27. Unter Feinden

"Your peace is more important than driving yourself crazy trying to understand why something happened the way it did. Let it go." - Mandy Hale

Mein Kopf konnte nicht begreifen, dass eine Göttin – dass vielleicht zwei Götter – hier auf dieser Feier waren. Den Zusammenhang konnte ich nicht verstehen. Wieso war Marcy hier? Ausgerechnet hier. Von allen Orten und Zeiten, die es gab, wie konnte es sein, dass sie genau hier war, wenn wir es waren? Wie hatte Reed sie überhaupt erkennen können? Wieso sah ich sie ab und zu in meinen Träumen? Irgendeinen Zusammenhang dafür musste es doch geben. Es konnte nicht sein, dass wir ausgerechnet hier so aufeinandertreffen. Es war des Zufalls zu viel.

Sie hatte mich erkannt. Sie hatte mich auf eine Weise angesehen, als ob wir uns kennen müssten und ich war etwas überfordert mit der Situation. Wären wir nicht so scharf darauf, Hinweise zu Rowan zu finden, wäre ich sicher aus dem Grübeln nicht mehr herausgekommen. Am liebsten wollte ich die Mission schmeißen und diese Marcy beobachten, mit ihr reden und herausfinden, was sie wusste. Träumte sie auch von mir? Sie war eine Göttin... schliefen diese überhaupt? Ich hatte keine Ahnung von Göttern, außer ihr war ich bisher nur Hades begegnet und dieser hatte eine komplett andere Ausstrahlung gehabt. Zu Marcy fühlte ich mich auf eine schräge Wise hingezogen, als ob sie ein sehr starker Magnet wäre, wollte ich zurück zu ihr, fast so als ob sie mir alle Antworten liefern könnte, nach denen ich mich so sehr sehnte.

„Vielleicht hält Rowan sich oben auf? Oder zumindest jemand, der mehr wissen könnte. Sicher werden wichtigere Gespräche etwas abseits vom Lärm geführt", vermutete ich leise, lenkte auf das Wesentliche zurück, bevor ich noch wirklich auf die Suche nach Göttern gehen würde.

Ich wollte es eigentlich gar nicht sagen müssen. Ich wollte Reed nicht zwingen, mehr von diesem Haus zu sehen als absolut notwendig. Nach oben zu gehen müsste sehr schlimm für ihn sein, egal wie anders dieses Haus mittlerweile auch aussehen mochte.

„Ich kann da nicht hoch", sagte er, klang sehr angespannt und gleichzeitig so, als ob er sich notfalls auf die Knie werfen und mich anbetteln würde, ihn nicht zu zwingen, wenn ich ihn fragen sollte. Niemals würde ich ihn zwingen. Er sollte nicht mit derart grausamen Erinnerungen konfrontiert werden müssen.

Ich nickte verstehend. „Wir teilen uns auf."
„Das ist lebensmüde", schnaubte er und zog mich dichter an sich.

„Hier ist keine Gefahr. Wir benehmen uns wie Gäste, gehen nur dorthin, wo andere Gäste sind, dann kann uns kaum etwas geschehen. Wir verschwinden, bevor irgendwas sein sollte und wenn ich auch nur den leisesten Verdacht schöpfe, Rowan zu sehen, renne ich."
„Mir gefällt es dennoch nicht."

Ich lächelte ihn sanft an. „Mir auch nicht, aber während Sam im Saal Ausschau hält, kannst du hier unten die anderen Zimmer absuchen und ich gehe hoch."
„Zehn Minuten. Nicht mehr. Wenn du eine Spur findest, kommst du zu mir, findest du keine, kommst du zu mir. Du wirst nicht allein in die Nähe von Rowan oder seinem Gefolge gehen, es ist zu riskant. Er wird dich erkennen. Er wird uns beide erkennen. Sam ist der einzige, der sich problemlos in seine Nähe begeben könnte."
„Ich weiß. Ich bin vorsichtig, versprochen. Sei du es einfach auch."

