2. Bedlam
"I always felt like I saw things differently. Saw things other people didn't." — Lois Lowry
Ich sah viele Momente meines Lebens, während ich schlief. Ich sah mich selbst als kleines Kind wieder, wie Acyn mir da das Fahrradfahren beibringen wollte. Ich sah den Tag, wo ich Elin kennen lernte, wir beide beim Nachsitzen in der Schule waren, weil wir unsere Lehrerin ausgelacht hatten. Ich sah, wie Daisy von Hades mitgenommen wurde, hörte mich schreien, als Hayden angeschossen wurde, ehe ich nur noch Reed sehen konnte. Da war nur Reed, der mich umhüllte, der mich einnahm und der mein Herz öfters gebrochen hatte als irgendwer es sonst je könnte.
Ich hatte mich geirrt. Damals hatte ich angenommen, mich zu verlieben würde bedeuten, wie Julia zu Enden, für einen Mann blind und naiv zu sterben, doch das hier war keineswegs Romeo und Julia, das hier war zu bitter für jede Liebesgeschichte. In einer Liebesgeschichte ging es immerhin um die Liebe des Paares zueinander, hier war nur ich das naive Stück, das sein Herz verschenkt hatte, während Reed die ganze Zeit das alles nur als Spiel betrachtet hatte.
Das war es, was ich sah. Als alles andere vorbei war, sah ich nur meine unendliche Liebe für Reed und wie egal ich diesem wiederum war.
Als ich meine Augen schließlich aufschlug und an die helle Zimmerdecke sah, da war ich nicht panisch, auch wenn ich es vermutlich sein sollte. Ich war in einer fremden Zeit, an einem fremden Ort und doch lag ich da, sah stumm nach oben und achtete nur auf das Gefühl meines schlagenden Herzens in meiner Brust. Wie skurril, dass es nach wie vor so gewöhnlich schlagen konnte. Ich hatte gedacht, es müsste längst in so kleine Stücke zerbrochen sein, dass ich selbst längst hätte zerbrochen sein müssen. Ich war stärker als ich dachte. Ich unterschätzte meine eigene Kraft so oft, so oft glaubte ich nichts bewegen, nichts bewirken zu können, doch ich lebte, ich stand auf, ich kämpfte und es würde immer so weitergehen.
Gerade jetzt müsste ich mit dem Selbstmitleid endlich aufhören. Wenn ich leben wollte, wenn ich auch nur den Hauch einer Chance haben wollte irgendwas zu bewegen, dann müsste ich anfangen, an mich zu glauben und für mich selbst zu kämpfen. Ich wäre die einzige Person, die mich retten könnte. Die Zeit der edlen Ritter war vorbei. Ich war keine verdammte Disney-Prinzessin, so wie Reed es immer behauptete. Ich war so viel mehr als das.
„Du bist also wach."
Ich drehte meinen Kopf zur Seite, sah zu einer fremden Frau, die in einem Bett neben meinem lag und mich angrinste.
„Wer bist du?"
„Du bist direkt, gefällt mir", lachte die Frau, setzte sich aufrecht hin und präsentierte beim Lächeln ihre schiefen Zähne. Sie wirkte etwas mitgenommen, hatte wirres Haar, spröde Lippen und feine Aknenarben im Gesicht, dennoch wirkte sie hübsch wenn sie lächelte. Sie wirkte so lebensfroh.
„Ich hatte schon Angst gehabt, du wärst die nächste Irre oder eine, die gar nicht redet und sich am Ende nachts erhängt wie deine Vorgängerin."
„Meine Vorgängerin?", fragte ich, setzte mich nun aufrecht hin und sah mich in dem Zimmer um, wo lediglich unsere beiden Betten standen und zwei Nachttische. Auf einer der Tisch neben mir stand ein Krug mit Wasser, die Fenster waren vergittert, wirkten dreckig und ließen kaum Sonne in den Raum, der dadurch recht trist wirkte. Vermutlich würde er das auch mit mehr Licht sein.
Die Wände waren weiß und teilweise hatte jemand an ihnen mit Farbstiften herum gemalt. Was war das für ein Ort?
