29. Training

"All the hardest, coldest people you meet were once as soft as water. And that's the tragedy of living." — Iain Thomas

Reed hat die Nacht bei mir verbracht. Ich war froh darum. Mittlerweile erschien es mir unmöglich, ohne ihn überhaupt Schlaf zu finden. Ich brauchte ihn bei mir, brauchte seine Hand, die ich wie einen Anker hielt, um nachts nicht in meiner Traumwelt verloren zu gehen.

Meine Familie hatte es eher kritisch aufgenommen, als Reed mit mir zum Frühstück gekommen war, aber keiner hatte wirklich was dagegen gesagt. Elin hatte mir nur leise zugeflüstert, wie erleichtert sie war, dass sie uns nicht hören musste. Immerhin konnten wir also doch still sein.

Da Rowan mich nun nicht mehr aktiv jagen würde, er keinen Grund mehr dazu hätte, lief ich nicht mehr ständig Gefahr, von ihm angegriffen zu werden. Die allgemeine Bedrohung war dennoch nicht vorbei und um uns alle auf den gleichen Stand zu bringen, fuhren Reed und ich nach dem Frühstück ins Quartier, während Elin vorhatte, später zusammen mit Acyn Riley für einen kleinen Spaziergang zur Erholung abzuholen, um ihn anschließend endlich nach Hause zu bringen.

Dann wäre wenigstens endlich jeder daheim, der daheim sei konnte. Gern würde ich meine Eltern und Dari auch zu uns zurückholen, aber sie wären sicherer, wenn sie sich fürs erste auch weiter von dem Quartier fernhalten würden.

Es war komisch nun mit Reed zusammen in Warrens Büro zu sitzen und über eine Bedrohung zu reden. Vor einiger Zeit war Reed noch die Bedrohung gewesen und genau hier in diesem Zimmer hatte ich gedacht, dass ich niemals mit Reed glücklich werden könnte, es nicht dürfte. Seltsam wie sich alles ändern konnte und das in so kurzer Zeit. Nun bekämpfte er diese Bedrohungen mit uns zusammen und einfach alles hatte sich verändert.

Würde das für später was ändern? Würde man ihm deswegen seine vorherigen Sünden vergeben können? Ich hatte im Grunde kein Recht das zu tun. Ich war nicht sauer auf ihn für seine Taten der Vergangenheit, aber verzeihen konnte ich sie ihm nicht, es lag nicht an mir. Ich war nicht auf der Welt gewesen, mir wurde nicht so viel Elend angetan. Das waren jedoch Sorgen für wann anders. Erst mussten wir Rowan beseitigen, den Krieg überstehen und danach konnte man über Reeds vergangene Fehler reden.

Reed hatte das Reden übernommen. Er hatte von unseren letzten Tagen berichtet, wie wir mehr über Rowan herausfinden wollten und wie dieser nun Malia hatte. Er erwähnte keine Details unseres Ausflugs in die Vergangenheit. Er ließ auch die Götter aus, die wir gesehen hatten. Sie waren unwichtig hierfür. Wir sollten uns darauf fixieren, wie wir Rowan beseitigen und Malia retten.

Am meisten war Warren noch immer schockiert, dass Malia überhaupt lebte, dass alles nur eine Täuschung gewesen war. Jeder Eingeweihte verstand, wieso sie das getan hatten, aber locker hinnehmen konnte es dennoch keiner so ganz. Hätte ich Malia vorher gekannt, wäre ich sicher auch gekränkt gewesen, wenn ich 15 Jahre mit so einer Lüge leben musste. Immerhin hatte man sie gesucht, man hatte um sie getrauert, Kellin wurde von dutzenden Jägern gejagt. Das war alles ein enormer Aufwand gewesen.

