.

„Oh, ich helfe dir, aber zuerst hilfst du mir. Mit dir kann ich Hades stürzen, ich habe endlich nach Ewigkeiten eine Chance, stärker als er zu werden. Ich kann ihn um seinen Thron berauben und dann ist es ein Kinderspiel, Rowan zu beseitigen."
„Was?" fragte ich verdattert. „Hades... aber... nein! Ich habe keine Zeit für irgendwelche Intrigen und ich werde mich nicht gegen Hades auflehnen!" Ich war vielleicht etwas lebensmüde aber komplett bescheuert war ich noch lange nicht.

„Wie schön, dass du nichts zu entscheiden hast. Du bist hier in meinem Reich, du bist kraftlos, wehrlos und ich werde das, was ich von dir brauche, aus dir holen. Du wirst natürlich nicht mehr leben, um zu sehen, ob ich mich an unseren Deal halte, aber ich versichere dir, mich um Rowan zu kümmern, sobald ich auf dem Thron sitze. Ich will diese Kakerlake selbst beseitigt sehen."

Nicht mehr leben?
Was für eine Scheiße ist das?

Was will sie von mir? Inwiefern kann sie mit irgendwas, das sie aus mir herausholen muss, Hades besiegen?

„Mutter!", sagte Andrea harsch. „Sie hat mich hergebracht, da kannst du sie nicht einfach umbringen!"
„Ich bringe sie nicht um, ich nehme mir nur ihre Kraft... was sie letztendlich töten wird."

„Ich sehe da keinen großen Unterschied", sagte ich, denn so oder so endet das hier mit meinem Tod. Konnten die Leute endlich aufhören so nach dem Ende meines Lebens zu trachten? Langsam nervt es.

„Wir stehen in ihrer Schuld! Wir werden sie nicht töten!", sagt Andrea und beeindruckte mich damit, wie sehr sie sich für mich einsetzte. Hatte dieser kurzer Aufenthalt in der Irrenanstalt uns so verbunden? Offenbar lag ihr irgendwas an mir, wieso auch immer.

„Meine geliebte Tochter, verstehst du nicht, wie wichtig das Mädchen ist?"

„Ich verstehe es sehr gut sogar, aber sie für ihre Macht zu töten, kann kaum der richtige Weg sein. Wir sollten ihr eher zeigen, was in ihr steckt. Wir sollten ihr zeigen, wieso jeder sie will. Sie hat keinerlei Ahnung, sollte sie nicht verstehen dürfen? Sie hat mir geholfen mich zu erinnern, ich will ihr auch helfen. Alle anderen nutzen sie so schamlos aus, sie sollte endlich selbst ein Mitspracherecht bekommen."
„Oh, ich will gar nicht verstehen müssen", versicherte ich Andrea, doch sie ignorierte mich.

„Helf' ihr sich zu erinnern, Mutter. Sie verdient es! Sie hat mich erinnern lassen, wir sollten ihr genauso helfen. Zeige ihr das Schicksal, sie können ihr helfen!"

„Wirklich, das ist nicht..." Bevor ich überhaupt zu Ende reden konnte, hatte Andreas Mutter sich vor mich aufgebaut und ehe ich begriff, was sie vorhatte, berührte sie mich an meiner Stirn und ich glaubte für einen Moment, gestorben zu sein.

Ich sah alles und nichts. Ich verstand gar nicht, was passierte. Es war ähnlich wie das, was Rowan getan hatte, wenn er mir Dinge gezeigt hatte, ehe er sich an meinen Schmerzen erfreute. Ich spürte nur keine Schmerzen. Ich war zu überwältigt von dem, was ich erlebte. Um mich herum war es finster und eiskalt. Ich hörte Leute nach mir rufen. Kinder, Erwachsene. Ich hörte einen Kampf, roch Rosen, ehe plötzlich alles aufhörte und drei Frauen in dunklen Umhängen vor mir standen. Obwohl sie auf dem ersten Blick völlig normal wirkten, war etwas an ihnen unheimlich. Ob es daran lag, dass sie eindeutig sehr gleich aussehende Drillinge sein müssten oder weil sie alle so eigenartig zeitlos wirkten, konnte ich nicht sagen. Sie waren jung und alt zugleich, es war fast gruselig.