„Ja, meine vorherige Zimmergenossin. Sie war nur zwei Tage da, hat nur geweint und geschrien. Ich bin eigentlich ehrlich froh, dass sie es beendet hat. Wenigstens konnte ich dann wieder schlafen", sagte die fremde Frau schulterzuckend.
„Wo sind wir?", fragte ich, hatte eine ungute Vermutung. Ich erinnerte mich an meinen kleinen Unfall, wie die Leute sich um mich versammelten... ich erinnerte mich an die Person, die unter den Schaulustigen gewesen ist. War das nur eine Einbildung gewesen? Es musste eine gewesen sein. Helena Aasen, die Mutter von Grace, hatte unmöglich da sein können. 1910 lebte sie gar nicht mehr. Es musste also eine Halluzination gewesen sein. Eine Halluzination, die mich richtig in Angst und Schrecken versetzt hatte.
Es war wenig verwunderlich, dass ich so reagiert hatte. Ich war völlig durch den Wind gewesen, nachdem, was man mir angetan hatte. Also hatten Reed und Kellin mich aber immerhin nicht bekommen, dafür war ich nun wo anderes gelandet und eine Stimme in meinem Kopf verriet mir, dass es mir nicht gefallen wird hier zu sein.
„Bedlam natürlich", sagte sie und ich stöberte in meinem Kopf nach einer Zuordnung des Wortes.
Bedlam. Ich hatte hierüber tatsächlich gehört. Der Begriff sagte mir etwas und versetzte mich in Schock. Er versetzte mich so sehr in Schock, dass mein Körper sich anspannte, ich für einen kurzen Moment aufhörte zu atmen und glaubte, das alles würde tatsächlich ein nie endender Albtraum sein.
„Bethlem Royal Hospital", sagte ich. „Eine Psychiatrie."
„Irrenanstalt oder Heilanstalt, wie man es hier gern sagt", sagte die Frau, erhob sich und lief gehüllt in einem weißen Nachtkleid zur Türe, klopfte an diese, da sie wohl abgeschlossen war und obendrein nicht aus Holz, sondern Eisen zu bestehen schien. Wie hatte ich hier bitte landen können? Das ergab doch überhaupt keinen Sinn. Wieso schickte man mich an den Ort?
„Wieso bin ich hier?", fragte ich, sprang vom Bett auf, sah, dass ich auch nur ein Nachtkleid trug.
„Bist wohl etwas durchgedreht auf offener Straße, meinst verfolgt zu werden. Ist hier kein sonderlich ansehnlicher Ort, aber das Essen ist ganz gut, du musst nur die Verrückten ignorieren", sagte sie lachend und ich hörte, wie die Türe aufgesperrt wurde, sah zu einer breitgebauten Frau, die streng wirkte, eine Haube auf dem Kopf trug.
„Was wird das schon wieder, Andrea?", fragte die Frau schnippisch und meine Zimmergenossin, Andrea, deutete auf mich. „Sie ist wach", sagte sie enthusiastisch, während ich sofort nähertrat.
„Das hier ist ein gewaltiger Irrtum. Ich gehöre hier nicht her!"
„Aber natürlich doch. Leg dich wieder hin, du bist noch ganz verwirrt von deinem kleinen Unfall."
„Ich bin nicht verwirrt, ich bin nur verloren gegangen, ich muss nun aber wirklich gehen", sagte ich, wollte zum Quartier, wollte irgendwie in Sicherheit und gewiss nicht in einer Heilanstalt sein, nicht in dieser Zeit. War das schon die Zeit, wo man in den Gehirnen von den Leuten Löcher bohrte, oder kam diese erst später?
„Keiner vermisst dich, mein liebes Kind, und nun leg dich wieder hin oder ich werde dich ans Bett festbinden!", sagte die Frau unfreundlich und ich wollte gern weiter mit ihr streiten, doch mir war bewusst, dass ich an so einem Ort, zu dieser Zeit keine Rechte besaß. Ich würde niemanden verklagen können, die würden mich hier mit sonst was ruhigstellen und ich fürchtete mich etwas davor. Wie sollte ich hier raus, wenn sie mir nicht einmal zuhören wollte?
„Keine Sorge, ich würde dich vermissen, wenn du wieder gehst", sagte Andrea, während die Frau uns wieder allein ließ, die Türe hinter sich schloss.