Nachdem wir ihm grob erzählt hatten, wieso Malia geflohen war und wieso sie nun nach 15 Jahren wieder da war, hatte Warren es zwar besser verstehen können, aber vermutlich würde er das auch erst ganz glauben, wenn er sie sieht, wir sie endlich richtig nach Hause bringen konnten. Warren dachte viel über Reeds Geschichte nach. Er stellte Fragen zu gefundenen Hinweisen, die exakte Wortwahl Rowans, als er den Deal mit Malia eingegangen war, was für Vermutungen wir bezüglich Rowan hatten.

Wir hatten keine. Wir wussten weder, wie man ihn umbringt, noch, was seine Pläne waren. Wir hatten nur Vermutungen und Vermutungen waren unbedeutend in dieser Angelegenheit.

„Das ist nicht gut", sagte Warren, der wie immer, wenn er nervös war, im Zimmer tigerte. „Malia bringt ihm offenbar mehr Kraft als Alice. Er will sie so viel dringender als Alice. Dass er meinte, sie nur einen Monat zu brauchen, ist beunruhigend. Es gibt uns eine Zeitspanne."
„Eine kurze Zeitspanne", sagte ich leise. Ich wollte mir nicht ausmalen, was in diesem einen Monat geschehen würde.

„Ich habe eine Krisensitzung mit anderen Meistern angeordnet. Diese Bedrohung betrifft uns alle. In jedem Quartier gibt es mittlerweile Unruhen, vor allem mit dem Massenausbruch in Griechenland. Wenn wir wieder so getrennt an diese Sache herangehen wie während der Dunklen Tage, wird es böse enden", sagte Warren und sah Reed an. „Du hast einen Einblick in die Denkweise der Reiter bekommen, damals. Du wirst bei dieser Besprechung teilnehmen, selbst wenn sich vieles verändert haben mag, ist es wichtig, wenn mir viel wissen. Du kennst Rowan, du hast ihn eine sehr lange Zeit gekannt und könntest mehr über ihn wissen. Da Kellin offenbar nicht der Feind ist, wäre es natürlich auch gut, ihn dabei zu haben, wenn er sich schon so lange mit Rowan beschäftigt."
„Ich werde sehen, wie ich behilflich sein kann, aber Kellin wird niemals kommen. Er mag das Quartier nicht, er vertraut hier niemanden und mit Malia so frisch fort wird er eher eine Gefahr darstellen. Sein Temperament ist nicht so leicht zu zügeln wie meines", sagte Reed.



Wir verließen das Büro, nachdem die Details zu der Konferenz geklärt wurden. Reed und ich würden unser Vertrauen nicht ins Quartier setzen, dafür gab es zu viele Verräter hier, aber es wäre dennoch gut, wenn wir uns gegenseitig auf dem Laufen hielten und wenigstens versuchen, zu unterstützen.

Ich überlegte während des Rückwegs von Warrens Büro genau, was ich nun sagen wollte. Dass Reed diesem so dringend helfen wollte, war schön, aber ich wusste, dass er immer noch auch seine eigenen geheimen Pläne hatte, auch wenn er seit ich bei Rowan gewesen war, nicht mehr den Anschein machte, als ob er diesen nachgehen würde. Er hatte mich zumindest in den letzten Tagen nie allein gelassen. Da waren keine Treffen mit Arnold oder Palina gewesen, keine komischen Telefonate. Er war einfach nur bei mir gewesen oder eben bei den anderen unserer kleinen Wohngemeinschaft. Ich wusste nur leider nicht, ob das einen großen Unterschied machte. Ich hatte Angst, dass er uns irgendwann doch alle hintergehen könnte, wenn er es denn müsste, wenn es ihm helfen würde.

„Reed", sagte ich, wollte gerade beginnen, ihn zu fragen, was genau er vorhatte, als da jedoch ein Mann vor uns im Gang unsere Aufmerksamkeit verlangte.

„Reed Wentworth." Kühl und mit so viel Ablehnung sprach der mir fremde Mann Reed an, sah ihn auf eine Weise an, als würde er ihn am liebsten hier und jetzt umbringen.

Irritiert wer das war und was für ein Problem er mit Reed hatte, sah ich zwischen beiden Männern hin und her. Reed war stehengeblieben und zwang mich, ebenso anzuhalten, wo er mit verengten Augen den Mann ansah.

