28. Ein Monat

"I don't pay attention to the world ending. It has ended for me many times and began again in the morning." ― Nayyirah Waheed

Ich war verwirrt, als ich in dem mittlerweile vertrauten Gästebett in Chris' Wohnung erwachte. Die Ereignisse der Vergangenheit schwirrten in meinen Gedanken umher. Der Ball, die Götter, mein Zusammenbruch. Für einen Moment drohte ich daran zu ersticken, da drohte ich wieder in einen Strudel gerissen zu werden. Ich ordnete sofort alles in mir, ging sicher, dass alle mentalen Kisten verschlossen waren, in denen ich jede noch so irreführende Halluzination weggesperrt hatte, so wie Reed es gesagt hatte. Meine Gedanken waren dadurch klarer, aber ich war immer noch überwältigt von dem Ausmaß dieses Chaos, dass ich so davon eingenommen worden war, beinahe daran zerbrochen wäre.

Es machte mir Angst.

Es machte mir Angst, weil ich es absolut nicht verstand. Was war geschehen? Wieso war es dieses Mal so viel schlimmer gewesen?

Ich blieb einen Moment einfach in dem Bett liegen und genoss die Ruhe um mich herum. Die Sonne schien leicht ins Zimmer, es war dadurch schwer zu sagen, wie spät es war, wie viel Zeit vergangen war, seit ich das Bewusstsein verloren hatte. Ich war nicht müde, aber wirklich wach und energievoll fühlte ich mich auch nicht. Wenn das alles erst einmal vorbei wäre, würde ich Urlaub machen. Dann würde ich Reed sagen, dass er mich ans Meer bringen soll, egal in welcher Zeit. Ich brauchte Frieden.

Die Türe zum Bad ging auf und ich sah lächelnd zu Reed, der nur in einer Boxershorts bekleidet in mein Sichtfeld trat, verwundert wirkte, dass ich wach war, jedoch schnell grinsen musste.

„Wie fühlst du dich?" Sein Ausdruck wurde besorgt und beinahe vorsichtig lief er zu mir, als hätte er Angst, ich könnte wegrennen, wenn er sich zu schnell bewegen sollte.

„Durcheinander, aber dein Tipp mit dem Wegsperren hat geholfen."
„Du darfst diese Dinge niemals herauslassen, verstanden?" Eindringlich sah Reed mich an und er setzte sich zu mir aufs Bett. „Das ist gefährlich, Alice. Zu viele Dinge zu sehen, lässt einen verrückt werden. Einzelne Bilder ab und zu sind normal, aber so viel auf einmal wie bei diesem Ball... das kann dich alles kosten."

So wie bei Grace? Ich sprach es nicht aus, wusste aber, dass er genau davor Angst hatte. Rowan hatte ihr einst irgendwas gezeigt, zu viel gezeigt und sie war danach nie wieder die Person gewesen, die sie einst war. Ich wollte nicht, dass mir das auch geschah, auch wenn ich nicht wusste, was all diese Bilder und Halluzinationen und Gedanken und Gefühle zu bedeuten hatten. Sie hatten mich regelrecht verschlungen und das aus dem nichts. In einem Moment war dieser Gott da gewesen und im nächsten...

„Wie geht es Sam?" Kaum erinnerte ich mich an seine Verletzung, war alles andere egal.

„Dem geht es gut. Hayden pflegt ihn gesund. Hast du mich aber verstanden?"

„Ja, ich werde nichts aus diesen Kisten herauslassen. Ich bin nicht irre", sagte ich. Es wäre schon sehr riskant, meine mentalen Sicherheitsmaßnahmen so außer Kraft zu setzen. Ich wollte nicht den Verstand verlieren. Natürlich wollte ich gern Antworten erhalten. Meine natürliche Neugier gefiel es nicht, das alles so ruhen zu lassen, aber es ging hier um meinen Verstand und der war mir doch ziemlich wichtig.

„Ich habe mich gesorgt. Du warst so... was genau ist überhaupt geschehen?" Er nahm meine Hand in seine, legte sich neben mich hin und ich kuschelte mich sofort an seine Seite.