Mein Herz rutschte mir in die Hose von allem, das hier vor sich ging. Es war so surreal, doch ich war wirklich an diesem Ort, in dieser Zeit, hatte alles und jeden auf ewig verloren und nur der Gedanke an meine Familie, dass ich keinen von ihnen jemals wiedersehen würde, es zerbrach mein Herz.
Erschöpft setzte ich mich zurück auf mein Bett, ignorierte Andrea, die mir irgendwas über die anderen Patienten erzählte. Es war mir gleich. Nichts war von Bedeutung, ich würde hier nicht herauskommen, würde nicht nach Hause kommen und vielleicht sollte ich froh sein. Hier würde ich wenigstens leben, hier würde ich nicht Reed dabei verhelfen, seine kranken Pläne in die Tat zu umsetzen. Ich würde leben, vielleicht an einem grauenvollen Ort, doch ich dürfte leben, hatte entkommen können, anders als Malia.
Nachts schien es am schlimmsten. Wenn es dunkel war, alles schlafen sollte, dann herrschte keine Stille im Haus, dann hörte man ihre Rufe. Durch das ganze Gebäude hörte man ihr Weinen, das Geschreie, und vermischt mit dem pfeifenden Wind, der durch die Türritzen und undichten Fenster wehte, hatte man das Gefühl, mitten in einem Horrorfilm gelandet zu sein. Ich wünschte mir schon regelrecht einer meiner Halluzinationen herbei, diese waren wenigstens im Gegensatz zu dem hier in der Regel friedlicher.
Ich versteckte mich unter meiner dünnen Decke, während ich versuchte, den Lärm auszublenden, hörte Andrea im Schlaf Dinge murmeln und lenkte mich ab, in dem ich mir versuchte vorzustellen, was meine Familie gerade tat oder eher in meiner echten Gegenwart tun würde. Hatten sie mich aufgegeben? Würde meine Großmutter nun mein Zimmer wie eine Grabstätte unberührt oben verwahren? War Dari sehr traurig? Ich kam mir schlecht vor sie alle so zu beunruhigen, so traurig zu stimmen, doch ich würde nichts daran ändern können, egal wie sehr ich es auch wollte.
„Du bist wie ich, nicht wahr?"
Verwirrt zog ich meine Decke etwas hinab, sah zu Andreas Bett, wo diese wach zur Seite gedreht lag, mich anblickte.
„Wie du?", fragte ich, verstand ihre Frage nicht so recht.
„Du bist anders als normale Menschen, so wie ich es auch bin", erklärte sie sich und ich schwieg. Was sollte ich dazu schon sagen? Ich war anders als normale Menschen, doch was genau sie war, wusste ich nicht.
„Ich sehe es. Ich kann in die Leute sehen und du... du bist nicht normal. Dich umgibt ein Schein", sagte sie, klang richtig ehrfürchtig dabei und ich setzte mich aufrecht von ihren Worten hin.
„Ein Schein?"
„Ich sehe dich und doch sehe ich noch etwas anderes in dir... jemand anderes. Ich sehe so viel Macht in dir. Du leuchtest wie ein gefallener Stern", sagte Andrea und ich blinzelte ganz verwundert. Jemand anderes? Ok, sie war eindeutig nicht ganz dicht im Kopf.
„Und das kannst du nur bei mir?", fragte ich dennoch normal nach, wollte sie sicher nicht verärgern.
„Es gab noch andere, aber ich habe schon lange niemanden mehr getroffen, vor allem niemanden, der eine so starke Ausstrahlung besitzt wie du", erklärte sie sich, setzte sich nun auch aufrecht und wirkte ganz aufgeregt.
„Hat man dich deswegen eingesperrt? Weil du Dinge siehst, die andere nicht sehen?", fragte ich sie und sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin wie du etwas verloren gegangen und ehe ich mich versah, war ich hier. Ich will nur nach Hause dürfen", gestand sie mir und mitleidig sah ich sie von ihrem traurigen Ausdruck an. Krank hin oder her, sie schien das hier nicht zu spielen, vermisste ihre Heimat und gern wüsste ich, ob man auch nach ihr sucht oder ob sie eine weitere verlorene Seele wäre, so wie ich es war. Mich suchte auch keiner oder zumindest würde mich keiner hier finden.