„Bin ich doch immer", sagte er lächelnd und küsste mich. Ich klammerte mich an ihn. Die Aussicht mich bei einer Feier von ihm zu trennen, missfiel mir. Die letzten Feiern waren immer schlecht geendet. Letztes Mal ist der Saal in die Luft gesprengt worden und ich war anschließend für Tage bei Rowan gewesen. Zuvor hatten Märtyrer angegriffen und Hayden wäre beinahe gestorben. Und bei der ersten Party hier in London hatte Scott Harvey versucht mich zu vergewaltigen und ich war nur entkommen, weil Kellin seinen Kopf zu Matsch zerschlagen hatte. Oh bitte, lass es jetzt besser enden. Auf noch mehr Drama konnte ich verzichten, ich wollte wenigstens ein einziges Mal normal nach Hause kommen.

Ich ließ Reed los und lief zur Treppe. Während ich die Stufen hinaufging, bekam ich ein ganz eigenartiges Gefühl, das mich fast dazu gebracht hätte, wieder umzudrehen. Mir war nicht wohl dabei, in diesem Haus zu sein. Mit dem Wissen, was hier drinnen mal geschehen würde, war mir leicht übel geworden und ich traute mich gar nicht, in irgendeines der Zimmer zu gehen, kaum war ich oben angekommen.

Ich sah den langen Gang vor mir an, der etwas schräg Vertrautes an sich hatte. Dieses verdammte Haus suchte mich fast schon genauso schlimm heim wie Reed. Benommen schüttelte ich den Kopf, versuchte mich auf wichtige Dinge zu fokussieren und sah mich genauer um. Hier hielten sich auch einige Gäste auf, die sich laut miteinander unterhielten, miteinander am Flirten waren und sich verliebte Blicke zuwarfen. Ich versuchte die Gespräche zu belauschen, etwas herauszuhören, das mir helfen könnte.

Ich beobachtete die Anwesenden, versuchte jemanden zu sehen, der möglicherweise Rowan in einer veränderten Gestalt sein könnte, aber keiner fiel besonders auf und jemand wie Rowan würde stark auffallen, da war ich mir sicher. Noch bevor ich Rowan gekannt hatte, hatte sein ganzes Erscheinen mir Angst eingejagt. Ich würde es merken, wenn ich ihn finde... hoffentlich würde er nicht merken, wenn er mich gefunden hat.

Ich lief deswegen zögernd weiter, bog im Gang nach rechts ab, anstatt weiter geradeaus zu laufen. Hier waren gleich weniger Gäste. Die laute Musik von unten war noch immer zu hören, aber nicht mehr ganz so penetrant. Es war einfacher einen klaren Gedanken zu fassen oder es wäre es, wenn ich vor Angst nicht so angespannt gewesen wäre. Es fiel mir schwer konzentriert zu bleiben, dennoch lief ich weiter, beobachtete, lauschte und hörte tatsächlich etwas. Nicht von einer der Gäste aus dem Gang, aber aus einer der geschlossenen Räume.

Ich sah mich zögernd um, da ich nicht beim Lauschen erwischt werden wollte, aber in meiner unmittelbaren Nähe befand sich nur ein Pärchen, das nur Augen für sich selbst zu haben schien. Ich näherte mich also weiter der Türe und presste mein rechtes Ohr an das robuste Holz. Es war nicht gerade einfach viel zu hören mit der Lautstärke im Haus, aber ich schnappte Fetzen auf. Interessante Fetzen.

„...er meinte, er würde kommen. Ich denke, er ist interessiert daran, das Mädchen zu treffen", sagte gerade ein Mann. Er könnte über jeden sprechen, aber irgendwas sagte mir, dass er Rowan meinte. Vielleicht hoffte ich es auch einfach nur. Ich wollte so dringend einen Hinweis aufschnappen, dass ich bereit war, in alles etwas hineinzuinterpretieren.

„Er nimmt sich zu viel vor... Götter sind kein leichtes Spiel... sein Tod sein." Den zweiten Mann zu verstehen war schwerer. Er sprach leiser, nuschelte mehr. Ich presste mich nur noch mehr gegen die Türe.