„Ich habe Loki gesehen", murmelte ich und spürte, wie Reed sich sofort anspannte. Ich konnte seinen Herzschlag hören, der sich beschleunigt hatte. Offenbar hatte Sam ihm das nicht gesagt oder er hatte gar nicht gewusst, wer da vor ihm stand und ihn verletzt hatte. Wie sollte er auch? Wer rechnete schon damit, Göttern hier auf der Erde zu begegnen? Na gut, Reed hatte es. Woher auch immer...

„Was hat er gesagt?"
„Nichts. Er hat mich beim Lauschen erwischt und ist sehr bedrohlich geworden. Sam ging dazwischen und dann ging es mir plötzlich so schlecht."
„Wir hätten verschwinden sollen", murrte Reed. „Als ich Marcy gesehen habe, hätten wir gehen sollen. Am gleichen Ort wie Götter zu sein ist viel zu riskant."
„Woher wusstest du, wer sie ist? Und seit wann treiben sich Götter auf der Erde herum?", fragte ich neugierig und ich hörte ihn seufzen.

„Manchmal kommen Götter auf die Erde, zumindest damals. Ich habe dir doch von den Durchgängen der Welten erzählt. Diese existieren so nicht mehr, zumindest nicht mehr auf eine Weise, dass Götter wahllos durch die Gegend reisen könnten. Nicht dass sie es wollen würden. Es gab nur wenige von ihnen, die gern so in die Welt der Sterblichen gekommen sind."
„Wieso glaubst du, waren die beiden hier?" Laut ihm hasste Loki die Menschen. Wieso würde er sich dann unter sie mischen?
„Ich kann es dir nicht sagen. Ich wüsste es selbst gern, auch wenn ich Theorien habe", sagte er und ich dachte etwas über seine Worte nach, ehe ich auf einer meiner ersten Fragen zurückkam.

„Du hast noch nicht verraten, woher du Marcy so schnell erkannt hast." Ich hatte vielleicht erkannt, dass sie anders war, aber dass sie ausgerechnet Marcy die Göttin war, drauf wäre ich nie gekommen. Wie auch?
„Darf ich darauf wann anders antworten?" Lächelnd sah er zu mir hinab und ich zog die Stirn kraus.

„Wirst du das denn wirklich oder hoffst du einfach, dass ich es vergessen werde?"
„Ich werde es dir sagen, versprochen, aber ich warte auf einen passenderen Moment."
„Das klingt ja vielversprechend", murrte ich und er lachte leise, küsste meine Stirn.

„Ist es."

„Was habe ich so verpasst? Wie lange habe ich überhaupt geschlafen?"
„Einen ganzen Tag und während unserer Abwesenheit ist einiges los gewesen", sagte Reed und setzte sich wieder auf, was ich ihm gleichtat.

„Was ist geschehen?"
„Dein Bruder ist mittlerweile in den Heilkammern des Quartiers, wo er versorgt wird, und Elin ist gerade mit Acyn bei ihm", begann er und ich schloss vor Erleichterung die Augen, dass Riley so weit wohlauf war, dass er aus dem Krankenhaus raus durfte. Dann musste er wirklich über den Berg sein. Dann würde er bald wieder fit sein. Eine Sorge weniger.

„Ansonsten gibt es nur beunruhigende Neuigkeiten, dass offenbar Kinder entführt und tot aufgefunden wurden. Nicht nur hier, sondern auch in der Umgebung anderer Quartiere", sprach er weiter und meine Erleichterung verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war.

„Reiter?"
„Ich vermute eher Victoire Bardeaux. Sie ist bekannt gewesen, Kinder an die Götter geopfert zu haben. Es wäre zumindest ihr Stil. Es könnte auch jemand ganz anderes sein. Im Gefängnis gab es viele, die Kinder für ihre Zwecke missbraucht haben und die nun frei sind. Wächterkinder sind reine Machtquellen."
„Was wird dagegen unternommen? Gegen sie und die anderen geflüchteten Gefangenen?"