„Ramon Diaz", sagte Reed abfällig, spöttisch.

„Ich habe gehört, dass man dich freigelassen hat. Das ändert nichts daran, wer du bist... was du bist. Ich habe nicht vergessen. Ich wusste ja schon immer, dass du verdorben bist, aber al sich hörte, was du getan hast, dass man dich dafür eingesperrt hatte... du bist Abschaum", zischte dieser Ramon.

Gute drei Meter trennten uns nun, aber es war in meinen Augen nicht genug. Wer zur Hölle war er bitte und wieso hasste er Reed so sehr? Mir gefiel das nicht.

„Du bist sicher hier als Vertreter Norwegens", merkte Reed an, ohne auf die feindlichen Worte einzugehen.

„Das Quartier in Oslo handelt wenigstens vernünftig im Gegensatz zu den Engländern. Wir lassen nur ehrenvolle Mitglieder in unsere Reihen und lassen uns nicht von Mördern helfen."
„Darf ich dich daran erinnern, dass du auch mal zu uns Engländern gehört hast, bevor du wie ein Feigling davongerannt bist? Ich kann verstehen, wieso Hayden dich nie wollte. Mein Bruder steht nicht so auf Feiglinge."

Reeds Worte verärgerten den Fremden. Er ballte die Hände zu Fäusten, sah herablassend zu Reed, ehe sein Blick zu mir glitt.

„Und ich kann verstehen, wieso Grace lieber sterben wollte, als mit dir zusammen zu sein. Sicher wird deine neue Freundin auch lieber Selbstmord begehen, als bei dir zu bleiben."

Das war hart. Reed verlor die Kontrolle, wollte sich auf ihn stürzen, ließ dabei meine Hand los.

„Genug!" Hayden tauchte hinter Ramon im Gang auf, stellte sich schützend vor diesen hin und Reed blieb stehen, noch ehe er ihn erreichen konnte.

Erschüttert sah ich das Schauspiel vor mir an. Wer war dieser Kerl und woher kannten sie ihn alle? Er war jung, vielleicht so alt wie Hayden, auch wenn er sich benahm, als wäre er viel älter. Er war sehr groß, schmal gebaut und er trug ziemlich edle Kleidung. Seine Haut war genauso gebräunt wie die der Zwillinge, sein Haar schwarz. Mir wollte nicht einfallen, ob ich je irgendwas von ihm gehört oder gesehen hatte.

„Was ist hier los?", fragte Hayden, sah von Reed zu Ramon, dessen Arm er berühren wollte, aber dieser schlug nur seine Hand weg.

„Dein verrückter Bruder ist los!"

„Hayden, dein alter Freund ist noch genauso nervig wie damals", sagte Reed brodelnd und ich nahm seine Hand in meine, wollte nicht, dass er wieder die Kontrolle verliert.

„Ramon, was machst du hier?", fragte Hayden diesen nun. „Ich habe dich Jahrzehnte nicht gesehen, du hast dich nie gemeldet und nun bist du hier?"

Ich hörte, wie verletzt Hayden war. Egal wer dieser Ramon auch war, er war Hayden mal wichtig gewesen und irgendwas muss wohl geschehen sein, dass sie sich auseinandergelebt hatten. Ramon musste wohl auch aus der Linie der Zeit stammen, anders konnte ich mir sein Alter nicht erklären.

„Was hätten wir uns schon noch zu sagen, Hayden? Es ist zu viel passiert, wir haben zu viel verloren. Dich zu sehen, erinnert mich nur an das, was gewesen ist, und dass du ihn verteidigst, trotz allem, was er getan hat, zeigt mir, dass es gut so ist, dass ich den Kontakt abgebrochen habe. Du hast uns damit alle verraten! Mich, die anderen... Ricardo." Tränen sammelten sich in Ramons Augen und ich kapierte überhaupt nicht mehr, was hier vor sich ging.