„Alice Noir, Tochter von Cecilia und Henry", sagte die erste Frau und ich zuckte zusammen, weil sie genau wusste, wer ich war. „Schwester von Acyn, Riley und Dari Noir. Du wurdest zu uns geführt, damit du deinen Weg erkennst."
„Du wurdest zu uns geführt, damit du herausfindest, wer du wirklich bist", sagte die zweite Frau und ich sah sie irritiert an.

„Ihr habt mir gerade gesagt, wer ich bin. Alice. Alice Noir."

„Wir sagen dir, wer du gerade bist, wer du glaubst zu sein."
„Wer ich glaube zu sein?"

„Du bist mehr, du bist..." Als eine von ihnen mich an der Hand berühren wollte, zog sie diese zischend zurück, verbrannte sich an meiner Haut. Alle drei wirkten entsetzt. So etwas war offenbar noch nie vorgekommen.

„Tut mir leid. So etwas passiert manchmal, ich dachte nicht, dass es auch hier geschehen kann", sagte ich überrascht und sah auf meine Hände. Funktionierten meine Kräfte an diesem Ort? Was für ein Ort war das überhaupt? War das noch die Unterwelt? Hier gab es nichts außer uns. Da war nichts.

„Das hat nichts mit deiner Kraft zu tun... dein Geist wird von starken Mächten beschützt. Wir kommen nicht ran. Du bist die einzige Person, die dich retten kann. Du hast dieses Elend auf dich gezogen, du hast dieses Elend auf so viele gezogen. Du wurdest gewarnt und hast alle Warnungen ignoriert. Nun liegt es an dir, deine Fehler auszugleichen."

„Du musst nach Hause kommen. Du wirst gebraucht", sagte die zweite Frau.

„Du musst gehen. Wir werden dir Hilfe schicken, vielleicht wird er dir helfen, dich zu erinnern, aber nur du kannst dir helfen, ansonsten wirst du Alice bleiben", sprach die erste wieder.
„Und als Alice wirst du sterben."

„Was? Ich verstehe gar nichts mehr, ich..."
„GEH!"

Es war, als ob ich mit voller Wucht auf den Boden geschubst wurde. Als ich blinzelte war ich nicht mehr in der Dunkelheit, sondern zurück in der Unterwelt, wo eine Katastrophe ausgebrochen war. Überall wurde geschrien, ich sah, wie Andrea und ihre Mutter von ihren Wachen beschützt wurden. Panisch richtete ich mich auf, hielt nach der Gefahr Ausschau und sah einen Reiter, den alle zu fürchten schienen. Auf einem schwarzen Pferd, das so viel größer als jedes normale Pferd wirkte und blutrote Augen hatte, die selbst von dieser Entfernung fast zu leuchten schienen, schlug sich der Reiter durch die Kreaturen. Er kam mir vage bekannt vor, aber ich blieb nicht lange genug stehen, um mir Gedanken darüber zu machen. Ich musste weg. Das war meine Chance zu entkommen. Ich rannte also los, einfach nur fort von hier. Ich hatte absolut keine Ahnung, was hier gerade geschehen war, was diese schrägen Frauen gesagt hatten. Es war egal. All das war egal. Ich würde nicht auf die Tricks dieser Welt hereinfallen. Ich musste weg. Zurück. Reed finden. Ja, ich müsste Reed finden!

So schnell meine Beine mich tragen konnten, rannte ich den Weg so weit zurück, wie ich mich erinnern konnte. Ich war so dankbar für das verdamme Training mit Kellin. Normalerweise wäre ich jetzt schon am Boden gelegen und hätte nach Luft gebettelt. Jetzt hatte ich zwar üble Seitenstechen und mein Gesicht glüht vor Überanstrengung, aber ich rannte weiter. Ich rannte, als ob ich im Garten meine Runden laufen müsste und dabei von Kellin angeschrien werde. Das war ziemlich leicht vorzustellen, die Horde an Monstern gab mir das gleiche von Panik erfüllte Gefühl wie Kellin als Trainer.