„Ich habe keine Ahnung. Wir stehen in keinem direkten Kontakt zu Warren oder anderen Quartieren. Irgendwas wird wohl getan, aber wie schnell man sie alle wieder einfangen kann, ist schwer zu sagen. Sie dienen zur Ablenkung und es scheint zu klappen. Das Quartier ist an allen Seiten geschwächt, ein Angriff der Reiter und Londons Quartier wäre endgültig ausgelöscht."

Diese Neuigkeiten entsetzten mich. Ich war heilfroh, dass Dari in Sicherheit und nicht in London war. Würde eine verrückte wie Victoire ihn aufsuchen und ihm was antun, würde ich es nicht verkraften. Mir gefiel es nicht, nichts machen zu können, um all diese Bedrohungen aufzuhalten. Leider musste ich mich auf ein Ziel konzentrieren und da Rowan das Hauptproblem war, würde ich meine ganze Kraft und Energie auf ihn fixieren.

„Was sind unsere Pläne?", fragte ich Reed und er schüttelte trübe den Kopf.

„Ich habe keine Ahnung. Die Vergangenheit wäre immer noch unsere beste Chance, nur müsste es anders angegangen werden, besonders wenn Götter im Spiel sind."
„Und uns läuft die Zeit davon", merkte ich an. „Rowan ist sicher wieder auf den Beinen, wenn wir alle es auch sind. Er wird kommen." Und er wird mich holen.

Ich erschauderte von der Aussicht, was er mir antun würde, wie es war in seiner Nähe zu sein. Ich bemühte mich jedoch stark zu wirken. Ich wollte Reed nicht in Sorge versetzen, was er sowieso längst war.

„Wir werden uns was einfallen lassen", sagte er, um mich aufzuheitern und zu beruhigen, aber ich sah ihm an, dass er nicht wusste, was wir noch tun sollten. Er sah mich an, als ob er bereit wäre, mich zu schnappen und mit mir in die Vergangenheit zu fliehen. Wir könnten das vielleicht, Malia aber nicht. Sie würde ewig vor ihm rennen müssen und er würde ihr alles nehmen. Jeden nehmen, der ihr auch nur irgendwie wichtig war.


Ich richtete mich etwas her, duschte und zog mir saubere Klamotten an, ehe ich zu den anderen in den Wohnbereich ging. Dawson und Chris zockten gerade irgendein Videospiel und Malia tuschelte leise mit Kellin in einer Ecke, wobei sie halb auf seinem Schoß saß und er mit ihren Haaren spielten, sie verliebt ansah. Wenn ich die beiden ansah, freute ich mich auf die Zukunft, egal wie ungewiss sie auch aussehen mochte. Ich hatte immer angenommen, dass sich das mit Reed und mir im Laufe der Zeit einpendeln würde, dass wir sicher noch verliebt waren und uns brauchten und uns gegenseitig guttaten, aber das der erste Schwung der großen Verliebtheit vorbei wäre. Malia und Kellin waren 15 Jahre zusammen und sie sahen sich immer noch an, als wäre es das erste Mal, als ob es nur den jeweils anderen geben würde.

Es klingelte an der Türe und aufgeregt sprang Chris auf.

„Das ist die Pizza. Ich habe einfach mal eine große für uns alle bestell. Ich hoffe das reicht für uns. Hayden und Sam sind ja nicht da und Holly isst keine Pizza."
„Wo sind die anderen alle?", fragte ich. Elin war bei Riley, Sasha und Harry waren sowieso nie da, doch wo war Teddy? Und wo war Holly?

Ich wollte mich schon neben Dawson auf das Sofa setzen, als Chris laut fluchte und ich mehrere Stimmen aus dem Flur hörte. Sofort war jeder auf den Beinen. Reed war so schnell an meiner Seite, dass ich leicht zusammenzuckte, als er seinen Arm um mich legte.

Chris kam gefolgt von Rowan und drei seiner Männer, darunter auch Marek, in den Wohnbereich zurück. Bei seinem Anblick spannte ich mich an und Reed ebenso. Dieser war vermutlich drauf und dran mit mir das Weite zu suchen, aber Rowan richtete seine Waffe direkt auf ihn. Ich wusste nicht, wer schneller wäre. Die Kugel oder Reed aber es zu riskieren wäre dämlich und wenigstens sah Reed das auch so, da er nichts wagte.