„Können wir nicht darüber reden?" Beinahe flehend sah Hayden ihn an, aber Ramon schnaubte nur.

„Ich bin hier, um mit Warren zu reden. Wir haben uns rein gar nichts mehr zu sagen und ich werde sicher nicht jetzt anfangen, über die Vergangenheit zu reden. Die Zeiten zum Reden sind lange vorbei. Wenn ihr mich also entschuldigen würdet." Er wandte sich ab, lief weiter zum Büro und ich war leicht sprachlos.

„Lass uns gehen!", sagte Reed immer noch wütend.

„Wer war das?", fragte ich und bewegte mich nicht. Ich wollte Hayden nicht zurücklassen, wenn er wie erstarrt dastand.

„Ein alter Freund Haydens, der einzige, der die Dunklen Tage überlebt hat", antwortete Reed mir und Hayden sah nun zu ihm. Er war zornig.

„Und wessen Schuld ist das? Er hat jedes Recht, sauer zu sein, ebenso ich! Er hat seinen Bruder verloren wegen deiner Taten!"

„Ich habe damit absolut nichts zu tun!", sagte Reed und ließ meine Hand los, lief einen Schritt auf seinen Bruder zu.

Oh, bitte nicht.

„Hey, das ist alles hundert Jahre her, wir haben gerade einen Krieg vor unserer Türe, erneut, wir sollten uns vielleicht auf die Probleme von jetzt konzentrieren und nicht auf die Ereignisse von damals", mischte ich mich ein, versuchte die Lage zu beruhigen.

Hayden hatte allen Grund sauer zu sein und ich hatte keine Ahnung, was geschehen war und wie viel Reed mit dem Tod von Ramons Bruder zu tun hatte, aber nun nach all der Zeit darüber zu streiten war sinnlos. Was geschehen ist, ist geschehen und man würde nichts mehr daran ändern können.

„Was auch immer", murrte Reed, wandte sich von Hayden ab und ergriff erneut meine Hand, zog mich mit sich. Ich sah Hayden entschuldigend an, aber dieser hatte sich längst abgewandt und lief weiter.


Die Autofahrt verlief schweigend. Reed war eindeutig wütend und ich wusste nicht, was ich sagen könnte, um seine Laune anzuheben. Da mir der Weg jedoch nicht bekannt vorkam, den wir fuhren, musste ich einfach das Wort ergreifen. „Wo fahren wir hin?"
„Zu Kellins Haus."
Ich nickte nur, wollte nicht weiterreden müssen. Zu Kellin zu gehen wäre gut. Wir mussten sehen, wie er mit Malias Verschwinden zurechtkam und ihm von dem Gespräch mit Warren berichten.

Kellins Haus lag eindeutig etwas außerhalb der Stadt und es erinnerte mich gleich an die Gegend, in der Rowan sein Haus hatte, auch wenn ich mal bezweifelte, dass die beiden Nachbarn waren. Eine witzige Vorstellung wäre es dennoch.

Das Haus, in dem Kellin wohnte, war groß, sehr groß sogar. Dafür, dass er Rowan nicht mochte, hatte er auf den ersten Blick zumindest einen sehr ähnlichen Stil wie er. Großes Grundstück, bewachte Tore, ein Haus, das einer Villa gleicht.

Als wir das innere des Anwesens betraten, wurden die Unterschiede größer. Kellin lebte etwas angepasster an der Zeit, auch wenn man dem Haus anmerkte, dass hier wohl eine Weile keiner mehr gewohnt hatte und alles frisch neu einbezogen war.

Ich fand es etwas seltsam hier zu sein. Alles wurde so extrem bewacht, hier waren so viele fremde Menschen, alle bewaffnet, alle mit grimmigen und ernsten Gesichtern. Ich kannte niemanden außer Reed und an dessen Seite klebte ich regelrecht. Das war ein bisschen wie in einem Actionfilm, wo man plötzlich mitten in einer Geheimorganisation gelandet war. Woher kamen all die Leute und wieso arbeiteten sie alle für Kellin?