„Vielleicht wirst du das irgendwann", sprach ich ihr gut zu, auch wenn ich nicht wusste, ob Leute wie wir zwei etwas wie ein Happy-End haben würden.
„Ich glaube nicht. Ich kann nicht nach Hause. Er würde mich nur umbringen. Hier bin ich sicher. Hier bin ich keine Bedrohung für ihn und er wird mich in Ruhe leben lassen. Man hat mir gesagt, dass wenn er mich nicht sieht, er mich auch nicht suchen wird."
„Von wem sprichst du?" Neugierig sah ich sie an und sie musterte mich einen Moment still.
„Glaubst du an die Götter?"
Oh, das konnte ja nicht gut werden.
„An welche?"
„An alle."
War sie eine Eingeweihte?
„Mehr oder weniger. Ich habe einen Gott bisher gesehen, also wird es die anderen vermutlich auch irgendwie und irgendwo geben müssen."
„Du hast einen gesehen?" Ehrfürchtig sah sie mich an und umklammerte ihr Kissen, als wäre es ein Teddybär.
Ich würde ihr lieber mal nicht sagen, welchen Gott ich gesehen hatte. Beim Erwähnen Hades' würde sie vermutlich durchdrehen.
„Hast du denn schon welche gesehen?", fragte ich sie deswegen leise, lenkte von mir etwas ab und versuchte gleichzeitig herauszufinden, woran sie glaubte, wie viel sie wusste. Meine Brüder hatten mir von Leuten wie ihr erzählt. Wächter, von denen keiner weiß. Sie kriegen ihre Kräfte, wissen nicht, was los ist, und drehen durch. Vermutlich hat man die Leute damals dafür härter bestraft und weggesperrt, so wie Andrea hier. Würde das Quartier ihr helfen, wüssten sie von ihr?
„Ich glaube manchmal, ich war irgendwann selbst eine Göttin", murmelte Andrea leise und legte sich wieder hin.
„Und jetzt bist du keine mehr?"
„Nein, jetzt bin ich verloren."
Am nächsten Tag wurden wir endlich aus unserem Zimmer gelassen. Wir mussten uns in einem großen Waschraum mit einem Haufen anderer Patienten mit eiskaltem Wasser waschen. Ich fror fürchterlich, während ich versuchte, mich etwas aufzufrischen, sah unsicher zu den vielen anderen Frauen um mich herum. Die meisten schwiegen, wuschen sich einfach und fertig, andere führten Selbstgespräche, anderen sahen sich um, als ob jemand sie verfolgen würde, andere wirkten wiederum recht geladen, suchten Streit mit jedem, der sie etwas zu lange blöd ansah und leider sah ich so ziemlich jeden hier blöd an.
Ich fühlte mich eben super unwohl umgeben von all den Fremden, an diesem merkwürdigen Ort, in dieser fremden Zeit.
„Oh sieh an, da hält sich jemand für was Besseres", machte mich eine großgewachsene Frau plötzlich harsch an, die ich bis gerade eben noch neugierig angesehen hatte. Sie könnte so alt wie meine Mutter sein, nur war sie alles andere als der mütterliche Typ.
„N-Nein", stammelte ich leicht überfordert, wollte sicher keine Probleme machen. Ich konnte ja kaum meine Kräfte hier anwenden, um mich zu verteidigen, dann würde ich sicher nie wieder von hier rauskommen, ganz im Gegenteil. Am Ende holt man die Kirche dazu, weil man denkt, ich wäre von einem Dämon besessen und dann würde es sicher alles andere als witzig werden. Dann bohren die mir ganz sicher ein Loch in den Kopf.
„Du denkst, weil du neu und jung und hübsch bist, dass du mehr wert bist als wir anderen, aber dein Volk ist Dreck an diesem Ort. Du bist doch sicher auch nur eine von diesen spanischen Huren, nicht wahr?"
„Ich bin keine Spanierin und auch keine Hure", sagte ich, versuchte standhaft zu wirken, was schwer war. Sie überragte mich um mehr als einen Kopf, wirkte stärker als ich und ich sah leicht panisch zu den Wachen, die bisher mit anderen der vielen Patienten zu kämpfen hatten, eine gerade davon abhielten, sich nackt davon zu schleichen.