„Ich bin hier, um mein Eigentum zurückzufordern!", knurrte Rowan, der wohl keine Lust mehr auf Spiele hatte. Egal welche Verletzungen er auch davongetragen hatte, sie waren genug geheilt, dass er nun hier war und mich haben wollte.

Kurz fiel Rowans Blick auf Malia, die von Kellin regelrecht verdeckt wurde, ehe er zu mir zurück sah.
„Komm her, Alice! Dann wird es ganz schnell gehen."

Ganz schnell? Das klang sehr endgültig.

Als wüsste er, was ich dachte, grinste er, ehe er sagte: „Ich habe dich zu oft entwischen lassen. Ich sollte es mit dir beenden und mir alles nehmen, was du zu bieten hast, und dich dann an deinen geliebten Reed zurückgeben, egal in welcher Verfassung du dann auch sein magst."

Mein Herz zog sich zusammen, ich zitterte unmerklich. Ich wusste, was sein würde, wenn er mit mir fertig war. Entweder wäre ich tot oder ich würde es mir wünschen zu sein. Von mir würde nichts übrig sein, wenn er jedes Glück, jedes Gefühl, jede Kraft von mir genommen hätte und um das zu erreichen, würde er mich brechen müssen.

Die anderen Männer Rowans hatten ihre Waffen auch auf Reed und Kellin gerichtet. Offenbar war niemand sonst eine Bedrohung für sie.

„Reed", hauchte ich verängstigt, wollte nicht gehen, aber ein Körper zwang mich regelrecht und würde ich nicht gehen, würden hier am Ende alle sterben.

„Keine falschen Versuche. Die Kugel ist in deinem Kopf, bevor du verschwunden wärst", warnte Rowan Reed und die Aussicht, Reed könnte sterben oder verletzt werden, erfüllte mich mit Furcht. Ich riss mich deswegen schnell von ihm los, bevor er noch irgendwelche unüberlegten Handlungen ausführen könnte, und ich lief mit großen und doch sehr ängstlichen Schritten auf den Mann zu, der mich gleich umbringen würde.

Es war ein seltsames Gefühl so bewusst in den Tod zu laufen, vor allem, wenn man rein gar nichts dagegen machen könnte.

Wir hatten alles versucht.

Wir hatten gehofft, gesucht und auf Wunder gewartet, aber es war unmöglich Rowan zu entkommen. Er war ein verdammter Dämon, der nie aufgegeben hätte, und nun würde es enden.

Ich hatte gewusst, dass das hier geschehen würde, aber nun doch so plötzlich am Ende angekommen zu sein, war ein eigenartiges Gefühl. Ich hatte mich nicht einmal verabschieden können. Vielleicht war es besser so, Abschiede waren so schwer.

Rowan packte mich grob am Arm, drückte mich gegen die Wand und presste schon seine Lippen harsch auf meine, nahm mir einen kleinen Teil meiner Gefühle, zog sie gierig in sich ein und ich fühlte mich gleich so viel leerer, fühlt eine Welle des Schmerzes in meinem Körper, von der ich das Weinen anfangen musste, es gar nicht verhindern konnte.

„Wo willst du es beenden? Hier oder wo anders?", fragte Rowan mich, als er sich von mir löste. Seine Augen waren schwarz und Tränen liefen mir immer stärker übers Gesicht.

Ich hatte selten so eine Angst gehabt.

„Lass sie in Frieden!", zischte Reed wütend, der zwischen den Waffen und Rowan hin und hersah. „Nimm mich, aber lass sie in Frieden. Du kannst meine verdammte Seele haben, lass sie nur einfach in Ruhe!"
„Reed", schluchzte ich. Es sollte warnend klingen, aber ich war so aufgewühlt von diesem einen kleinen Moment, dass es mir nicht gelang. Ich klang eher erbärmlich.

„Ich will deine Seele nicht haben. Es gibt nur eine Seele, die die von meiner lieblichen Alice hier ersetzen könnte", sagte Rowan und sah dabei zu Malia.