„Das ist also Alice Noir." Überrascht sah ich zu der Frau, die auf uns zulief, kaum betraten wir die Eingangshalle. Sie war eine wahre Schönheit. Groß, sportliche Figur, helles Haar und ein makelloses Gesicht.

Sie sah ein bisschen aus wie ein Supermodel und obwohl sie sicher 20 Jahre älter als ich war, kam ich mir neben ihr ziemlich unscheinbar vor.

„Du siehst tatsächlich aus wie Malia", sprach sie weiter und musterte mich eingehend, wo ich mein Kinn trotzig hob, versuchte ihrem Blick standzuhalten. „Du bist nur eindeutig weniger schüchtern als sie es bei unserer ersten Begegnung war." Sie lachte erheitert und ich wusste nicht wirklich, was ich dazu schon sagen sollte.

„Und du bist wer?", fragte Reed herablassend und die Frau sah nun ihn interessiert an.

„Kate", stellte sie sich vor. „Und du bist der Unruhestifter. Was Kellin sich nur dabei denkt, mit dir zu arbeiten?"
„Frag ihn doch?", fragte Reed herausfordernd.

„Wo ist Kellin?", fragte ich und stoppte beide, bevor sie sich am Ende auch nur streiten konnten. Reed war eindeutig schlecht gelaunt und ich wollte nicht, dass diese Zusammenarbeit ruiniert wurde, weil er es sich mit jedem verscherzte.

„Im Garten. Ihr solltet vorsichtig sein. Er ist gerade sehr gereizt. Wenn ihr nicht erschossen werden wollt, solltet ihr aufpassen, was ihr sagt. Kilian der Idiot hat schon ein Messer in den Arm bekommen, aber er hat es darauf angelegt." Sie verdrehte die Augen und ich sah besorgt zu Reed. Es war klar gewesen, dass Kellin durchdrehen würde ohne Malia.

„Wir kommen schon klar", sagte Reed unbeeindruckt und wir ließen Kate stehen, liefen in die Richtung des Gartens.

„Kann man überhaupt mit ihm reden, in dem Zustand?", fragte ich Reed vorsichtig und er verzog leicht das Gesicht von der Vorstellung, in was für einer Gemütslage er sich befand.

„Wir müssen ihn dazu bringen! Er will sie unversehrt zurück und das so schnell es geht, dann wird er sich zusammenreißen müssen, anders wird das nicht funktionieren."

Kellin saß im Garten auf einem Stuhl, der irgendwie nicht wirklich in einen Garten gehörte. Er wirkte zu pompös und elegant, als ob er ihn von innen herausgetragen hätte, um nun mitten auf der Wiese zu sitzen.

Ruhig saß er auf diesem, spielte mit einem Taschenmesser dabei gedankenverloren herum und er sah nicht auf, als wir uns ihm näherten. Ich konnte richtig spüren, wie geladen und angespannt er war.

„Bruder, deine Zeit zum Schmollen ist vorbei", sagte Reed und ich sah ihn an, als ob er den Verstand verloren hätte. Bevor das Messer ihn treffen konnte, wich Reed diesem aus und sah grinsend zu seinem Bruder, der sich von seinem Stuhl erhoben hatte, feindselig zu ihm blickte und eine Waffe gezogen hatte.

„Spar dir die Kommentare, oder ich werde dich häuten!"
„Immer ruhig. Wir arbeiten zusammen, vergiss das nicht. Deine Partnerin hat Alice Leben gerettet, das vergesse ich nicht, also werde ich alles geben, um sie unbeschadet zu dir zurückzubringen."

„Wir habe nur überhaupt keine Ansätze!", sagte Kellin gereizt und setzte sich wieder, behielt die Waffe jedoch in der Hand.