Ich befand mich nun wieder mehr in dem Teil des Gebirges, wo hohe Steinmauern mich einkreisten und als eine Abzweigung vor mir auftauchte, fluchte ich. Ich wusste nicht, welcher Weg der richtige war. Ich musste erst später wieder aufgewacht sein. Besorgt drehte ich mich um und war erleichtert, noch niemanden zu sehen, der mir folgte, dennoch wollte ich nicht viel langsamer werden. Ich versuchte mich von meinen Gefühlen leiten zu lassen. Beide Wege wirkten gleich. Keiner sagte aus, was am anderen Ende auf einen warten würde. Das machte die Angelegenheit natürlich etwas komplizierter.

Von dem linken Weg wehte kühler Wind und bildete ich es mir ein oder roch dieser ganz leicht nach Reed? Ich musste ihn schon vermissen, dass ich mir einbildete, Reed zu riechen, aber ich glaubte einen Hauch von seinem Parfum aufzuschnappen. War das nicht Zeichen genug? Es musste der richtige Weg sein!

Ich ging also nach links und versuchte nun zwar nicht mehr zu rennen aber wenigstens in einem zügigen Tempo weiterzugehen.

Was war da bitte geschehen? Mein Kopf fing langsam an alles zu verarbeiten, was passiert war und es war einfach bloß irritierend. Ich hatte ja gewusst, dass dieser Ausflug in die Unterwelt schräg und gefährlich werden würde, aber dass es in solch einem Fiasko endet, hätte ich nicht gedacht. Na gut, es war eigentlich vorherzusehen gewesen, aber nicht in so einem schrägen Ausmaß. Ich hatte eher gedacht, wir würden wenn dann einfach getötet werden, aber nicht dass wir getrennt werden, ich in einer eigenartigen Traumwelt mit seltsamen Frauen rede und nun vor meinen Entführern und dem gruseligen Reiter fliehen muss.

Oh Reed, wo bist du nur? Wie soll ich dich nur je an so einem schrecklichen Ort finden?

„Alice." Ich drehte meinen Kopf leicht nach rechts, als ich aus dem Gebirge trat und jemand nach mir rief. Außer der trockenen Einöde war nur nichts zu sehen.

„Alice."

Erneut war da jemand, der mich rief und wie von allein verließ ich den Weg und lief geradewegs durch die vertrocknete Wiese, näherte mich dem Ursprung dieser Rufe.

Da war ein Wald. Mit jedem Schritt, den ich nahm, sah ich ihn deutlicher. Er war riesig und es sah aus, als ob es in diesem schneien würde. Überall an den Bäumen haftete Schnee. Wie hatte ich das nicht schon vorher sehen können? Einen Wald wie diesen hätte ich erkennen müssen und doch wurde er erst klar, kaum hatte ich den Weg verlassen. Oh, das alles gab mir ein ungutes Gefühl, aber die Aussicht Reed zu finden, ließ mich weitergehen.

„Alice." Dieses Mal sah ich ihn. Reed. Er stand zwischen den Bäumen und lächelte mich frech an, winkte mich zu sich. „Na los, Herzblatt. Wir müssen nach Hause gehen."

„Reed", hauchte ich erleichtert, dass er tatsächlich hier war, ich mir das nicht nur einbildete. Ihm ging es gut. Er war wohlauf.

Ich rannte los, lächelte breit und wollte nur zu ihm, wollte mit ihm nach Hause dürfen, fort von hier, aber noch ehe ich ihn erreichte, merkte ich, dass irgendwas nicht stimmte. Sein Lächeln wirkte so kalt, seine Augen hatten ein merkwürdiges Funkeln. Fast als ich ihn erreichte und uns nur noch knapp vier Meter voneinander trennten, hörte ich es dann.

„ALICE! HALT!" Ich drehte mich stolpernd um, sah einen zweiten Reed panisch auf mich zu rennen. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Zwei Reeds? Ich wollte mich irritiert zu der anderen Version umdrehen, herausfinden, was es damit auf sich hatte, als dieser mich bereits packte und in den Wald zog, meine Schreie von den Bäumen verschlungen wurden.


Wörter: 4124

Aloha :) Ich hoffe es gefällt euch. Das Nächste ist aus Reeds Sicht. Na, wie verwirrt seid ihr eigentlich mittlerweile? Ich verspreche euch, zum Ende von Buch drei gibt es einige große Antworten. Wir sind noch knapp 15 Kapitel vom Ende entfernt, wenn ich mich nicht ganz täusche. Mittwoch geht es weiter xx

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