„Vergiss es", schnaubte Kellin. Ich wollte auch gar nicht, dass Malia sich opfert. Sie hatte genug durchgemacht. Sie sollte nicht erneut zu ihm müssen.

„Es wäre ein sehr fairer Deal", sagte Rowan, der mich immer weiter gegen die Wand drückte. „Mehr als nur fair sogar, denn ich will Malia... für einen Monat."

„Nur?", fragte ich verwundert, meine Stimme war dabei eher ein Flüstern.

„Ein Monat, wo sie jedoch bei mir bleiben muss, nicht abhauen darf, nicht gehen darf. Ein Monat, mit mir allein und Alice ist frei."

„Abgemacht", antwortete Malia und entsetzt sah Kellin sie an.

„Bist du verrückt geworden?"
„Sie wird sterben!", zischte Malia und drückte sich an ihm vorbei.

„Also haben wir einen Deal?", fragte Rowan, wandte sich etwas von mir ab und seine Stimme klang gleich verführerisch.

„Malia!", sagte Kellin. Seine Stimme hatte einen verzweifelten Ton angenommen, er nahm ihr Gesicht in seine Hände und ich sah Tränen in seinen Augen. „Verlass mich bitte nicht. Du kannst nicht zu ihm gehen, du kannst das nicht tun."
„Ich komme doch wieder. Er wird mich nicht töten, er wird mich nicht verletzen. Sie würde aber sterben, ich kann sie nicht sterben lassen, Kellin. Du weißt, dass ich das nicht kann und du weißt, dass es der richtige Weg ist", sagte Malia leise und sie presste ihre Stirn gegen seine, ging dafür auf ihre Zehen.

„Du bist stark", sagte er, würde sie gehen lassen, würde sie nicht aufhalten können. „Sei stark und vergiss nicht, dass ich dich liebe... so sehr, Prinzessin."
„Ich liebe dich und ich komme zurück zu dir." Sie lächelte ihn an und beide küssten sich.

Ich wandte den Blick ab, sah zu Reed, der kaum glauben konnte, was hier geschah.

„Wir haben einen Deal", sagte Malia, die zu uns lief, nur Rowan ansah.

Ihr Blick war hart.

Sie sah aus, als ob sie bereit wäre, bis zum bitteren Ende zu kämpfen, als ob Rowan ihr nichts anhaben könnte, sie ihn tatsächlich nicht fürchten würde.

„Wunderbar", schnurrte dieser und sah zu mir. „War nett mit dir, Alice, aber für mich gibt es nur eine Noir." Wie aus dem nichts tauchte ein Vertrag in seiner Hand auf und zerfiel gleich darauf in Staub.

Ich eilte in Reeds Arme davon, wo dieser mich feste an sich presste, meine Stirn küsste und nicht so wirkte, als ob er mich schnell wieder loslassen würde.

Rowan und seine Leute gingen ohne noch irgendwas zu tun oder zu sagen und mit ihnen ging Malia, die ein letzten Mal zu Kellin sah, ehe Rowan sie mit sich nahm, ihr sonst was antun würde. Einen ganzen Monat lang.

Als die Türe ins Schloss fiel, sank Kellin auf die Knie, vergrub sein Gesicht in seinen Händen und keiner traute sich, ihn zu berühren oder anzusprechen. Ich konnte mir vorstellen, dass er gerade eine tickende Zeitbombe war.

15 Jahre hatte er sie beschützt und vor Rowan versteckt und nun war sie wieder bei ihm und das nur meinetwegen.

Ich fühlte mich elendig.

Erst als die Türe klingelte, wurde die Stille unterbrochen. Chris eilte zur Türe und der echte Pizzabote war da, aber keiner war mehr in Stimmung zu essen.

„Ich will nach Hause", sagte ich leise an Reed gerichtet, konnte das alles kaum fassen, konnte nicht fassen, was hier geschehen war und wie sehr wir versagt hatten. Ich lebte zwar noch und war endlich frei aber versagt hatten wir dennoch. Wir hatten Rowan gerade die stärkste Machtquelle gegeben, die er nur haben könnte. Wir hatte uns gerade eben alle verdammt.