„Ein paar haben wir. Wir haben immer noch Spione in seinen Reihen, die er nicht bemerkt hat. Vielleicht keine in hohen Positionen, aber..."
„Was ist mit Marek?", fragte ich. „Er hat uns mehrmals geholfen und er ist Rowans treuster Begleiter."
„Marek kann man nicht vertrauen. Er würde sich nie ganz gegen Rowan stellen", schnaubte Kellin. „Wir haben zurzeit zu viele Schwachstellen und genau wegen denen ist es so weit gekommen. Die größte von denen bist du!" Er sah dabei zu mir und ich sah ihn empört an.
„Wieso ich?"
„Weil du ahnungslos bist und schwach! Du kannst dich außer mit deinen Kräften nicht verteidigen, weder mental noch körperlich. Selbst deine Kräfte sind schwach und nicht ausgeprägt, das Feuer beherrschst du gar nicht. Und Rowan weiß das. Er muss nur einmal jemanden den du liebst in die Finger kriegen, und du gehst einen neuen Deal ein. Außerdem weißt du zu viele Dinge nicht, die er gegen dich verwenden kann und dann heißt es Game Over."
„Und was soll ich dagegen machen? Mir will keiner etwas verraten und wenn ihr es würdet, würde ich offenbar nur am Ende den Verstand verlieren", sagte ich leicht gereizt, immerhin war das nun wirklich nicht meine Schuld.

„Weil du selbst darauf kommen musst, ohne Hilfe! Reed füttert dich schon mit Hinweisen, seit ihr euch kennt, und du willst es einfach nicht genug kapieren und-"
„Genug!", sagte Reed. „Lass sie in Frieden. Nur weil du sauer bist, musst du es nicht an ihr auslassen."

„Ist es nicht die Wahrheit? Ich sehe dir an, dass es dich in den Wahnsinn treibt, dass du ihr nicht alles sagen kannst."
„Natürlich treibt es mich in den Wahnsinn, aber lieber ich werde verrückt als sie, also lass es sein!"

„Gut, aber körperlich muss sie lernen, sich zu verteidigen. Ich fange heute noch mit dem Training an", sagte Kellin und ich sah ihn fassungslos an, ähnlich wie Reed.
„Du?", fragten wir beide.

„Ich glaube kaum, dass du es übers Herz bringen würdest, sie zu schlagen, oder?"

Mich schlagen? Was für eine Art Training sollte das bitte werden?

Reed sah mich an und ich sah ihm an, dass die Vorstellung ihn regelrecht anwiderte.

„Genau das meine ich. Ich bin der beste Trainer, den sie hier kriegen kann, und ich brauch Ablenkung, also übe ich mit ihr und sorge dafür, dass wenn Rowan je wieder in ihre Nahe kommt, sie ihm sein verdammtes Rückgrat brechen kann."

Das klang ja wundervoll.

Ich wollte beim besten Willen kein Training haben, vor allem nicht mit Kellin Wentworth als Trainer, der die schlechteste Laune überhaupt hatte. Das könnte beinahe zu den Top 10 an Dingen gezählt werden, die ich niemals erleben wollte. Vor allem wenn Kellin reizbarer war, als wenn ich meine Periode hatte.

Kellin machte vor allem keine halben Sachen. Er wollte sofort anfangen und da Reed seine Leute herbringen wollte, damit die gemeinsame Arbeit zwischen Kellin und ihm richtig beginnen konnte, blieb ich hier und stellte mich meinem sportlichen Schicksal.

Ich bekam von Kate Klamotten geliehen, die mir etwas zu groß waren, aber zum Trainieren würden sie reichen.

So stand ich nun gegenüber von Kellin draußen auf der Wiese. Er selbst trug sportlichere Kleidung und in dem Oberteil sah ich seine muskulösen Arme und bekam es mit der Angst zu tun. Wie sollte ich mich gegen jemanden wie ihn verteidigen? Er wog sicher doppelt so viel wie ich und sah aus, als wäre er nur aus Muskeln erschaffen worden. Mal ganz abgesehen davon, dass er das komplett Trainingsprogramm der Wächter hinter sich hatte, 300 Jahre an Kampftraining besaß, einst ein verdammter Pirat war, ein Mafiaboss ist und auch noch so wütend wegen Malias Verlust war, dass er tödlicher als der verfluchte Hulk war.