„Vertraue mir, mein Freund, keiner wird ihn so schnell umbringen können, er-"

Mehr hörte ich nicht, als mich plötzlich jemand von hinten packte, weg von der Türe gegen die nächste freie Wand zog und ich schon ein Messer an meiner Kehle spürte.

„Für wen spionierst du?"

Erschrocken sah ich den Mann vor mir an, der zu hundert Prozent auch ein Gott sei musste. Ihn umgab wie Marcy eine Art Schimmern. Er sah zu hübsch aus, um menschlich sein zu können, und seine Haut fühlte sich an, als würde sie aus Eis bestehen. Er war anders als Marcy, ihn umgab mehr Dunkelheit wie es bei Hades gewesen ist, auch wenn Hades und er kaum unterschiedlicher hätten sein könne. Bei Hades war der Raum in Flammen gestanden. Der Gott vor mir ließ alles um sich herum erfrieren.

Mit geweiteten Augen sah ich in das Gesicht des Gottes und versuchte schnell meine Gedanken zu ordnen. Er hatte ein Messer an meine Kehle gedrückt und die Klinge bohrte sich jetzt schon in meine Haut. Ich spürte, wie aus einer feinen Linie Blut quoll und mir wurde warm von dem Gefühl meines eigenen Blutes.

Oh fuck. Er würde mich umbringen. Er würde mich sowas von umbringen. Er könnte es mit Leichtigkeit tun. Was war ich schon gegen ihn? Er strahlte nichts als Macht und Kraft aus, daneben kam ich mir erbärmlich vor. Selbst wenn ich vor Schock nicht wie gelähmt gewesen wäre, hätte ich absolut nichts bewirken können.

Er glaubte, ich sei eine Spionin. Kannte er die Männer in diesem Raum etwa? Wusste er irgendwas wegen Rowan?

„Ich spioniere nicht", hauchte ich, traute mich nicht, mich zu ruckartig zu bewegen.

Er musterte mich daraufhin, als ob er mir tatsächlich glauben würde. Hatte meine Stimme so ehrlich geklungen oder wusste er einfach, wenn jemand log?

„Wer bist du?", fragte er mich, legte den Kopf leicht schief und sah mich genauso interessiert an wie ich ihn. Ihn hatte ich noch nie gesehen, zumindest glaubte ich es. Vielleicht hatte er sich auch schon in Träume von mir geschlichen, aber dann sicher nicht so oft wie Marcy.

„Du bist Loki", sagte ich. Reed hatte mich gewarnt, dass er hier sein würde und kaum hatte ich den Namen ausgesprochen, wusste ich, dass er es war, und in meinem Kopf zog ein Sturm auf.

Irgendwas stimmte nicht mit mir. Ich glaube das Halluzinieren anzufangen, nur sah ich nichts.

Der Schwindel überwältigte mich jedoch regelrecht und hätte in dem Moment Sam sich nicht bemerkbar gemacht und Loki die Klinge von mir gezogen, hätte ich mir mit meinem Sturz selbst die Kehle aufgeschnitten. Ich landete auf dem Boden, zu überwältigt von dem plötzlichen Schwindel, wie mein Kopf sich plötzlich ganz leer und voll zugleich anfühlte. Ich wollte nur nicht ohnmächtig werden, auch wenn es im Moment sehr verlockend klang. Sam hatte sich jedoch auf einen verdammten Gott gestürzt, da durfte ich nicht ohnmächtig werden.

Sam wollte gerade Loki entwaffnen, bekam das Messer jedoch in seine Schulter gerammt. Laut schrie er auf, ergatterte damit die Aufmerksamkeit ein paar nahestehender Gäste und sofort suchte Loki das Weite und die beiden Männer aus dem Raum neben uns traten auf den Gang, sahen zu uns. Ich hatte absolut keine Ahnung, wer sie waren, woher auch? Sie wirkten allerdings von meinem Anblick seltsamerweise überraschter als darüber, dass Sam blutend auf dem Boden lag. Mir war es gleich, ich interessiere mich nicht länger für sie.

„Geht es dir gut?", fragte ich bestürzt, stützte Sam, der seine Hand an die blutende Stelle drückte.