Wenn ich nun aber nicht mehr vor Rowan fliehen musste und das Ende von uns allen schon so bevorstand, wollte ich wenigstens endlich heim. Auch wenn meine Eltern und Dari nicht dort wären, ich wollte zu dem Rest meiner Familie.

„Dann bringe ich dich nach Hause", sagte Reed, der dabei mitleidig zu seinem Bruder blickte, der sich auch weiterhin nicht rührte.



Ich hatte Elin informiert, was geschehen war. Reed hatte mit Hayden telefoniert und mit Sasha. Kellin war fort gewesen, als ich mit meinen gepackten Sachen zurück in den Wohnbereich gekommen war. Reed meinte, er würde ihn aufsuchen, sobald ich daheim wäre.

Er verabschiedete sich von mir vor meiner Haustüre und als ich eintrat, wurde ich schon von Acyn in die Arme geschlossen.

„Du bist hier. Du bist endlich wieder hier."
„Ich habe euch alle so vermisst", schluchzte ich und blieb in den Armen meines Bruders, bis meine Großmutter mich aus seinen Armen in ihre eigenen zog. Ich verbrachte sicher eine halbe Stunde im Eingangsbereich und umarmte meine Familie.

So gern hätte ich meine Eltern hier gehabt oder Dari und Riley, aber ich war dennoch glücklich, auch wenn ich nur am Weinen war. Ich weinte wegen der Leere in mir, ausgelöst von Rowan. Ich weinte wegen Malia, dass sie bei diesem Monster war und keiner was machen konnte. Ich weinte, weil ich einfach nicht wusste, was ich machen sollte. Ich war zu jung für all das. Ich war keine Heldin oder Kämpferin oder irgendwas Besonderes und doch hatte ich in den letzten Wochen so viel durchmachen müssen, hatte mit so einem Druck, so viel Verantwortung und so vielen Ängsten leben müssen, ich war einfach fertig.

Cameron und Lilien hielten sich im Hintergrund während der ganzen Zeit und es war gut so. Ich wollte keinen von ihnen sehen müssen. Ich würde ihnen das alles nicht verzeihen können... noch nicht zumindest Vielleicht irgendwann zu besseren Zeiten, aber derzeit traute ich keinen von beiden.

Als Cameron mich jedoch nach seiner Schwester fragte, erzählte ich alles, was gewesen ist. Er war entsetzt und Lilien auch. Jeder war entsetzt. Jeder wusste, dass wir verloren hatten.


Als Elin zurückkehrte und auch erfuhr, was geschehen war, sah sie mich bedeutungsvoll an. Sie hatte Malias Tagebuch gelesen. Sie wusste mehr über Malia in manchen Aspekten als die meisten in dieser Familie es auch nur ahnten. Rowan hatte Malia damals regelrecht unter Kontrolle gehabt. Er hatte sie mit Drogen gefügig gemacht, sie manipuliert, missbraucht und sie kaputt gemacht. Keiner konnte sagen, wie es nun sein würde. Es war viel Zeit vergangen seit damals. Ich hoffte, Malia wäre stark genug, sich gegen ihn zu widersetzen, aber einen Monat bei ihm zu sein war eine sehr lange Zeit.

„Glaubst du, sie wird es schaffen?", fragte Elin mich, als wir abends in unseren Schlafanzügen gehüllt auf meinem Bett saßen.

Es war schräg wieder hier zu sein.

Ich hatte nicht gedacht, je wieder zurückzukehren.

„Stark zu bleiben? Ich hoffe es. Sie wirkte auf mich stark, aber Rowan ist Rowan. Mich hat er nicht gefragt, ob ich Drogen nehmen will. Er hat sie mir einfach verpasst." Ich erschauderte von der Erinnerung an das ganze Zeug und wie wehrlos und schwach ich mich gefühlt hatte.

„Sie hat eine seltsame Bindung zu ihm", sagte Elin. „In ihrem Tagebuch hat sie ihn zu Beginn vor allem wie ihren Retter beschrieben, bevor ihre Meinung sich änderte, bevor sie wohl realisiert hatte, wie er wirklich ist, wie gefährlich und wie er sie manipulierte."