„Wenn du mich ansiehst wie ein Kaninchen einen Fuchs anschaut, bist du schon so gut wie tot", sagte er schnaubend. „Du musst mehr Körperspannung bekommen, konzentriert bleiben. Wie gut ist deine Ausdauer?"

Ich lachte los. Meine Ausdauer? Er hatte gesehen, wie ich rannte.

„Ich vermute, das heißt schlecht."
„Ich bin im Irrgarten damals nicht weit gekommen, oder?"
„Das musst du verbessern. Ab jetzt gehst du joggen."

Ich verzog das Gesicht, wagte es aber nicht etwas dagegen zu sagen.

Das Training bestand bisher eher daraus, dass Kellin mir sagte, was ich alles falsch machte und an was es mir mangelte, im Grunde mangelte es mir an allem. Er ließ eindeutig seinen Frust an mir heraus, in dem er mich durchgehend indirekt beleidigte, aber immerhin musste ich nicht gegen ihn kämpfen...noch nicht. Laut ihm brauchte ich mehr Muskeln, eine bessere Haltung, musste konzentrierter sein, mich anders bewegen und ganz eindeutig brauchte ich mehr Ausdauer. Ich rannte deswegen Runden für Runden im Garten und lag irgendwann nur noch erschöpft auf der Wiese, wo Reed mich zum Abend hin fand.

„Ich würde sagen, mein Bruder hat dich ausgepowert. Ich dachte, ich wäre der einzige Mann, der das kann."
„Verfluchten Wentworths", schnaufte ich und er half mir aufzustehen.

„Du musst das alles lernen, Herzblatt. Ich weiß es ist anstrengend und du hast keine Lust, aber ich würde mich auch wohler fühlen, wenn ich wüsste, dass du dich wenigstens ein bisschen wehren könntest."
„Ich schaffe es niemals in so kurzer Zeit genug zu lernen."
„Mit der Einstellung nicht", sagte er und wollte mich zu sich ziehen, aber ich ließ es nicht zu. Ich war ganz verschwitzt und brauchte dringend eine Dusche, ehe ich von den Schmerzen meiner Muskeln umkommen würde.

„Hast du deine Leute geholt?", fragte ich ihn und lief ins Haus, wo er mich begleitete.

„Ja. Ich habe alles mit Kellins Leuten geklärt, sie werden schon irgendwie klarkommen. Sie sind froh, ein so hübsches Haus zu haben. Tausend Mal besser als jede Lagerhalle."
„Das glaube ich", schnaubte ich.



Daheim duschte ich erst einmal und wollte eigentlich schlafen, aber da es doch noch etwas zu früh war, Elin und Riley immer noch unterwegs waren, verbrachte ich Zeit mit dem Rest meiner Familie. Ich backte mit meiner Oma einen Kuchen, wie es sonst Dari machen würde, Acyn, der früher von dem Spaziergang zurückgekommen war und eigentlich mithelfen wollte, naschte ständig von der Schokolade, die zum Schmelzen da war, und unser Großvater saß auf einem Stuhl in der Nähe, schaute uns lieber zu, anstatt etwas zu tun. Ich war froh, dass Lilien und Cameron nicht hier waren. Es wäre besser, wenn ich sie erst einmal nicht ganz so oft sehen müsste.

„Junger Mann, wenn du weiter meine Zutaten isst, wird es Ärger geben", tadelte unsere Großmutter Acyn und schlug mit dem Küchentuch nach ihm.

„Ich will nur etwas Süßes, Oma", quengelte Acyn, als wäre er zehn und nicht Mitte 20.

„Du solltest einen Apfel essen", sagte ich und weil er mir daraufhin die Zunge herausstreckte, bewarf ich ihn mit einer Handvoll Mehl.