„Siehst aber nach einer aus. Ich kann deinesgleichen von Meilen Entfernung riechen", sagte sie, rümpfte dabei angewidert die Nase und leicht schockiert sah ich sie an, doch das war alles noch schlimmer, als ich es geahnt hätte.
„Ok, wir können das auch auf eine nicht rassistische Weise klären..."
„Was hast du gerade zu mir gesagt?", fragte sie laut und ehe ich mich versah, hatte sie mich schon mit voller Wucht zu Boden geschubst, wo ich kurz glaubte, mir meine Handgelenke gebrochen zu haben von dem schwachen Versuch, meinen Fall zu federn.
Ehe ich richtig über Schmerzen nachdenken konnte, war sie schon über mich gekauert, wollte mir eine verpassen, wo ich mich instinktiv wegduckte, ihre eine zur Faust geballte Hand ergriff und sie gleich darauf zum Schreien brachte. Ohweh, nicht das schon wieder. Es rettet mir vielleicht den Hintern diese Kraft zu haben, doch es brachte auch sehr viele Fragen auf, wenn ich Leute mit einer Berührung Verbrennungen zufügen konnte.
„Auseinander!", schrie einer der Wachen, die auf uns zu rannte, während meine Angreiferin mich entsetzt ansah, ihre von Brandblasen übersäte Hand festhielt.
„Sie ist ein Monster!", kreischte sie panisch und beunruhigte die anderen Patienten, die anfingen, zu schreien oder panisch durch den Waschsaal zu rennen.
„Ich habe nichts getan!", verteidigte ich mich, bemerkte, wie Andrea mich aus großen Augen ansah. Sie hatte vermutlich alles gesehen und kam aus dem Staunen kaum mehr heraus.
„Sie hat meine Hand verbrannt, sie ist eine Hexe!", schrie meine Angreiferin, als ich schon grob auf die Beine gezogen wurde, wo mir auffiel, dass die Wachen entsetzt zu der Verletzung an der Hand der Frau sahen.
Oh, ich war am Arsch.
„Ich war das nicht! Sie hat mich zuerst angegriffen", schrie ich, sah nur wie einer der Helferinnen mit einer Spritze auf mich zulief, die brutaler aussah als jede Spritze, die ich gewohnt war. Instinktiv begann ich mich zu wehren, schrie, doch keiner ließ von mir ab. Drei Wachen hielt mich fest. Ich spürte einen fürchterlichen Schmerz an meinem Hals, fing gleich darauf an, alles verschwommen zu sehen.
Ich wehrte mich nicht mehr, sah nur zu Andrea, die ganz kurz nur nicht mehr wie Andrea aussah, eher wie eine sehr düstere Version von sich selbst. Es war, als ob ich kurz verstehen würde, was sie letzte Nacht mit Schein gemeint hatte. Ich sah auch einen Schein in ihr, nur war das kein Licht eines gefallenen Sterns. Es war mehr wie ein furchtbar dunkler Schatten, der sie umhüllte. Ich konnte leider kaum darüber nachdenken, alles schien mir zu entgleiten und verfiel in eine tiefe Dunkelheit.
Ich glaubte kaum weg gewesen zu sein, als ich meine Augen ganz benebelt wieder öffnete. Über mir war einer der Pflegerinnen gebeugt, die mich wachrüttelte, eindeutig zu früh, da ich mir immer noch ganz benommen vorkam. Mein Magen drehte sich, so schwummerig war mir und ich glaubte mich übergeben zu müssen, wenn das Drehen nicht bald aufhören würde.
„Na los, jemand will dich sehen!", sagte sie harsch, zog mich an meinen Armen hinauf. „Zieh dir was an und hop. Ich warte vor der Türe!"
Sie ließ mich los und ich flog zurück aufs Bett, war so froh, dass Andrea im Zimmer war, die mir half, mein Nachtkleid überzuziehen. Da war kein Schatten mehr um se herum. Vermutlich hatte ich nur wieder halluziniert.
„Die werden dich umbringen", sagte sie besorgt. „Sie wissen, wer du bist. Wenn das die falschen Leute erfahren, wird man dich abholen."