„Sie kennt ihn jetzt."
„Das muss nichts heißen. Sie war dreimal bei ihm. Sie hat vorher gewusst, wer er ist und was er ist und doch ist sie eingeknickt."
„Wir sollten wohl optimistisch bleiben", seufzte ich. „Kellin wird durchdrehen. Er wird keinen Monat durchhalten."
„Ich verstehe sowieso diese Abgrenzung nicht", sagte Elin nachdenklich. „Wieso nur einen Monat? Was gedenkt er zu erreichen?"
„Irgendwas wird es sein und das sollte uns Angst machen", merkte ich an. Dass er was plante, war eindeutig. Er glaubte dieses Ziel in einem Monat zu erreichen. Jetzt blieb nur die Frage, was dieses Ziel wohl sein würde.

„Malen wir den Teufel mal nicht an die Wand."

Elin quiekte erschrocken auf, als Reeds Stimme hinter ihr ertönte und sie fiel beinahe rückwärts vom Bett, hätte er sie nicht festgehalten.

„Das ist gruselig, wenn du einfach so auftauchst", sagte sie beleidigt und er grinste frech, setzte sich zu uns, wo er mir einen Kuss auf die Schläfe drückte.

„Tut mir leid. Ich hatte gehofft, Alice wäre allein."
„Ist das mein Stichwort zu gehen? Denn ich war eigentlich ja zuerst hier", schnaubte Elin.

„Du kannst bleiben so lange du willst", sagte Reed und begann mein Gesicht mit Küssen zu bedecken, verscheuchte Elin auf diese Weise.

„Ok, bevor ich auf den Boden breche, gehe ich. Seit bloß leise. Wenn ich euch höre, hört Acyn euch auch und vor dem müsste ihr mehr Angst haben als vor mir."

„Gute Nacht, Elin", sagte ich kichernd, da Reed nicht stoppte, mich mit Küssen anzugreifen.

„Ja, ja, gute Nacht", murrte sie und verließ das Zimmer.

„Das war nicht nett", sagte ich und schlug Reed spielerisch gegen die Schulter.

„Ich wollte dich für mich allein haben."
„Wir haben gerade über Malia gesprochen. Hast du was von Kellin gehört?"
„Er ist bei seinen Leuten. Ich treffe ihn morgen. Gerade sollte keiner ihn stören, ansonsten läuft man Gefahr, erschossen zu werden."
„Sicher plant er schon, wie er sie retten kann."

Reed schüttelte den Kopf. „Er weiß, dass es nichts bringt. Als ich bei ihm war ist seine mentale Verbindung zu ihr gerade zerbrochen. Er ist fast durchgedreht. Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn nach Jahren diese Bindung fort ist."
„Mentale Verbindung?" Ich zog die Augenbrauen in die Höhe und Reed wirkte einen Moment nervös.

„Wenn man einen Partner hat und die Bindung intensiv wird, bekommt man einen mentalen Zugang zum jeweils anderen."
„Wie Gedanken lesen?", fragte ich schrill und er lachte leise.

„So in der Art. Man kann es nur kontrollieren. Es ist mehr wie ein Tunnel, der Gedanken und Gefühle übertragen kann, wenn man es denn will."

„Aber wir haben das nicht", stellte ich fest. Ich konnte Reeds Gedanken nie lesen oder fühlen, was er fühlte. Ich konnte es nur erahnen, so wie bei jedem anderen Menschen auch.
„Nein", bestätigte er und zögerte kurz. „Ich kann dir nicht sagen, wieso. Ich weiß es nicht."
„Ist es denn so normal diese Bindung zu haben?", fragte ich und überlegte, ob Hayden oder Daisy je etwas erwähnt hatten.

Daisy hatte gespürt, als Hayden erschossen wurde und als er dabei war zu sterben, aber das konnte auch nur an der Bindung selbst liegen.

