17. Das Haus

"Behind every exquisite thing that existed, there was something tragic." - Oscar Wilde

Reed war überraschend schnell bereit gewesen, sich mit uns zu treffen, um Kellin aufzusuchen. Damit nicht alle dabei sein mussten und Kellin sich nicht gleich eingeengt fühlen würde, würden nur Reed, Hayden, Elin und ich uns mit ihm treffen.

Sam würde bei Chris bleiben, was Hayden nicht sonderlich gefallen hatte. Vielleicht hatte er Angst, dass sein Exliebhaber und er sich in die Haare kriegen könnten oder dass peinliche Details ihrer früheren Romanze aufgebracht werden. Mir wäre es zumindest unangenehm gewesen.

Als Ort hatte Reed neutralen Boden gewählt und so trafen wir uns wie damals, als er und ich das letzte Mal Kellin heraufbeschworen hatten, in der Turnhalle unserer Schule. Um diese Zeit und in Anbetracht des Angriffs war das Gebäude leer. Als wir durch den Hintereingang die stickige Halle betraten, wartete Reed bereits auf uns.

Ich konnte nicht anders und musste auf ihn zulaufen, wo ich mich halb in seine Arme warf, kaum sah ich ihn. Mir war es gleich, was Elin und Hayden sich dachten.

„Ich habe dich vermisst", sagte Reed zärtlich und küsste mich sanft und verhältnismäßig züchtig, wofür ich dankbar war. Ich hätte ihn nur schwer zügeln können und das hätten wir müssen, wenn die anderen zusahen.

„Ich dich auch", sagte ich ehrlich und er strahlte mich förmlich an, ehe er an mir vorbei zu den anderen sah.

„Das ist also Elin. Ich bin erfreut, dich persönlich kennen zu lernen."
„Ich nicht", schnaubte meine Freundin und verschränkte die Arme vor der Brust, funkelte Reed auf eine Weise an, die neu war. So hatte ich meine beste Freundin noch nie gesehen und Hayden amüsierte es köstlich, da dieser breit grinste.

„Hallo, Bruderherz."
„Hayden."

„Na gut, bringen wir das hinter uns. Wie lockt man Kellin an?"
„Da er leider derzeit bezüglich Malia in der Vergangenheit ist und mir nicht verraten will, an welchem Ort er sich genau versteckt hält, müssen wir ihn zwingen, zu uns zu kommen. Es wird ihm nicht gefallen, aber anders geht es nicht."
„Können wir uns denn sicher sein, dass er in der Vergangenheit ist?", fragte ich. Er war immerhin hier gewesen, als die Reiter die Schule angegriffen hatten und als ich ihn zuletzt aufsuchte, war er auch hier.

„Wäre er hier, wüsste ich es. Dann hätte er es mir gesagt. Ich habe versucht ihn zu erreichen... keine Chance, er ist nicht hier. Er ist vermutlich bei Malia. Er lässt sie ungern lange allein und wegen des verdammten Kompasses, muss er immerzu mit ihr in Bewegung bleiben."
„Dann wird es ihn sicher wunderbar gefallen, was wir ihn fragen wollen", murrte Hayden.

Ja, das würde vermutlich nicht so ausgehen, wie wir es uns erhofften. Ich rechnete unsere Chancen nicht gut, aber wir mussten es wenigstens versuchen. Unser Vorteil wäre es, Kellin zu überraschen. Vielleicht würde er ja ausnahmsweise keine Waffe bei sich tragen, mit der er uns am Ende alle erschießt, weil wir seine Partnerin dazu bringen wollten, gegen Rowan anzutreten.

Wie das letzte Mal brauchte Reed mein Blut und so ließ ich meine verheilte Narbe an meinem Handgelenk nur mal wieder aufschneiden. Das Ding würde wirklich niemals abheilen können.

Kaum hatte er seine kleine Beschwörung aufgesagt, tauchte Kellin auch schon auf, nur dass er dieses Mal tatsächlich sehr unvorbereitet gewesen war.