„Alles gut. Wir müssen nach unten. Ich sollte dich suchen. Du warst zu lange weg, Reed ist ganz panisch!"
„Und das zurecht", murrte ich, wollte ihn stützen, als er sich aufgerichtet hatte, aber der Schwindel wurde stärke. Ich schwankte zur Seite, knallte gegen die Wand und konnte mich gerade so auf den Beinen halten, weil genau da sich einer der Männer als Stütze anbot. Kaum berührte er mich jedoch, war es fast, als ob ich nicht länger ihn sehen würde, sondern pure Dunkelheit. Ich wich von ihm zurück, fiel nur fast wieder um und glaubte, mein Kopf müsste irgendeinen Schaden haben, aber da stimmte etwas nicht mit mir. Diese Begegnung mit Loki hatte in mir irgendwas gewaltig aus dem Gleichgewicht gerissen.

„Alice? Alles in Ordnung?"
„Nein", sagte ich ehrlich, hörte plötzlich alles wie in einem Rausch, als ob ich unter Wasser wäre.

In meinem Kopf flogen Bilder durcheinander, ich sah vor mir im Gang Grace vor einem Jungen davonrennen, lachend und voller Freude, ich glaubte die exotischen Blumen von der Wiese zu riechen, auf der ich Marcy in meinen Träumen sah. In der Ferne ertönte das laute Donnern eines Gewitters und ich hörte laut jemanden meinen Namen schreien.

Wieder und wieder.

Ich war wie gefangen in meinem Kopf und ich glaubte nicht mehr aus ihm herauszukommen, ich glaubte unter Wasser gedrückt zu werden, zu ertrinken, bis ich plötzlich die Augen öffnete und den Sternenhimmel sah.

„Alles ist gut. Alice, du musst dich konzentrieren", sagte Reed, der mich in seinen Armen hielt. Ich hatte keine Ahnung, wie wir aus dem Haus gekommen sind, wie ich in Reeds Arme gekommen bin, aber wir waren draußen, Sam stützen sich an Reed fest, der langsam einzuknicken drohte, von unserer aller Gewicht.

Ich sah über Reeds Schulter hinweg zurück zu dem Haus, in dem auch weiterhin ein wildes Treiben herrschte und wo ich für einen Moment glaubte, jemand würde aus einem Fenster im oberen Stockwerk zu uns sehen, nach uns rufen, auch wenn die Schreie nie zu uns hallten.

„Ich bin so durcheinander", sagte ich den Tränen nahe, schloss die Augen, wollte nicht noch mehr eigenartige Dinge sehen müssen. Ich verstand nicht, was geschah, wieso es so laut in meinem Kopf war, wieso ich all diese Dinge sah und hörte und fühlte. Das war nicht normal, so schlimm war es noch nie gewesen, was geschah nur mit mir?

„Du musst mir zuhören, Alice! Verschließe deinen Kopf. Du musst jetzt sofort alles wegsperren, verstanden? Vergrabe alles, was du nicht kennst, was nicht normal ist, was dir Angst macht und dich verwirrt in einer Kiste. Lass nichts raus, verstanden?"

„Wieso?"
„Weil du sonst den Verstand verlieren wirst, also sperr alles weg. Du musst alles wegsperren!", sagte er und ich kniff die Augen feste zu, versuchte auf ihn zu hören. Ich versuchte alles, was ich nicht verstand, was Teil irgendwelcher Halluzinationen war zur Seite zu schieben, in eine Kiste zu stecken. Noch während ich das tat, spürte ich, wie Reed mit uns zurückreiste. Offenbar war diese Mission vorüber. Es war besser so. Wir hatten nur leider versagt.

„Reed", schluchzte ich ängstlich von dem furchtbaren Gefühl durch die Zeit zu reisen. Ich presste mich nur noch fester an ihn, schrie. Zum Teil vor Angst, zum Teil weil mein Kopf mir wie ein Strudel vorkam, doch als wir ankamen, war es vorbei. Als wir ankamen, war endlich Ruhe eingekehrt.


Wörter: 2230

Aloha :) Und unser nächster Gott ist da. Ich hoffe es hat euch gefallen. Montag geht es weiter xx


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