Ich verstand nicht, wovon sie sprach, was sie meinte. Mein Kopf war wie Watte. Ich wollte nur schlafen. Ich brauchte Schlaf.
Oh bitte, bitte, bitte, lasst mich schlafen.
Leider wurde daraus nichts. Andrea führte mich zur Türe, wo die Pflegerin mich grob am Arm packte, mit sich zog und ich torkelte ihr eher hinterher, als wirklich zu laufen.
Ich wusste gar nicht, wohin sie mich brachte, wer mich sehen wollte. Eigentlich wollte ich nur schlafen, fand es schwer, die Augen offen zu halten, doch gleichzeitig wollte irgendwie auch wach bleiben dürfen, nicht mehr unter der Wirkung dieser Spritze stehen müssen. Was für ein Zeug hatte man mir da gegeben? Das war keine normale Betäubung, aber gut, das war 1910. Hatte man da nicht auch noch Dinge wie Koks als gewöhnliche Medizin eingenommen? Andreas Worte schwirrten während des Weges über wie ein böses Omen in meinen Gedanken umher. Wussten diese Leute wirklich, wer ich war? Würde man mir dann nicht helfen? Nein, wenn sie mir helfen wollten, würden sie mich nicht so behandeln. Das hier war nicht gut. Ganz und gar nicht gut sogar.
„Tut mir leid für das Warten, Sir. Sie ist keine einfache Patientin", sagte die Helferin deutlich netter und kicherte dabei wie ein junges Schulmädchen, als wir einen Raum betraten und ich es sofort spürte.
Die Anziehungskraft, die Bindung.
Reed.
Er war hier.
Er hatte mich gefunden.
Nein!
„Was ist mit ihr?", fragte Reed, klang kühl und ich konnte ihn nun auch endlich ausmachen. Passend in einem vornehmen Anzug gekleidet, die Haare ordentlich zur Seite gekämmt stand er da, musterte mich sorgenvoll.
„Sie wurde für unsittliches Verhalten etwas ruhiggestellt, aber..."
„Wie lange hält das an?", fragte Reed und ich wollte mich von der Frau reißen, musste dringend fort. Ich konnte hier doch nicht bleiben. Er würde mich mitnehmen, töten. Nein, ich musste weg, wäre wohl wirklich nirgends sicher vor ihm.
„Sicher nicht mehr sehr lange", sagte die Frau zuversichtlich. „Aber wir werden uns bestens um sie kümmern und..."
„Nein! Ich nehme sie mit!", sagte Reed, schien eindeutig keine andere Antwort zu dulden.
„Ich will nicht mit dir mit", murrte ich ganz benebelt.
„Sie wollen sie mitnehmen?", fragte die Frau sichtlich überrascht. „Ich bin mir sicher, ein Mann wie Sie haben Besseres zu tun, als sich mit einem Mädchen wie ihr zu plagen. Bei uns wird sie gut versorgt werden."
„Ja, ich sehe, wie sie versorgt wird", merkte Reed fast knurrend an, kam näher und ich riss mich panisch davon angetrieben nun gewaltsam los, fiel gleich zu Boden ohne die Stütze. Ich krabbelte auf dem Boden weg, wollte zur Türe, wollte fort, nur war ich zu müde und klappte erschöpft zusammen, wo Reed sich schon zu mir bückte.
„Ganz vorsichtig, Herzblatt", sagte er, umklammerte mein Gesicht und ich wollte ihn zu gern schlagen, ihn anschreien, doch ich war zu wirr, zu verletzt und seine sanfte Stimme zu hören, so behutsam von ihm berührt zu werden, tat zu weh.
„Nein", schluchzte ich leise, als er mich einfach hochhob, mein Weinen ignorierte.
„Ich nehme sie mit mir", sagte Reed und mehr bekam ich schon gar nicht mehr mit. Mein Kopf schaltete wieder ab, tauchte alles ins Dunkle.
Wörter: 3401
Aloha :) Ich hoffe es hat euch gefallen. Ein etwas düsterer Beginn, aber dabei bleibt es ja nicht. Ich habe nun auch zu Beginn der Geschichte ein paar Bilder und eine kleine Charakterübersicht hochgeladen für alle, die das interessiert. Freitag geht es weiter xx
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