Schockiert sah er mich an, während sein Haar, Gesicht und seine dunkle Kleidung weiß wurden. Ich kicherte schamlos von dem Anblick und ehe unsere Großmutter ihn hätte stoppen können, war er bei mir, um mich ebenso mit Mehl zu bewerfen.

Meine Reflexe waren von dem Üben mit Kellin heute etwas gestärkt und so duckte ich mich, so dass ein Großteil gegen unsere Großmutter landete.

Ich musste nur noch lauter lachen und Acyn konnte sich nicht bremsen, auch wenn eine gewisse Furcht in seinen Augen aufblitzte.

Sie wirkte einen Moment erstarrt, als unser Großvater jedoch lachen musste, fing sie sich wieder und bewarf ihn zu unserem Erstaunen auch nur mit Mehl. Eine kleine Schlacht entstand, die sicherlich nicht angebracht war. Meine Großeltern vertraten eigentlich die äußerst strenge Regel, dass man nicht mit seinem Essen spielt. Irgendwas an der ganzen Lage, wie jeder Tag der letzte sein könnte, ständig irgendwer in der Familie in Gefahr war, hatte wohl die Regel heute kurz ins Vergessen geraten lassen. Wir waren für ein paar Minuten sorgenfrei. Kurz vergaßen wir, was alles los war, wie schrecklich einfach alles war, zumindest so lange, bis ich vor Acyn wegrannte und gegen Cameron knallte, der gerade in die Küche kam, verwirrt von dem Chaos war.

„Was treibt ihr hier?", fragte er und ich wich sofort von ihm weg.

„Eine kleine... Schlacht", sagte Acyn, der sich bewusst oder unbewusst vor mich stellte.

Cameron sah die Küche an, sah unsere Großeltern mit Mehl besudelt an, ehe er zu mir blickte, an Acyn vorbei.

„Könnten wir vielleicht reden, Alice?"

„Ich wüsste nicht, was wir zu bereden hätten", sagte ich kühl. Ich wollte nicht über seine Taten sprechen. Ich war noch nicht bereit, ihm einfach zu verzeihen, falls ich es denn je wäre.

„Bitte, lass es mich erklären und-" Er wollte an meinem Bruder vorbei und zu mir, aber Acyn ließ es gar nicht zu.

„Bleib wo du bist!", sagte er warnend. „Du bist vielleicht mein Cousin, aber ich breche dir den Kiefer, wenn du dich jemals wieder meiner Schwester näherst."
„Spiel dich nicht wie ein Beschützer auf, Acyn! Du hast selbst deine kleinen Geheimnisse! Jeder hier hat sie." Wütend sah Cameron meinen Bruder an, ballte die Hände zu Fäusten. „Ich will sehen, ob ihr euch alle noch dann so gehoben benehmt, wenn sie alles erfährt, und sie wird alles erfahren. Ihr glaubt doch langsam echt nicht mehr, dass diese Sache gut enden kann, oder?"

„Egal was du auch meinst, es ist mir egal", sagte ich nur halb ehrlich. Ich wollte gern alles wissen. Ich wollte endlich meine Neugier gestillt bekommen und alles wissen, aber da ich auch wusste, dass das Wissen mir schaden würde, wäre es besser, ahnungslos zu bleiben. Es gefiel mir nicht, aber alles zu opfern für eine Wahrheit, die mir dann auch nichts mehr bringt, wäre dämlich.

„Es ist dir egal? Ich glaube dir kein Wort, Alice. Du verdienst die Wahrheit, selbst wenn sie gefährlich ist, und du hast sie so lange und so hart gesucht, dass du ihr nicht mehr entkommen kannst." Mit den Worten marschierte Cameron davon und wir all sahen ihm etwas verdutzt nach.

Ja, so schnell konnte der Ernst des Lebens zurückkehren.

Wörter: 4288

Aloha :) Einen Tag Verspätung, sorry. Da ich leider beim vierten Teil nur langsam vorankomme, kommen hier nur noch höchstens einmal die Woche Updates. Ich hoffe das Kapitel hat euch gefallen xx

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