„Es kommt auf die Tiefe der Bindung an. Irgendwie sollte es vorhanden sein, aber je stärker man zusammen ist, umso stärker ist diese Verbindung."
„Woran könnte es dann liegen, dass wir keine haben?", fragte ich traurig und dachte automatisch an Grace. Lag es an ihr? Weil ich nur seine zweite Partnerin war? War die Bindung zwischen uns dadurch von Anfang an schwächer gewesen? Ich konnte es nicht wissen, für mich fühlte sich alles richtig an, aber vielleicht merkte er ja Unterschiede?

„Ich weiß es nicht. Ich habe es mich sehr oft gefragt, aber ich kann es nicht sagen."
„Vielleicht ist unsere Bindung ja kaputt", murmelte ich traurig. Die Leere, die Rowan mit diesem einen Kuss hinterlassen hatte, sie war immer noch da. „Vielleicht stimmt irgendwas nicht mit uns."
„So darfst du nicht denken", sagte er und drückte mich mehr auf die Matratze, rollte sich auf mich. „Wir sind perfekt zusammen. Alles zwischen uns ist perfekt und genauso, wie es sein soll. Scheiß auf diese mentale Bindung. Wir brauchen das nicht."
„Es verunsichert mich", sagte ich ehrlich und mir kamen die Tränen. Nicht wegen dieser Bindung, vermutlich eher, weil dieser ganze Tag mich so durcheinander machte.

„Soll ich dich ablenken?" Er lächelte mich sanft an und wischte mir behutsam mit einer Hand meine Tränen weg.

„Ich weiß nicht, ob Ablenkung hilft. Ich bin so... durcheinander. Ich hasse es, was er tut, was er machen kann."
„Er wird es büßen, das verspreche ich dir, aber lass mich dir was geben, lass mich dir ein paar Gefühle zurückbringen." Er küsste mich ganz sanft, beendete den Kuss jedoch meiner Meinung nach viel zu schnell wieder. Bevor ich mich seinen weichen Lippen hingeben konnte, war er bereits zwischen meine Beine hinab gerutschte und küsste meine Beine, die in der kurzen Schlafhose freigelegt waren.

„Was hast du vor?", fragte ich lächelnd und er sah unschuldig zu mir hinauf.

„Ich will dich nur verwöhnen, Herzblatt. Entspanne dich. Du weißt, ich bin großartig darin, dir beim Entspannen zu helfen." Er zwinkerte mir frech zu, ehe er vorsichtig meine Schlafhose nach unten zog, zusammen mit meinem Höschen.

Zärtlich küsste er meine Beine hinauf, streichelte meine Haut und ich ließ ihn gewähren, hatte nichts gegen diese Entspannung einzusetzen. Meine Beine klappten zur Seite, meine Augen fielen mir zu und ich legte meine Hände an seinen Kopf, streichelte sein Haar und atmete zittrig auf, als seine Zunge mich berührte, als er mich anfing zu lecken.

„Mehr", stöhnte ich leise, darauf bedacht, nicht zu laut zu werden. Es war nur so himmlisch, dass es schwer war. Die Leere in mir wurde erträglicher, mein Herz schlug schneller und mit viel mehr Kraft.

Ich verlor mich an Reed. Wie jedes Mal, wenn wir uns so nahe waren.

Mehr Mehr Mehr.

Ich brauchte mehr.

Jede Berührung seiner Zunge löste neue Empfindungen in mir aus, füllte etwas von der Leere, die Rowan in mir hinterlassen hatte. Er zwang meinen Körper zu fühlen, er zwang ihn so intensiv zu fühlen und ich musste mir feste auf die Lippe beißen, um mich laut zu schreien, als ich von Reed zu den Sternen befördert wurde.

Ich sah sie selbst mit geschlossenen Augen leuchten und tanzen und ich musste lächeln, als Reed noch während ich in diesem herrlichen Zustand war, wieder zu mir hinaufglitt, mich küsste, mich mit seinem Körper bedeckte und mir ein warmes Gefühl der Sicherheit schenkte.

„Ich liebe dich, Alice Noir. Und ich werde dir diese Welt zu Füßen legen."

Wörter: 4477

Aloha :) Ich hoffe es hat euch gefallen. Malia ist fort, denkt ihr, das war ein kluger Schachzug? Vermutungen darüber, was Rowan in diesem einen Monat planen könnte? Sonntag geht es weiter xx

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