Splitterfasernackt stand er wie die Götter ihn geschaffen haben vor uns und wirkte einen Moment mehr als nur verwirrt, so wie er uns alle irritiert ansah.

„Was für eine beschissene Scheiße soll das?"

„Oh du meine Güte", quiekte Elin, die mit großen Augen den nackten Kellin begutachtete. „Wenn alle Wentworths so bestückt sind, nehme ich es dir nicht übel, dass du Reed so begehrst."

„Ich kann nicht für Reed sprechen, aber das Prachtstück in meiner Hose ist zumindest keineswegs klein", sagte Hayden und ich rang regelrecht nach Worten.

Verlegen sah ich fort von dem nackten Mann und zwang Elin, ebenfalls etwas Anstand zu haben und wegzuschauen.

„Ich hole dir mal Klamotten", sagte Hayden belustigt von dieser ganzen Situation und lief zu den Umkleiden.

„Wir müssen mit dir reden", sagte Reed derweil und Kellin schnaubte.

„So viel habe ich mir zusammenreimen können. Weißt du wie anstrengend es ist, wieder zurückzukommen? Besonders in unpassenden Klamotten?"
„Ach komm, ein paar Sportklamotten fallen in welchem Jahr auch immer sicher nicht weiter auf", scherzte Hayden, der seinem Bruder eine Jogginghose und ein Shirt zuwarf. Die Klamotten sahen lächerlich eng an Kellin aus und ich war mir sicher, würde er zurückspringen, würden ihn die Leute dort für komplett verrückt halten müssen.

„Also, wieso holt ihr mich hierher? Was bitte gibt es so Dringendes, dass ihr nicht hättet warten können?"

„Wir wollen Malia sehen", sagte ich, sprach nicht um den heißen Brei herum.

Wie zu erwarten, fand Kellin das alles andere als gut. Er lachte trocken auf und sah zwischen uns allen hin und her. „Keiner von euch wird sie sehen. Ich werde sie sicher nicht hierherbringen."
„Weil du es nicht willst oder weil sie es nicht will?", fragte Elin und Kellin musterte sie nun eingehend, als würde er sich fragen, wer zum Teufel nochmal sie überhaupt war. Gut, er hatte sie auch noch nie gesehen.

„Du versuchst sie zu beschützen, das versteht jeder hier, aber-"
„Das versteht keiner von euch!", unterbrach er mich harsch. „Ich werde Malia nicht in seine Nähe lassen."
„Er wird Alice umbringen, das weißt du. Ihr habt versucht sie zu beschützen und nun ist es euch gleich, ob sie stirbt?", fragte Reed gereizt.

„Wir wollten sie vor dir beschützen, aber das hat sich erübrigt. Ich hatte nicht gedacht, dass er je eine wirkliche Gefahr für sie sein wird nach allem, was wir dafür geopfert hatten... nicht auf diese Weise zumindest. Du hast es nur leider verbockt und ich kann nicht alles opfern, um die Kleine hier am Leben zu erhalten, denn wenn ich mich entscheiden müsste zwischen ihr und Malia, werde ich mich immer für Malia entscheiden."
„Ich verlange das auch gar nicht", sagte ich hastig. „Nur sie könnte ihn töten oder ihn wenigstens schwächen. Sie könnte das alles enden lassen, ihn vernichten. Keiner von uns hat so eine Macht über ihn."

Kellin lächelte bitter, als ob er meine Worte wie die von einem unschuldigen Kind betrachten würde, als ob er mich für ahnungslos halten würde. „Er hat zu viel Macht über sie. Gelangt sie in seine Nähe, ist sie nur genauso verdammt. Flieh. Wenn mein Bruder schlau ist, würde er dich packen und mit dir in die Vergangenheit fliehen." Mit den Worten verschwand Kellin auch schon.

„Das war unhilfreich gewesen", murmelte Elin und ich war froh, dass Reed neben mir stand. Als er meine Hand in seine nahm, konnte ich wieder etwas aufatmen.

Das war die letzte Chance gewesen. Mehr Ideen hatte ich nicht. Rowan würde mich verdammen. Er würde uns alle verdammen.

„Wir finden einen Weg", versicherte er mir.

„Holly und Teddy meinten, Malia ist die einzige, die helfen kann", merkte Hayden an. „Er wird sie kriegen, Bruder. Du wirst sie in dieser Zeit niemals vor ihm verstecken können."
„Soll er etwa mit ihr fliehen?", fragte Elin aufgebracht und ich fand den Gedanken erschreckend. Wir konnte doch nicht einfach fliehen. Nicht in die Vergangenheit.

„Ich kann nicht jeden zurücklassen", sagte ich. Malia konnte es vielleicht, aber ich nicht.

„In ihrem Tagebuch standen leider nicht genug Informationen", sagte Elin trübe. „Sie erwähnt nie richtige Details. Wenn wir nur mit ihr reden könnten, ohne dass Kellin wie ein Wachhund danebensteht."

„Unmöglich. Sie kann nicht ohne ihn durch die Zeit reisen und ich weiß nicht, wo sie genau in der Vergangenheit steckt", sagte Reed gereizt und strich sich durch sein Haar.

„Es muss einen anderen Weg geben." Ich wollte Malia sowieso nicht unbedingt in die Sache hineinziehen. Sie hatte genug durchgemacht. Ich wollte auf gar keinen Fall dafür verantwortlich sein, dass sie wieder in Rowans Hände gelangt.

„Wir werden einen finden", sagte Hayden zuversichtlich.



Ohne Reed und ohne Elin ging ich mit Hayden zum Quartier. Reed wäre mit was auch immer beschäftigt und Elin sollte ihren Bruder besuchen gehen, wenn sie schon in der Stadt war. Dieser studierte hier und ihre Eltern setzten voraus, dass sie ihn ab und zu besucht, wenn sie schon eine Weile in London bleiben würde. Nur deswegen waren sie noch nicht hergekommen, um sie an ihren Ohren zurück nach Hause zu ziehen.

Ich wollte nicht zurück zu Chris gehen oder gar nach Hause, wo ich nur vergehen würde vor Angst und Sorge. Ich wollte die Zeit nutzen und im Quartier nach Antworten suchen und Hayden hatte mir dabei helfen wollen.

Kaum betraten wir das Gebäude, merkte ich jedoch, dass es sehr lebhaft hier war.

Im Vergleich zu den vergangenen Monaten war das ein beinahe erschreckender Anblick. So belebt hatte ich das Quartier eine ganze Weile nicht mehr gesehen.

„Was ist denn hier los?", fragte ich Mrs Flores am Empfang, die gerade Anweisungen gab, wohin Blumen aufgestellt werden sollen.

„Das Fest der Götter findet am Wochenende statt, hat dich keiner informiert?"

„Nein, was ist das?"
„Man ehrt die Götter damit und betet für mehr Kraft. Warren hofft, dass wir damit vielleicht bessere Chance in dieser dunklen Zeit haben werden. Es hat in den Dunklen Tagen geholfen... ein bisschen zumindest." Hayden schnaubte von der Erinnerung.

„Wir brauchen alle etwas mehr Hoffnung in diesen Zeiten", sagte Mrs Flores, die mich kurz in ihre Arme schloss und besorgt ansah. „Und du bist vorsichtig, verstanden? Du bist zu sehr im Mittelpunkt dieses Dramas. Ich verliere nicht noch eine von euch. Du bist mir sowieso schon viel zu oft in schrecklichen Ereignissen verwickelt, ich habe wirklich Angst bei alledem."
„Ich passe auf mich auf", versprach ich ihr und sie lächelte mich liebevoll an, streichelte kurz meine Wange.

„Ich passe auch auf sie auf und schön, dass meine Sicherheit Sie nicht besorgt", sagte Hayden und sie schüttelte lächelnd den Kopf, tätschelte nun auch seine Wange.

„Unmöglicher Junge. Ich vertraue darauf, dass du nach all den Jahren auf dich aufpassen kannst. Passt aufeinander auf. In diesen Zeiten braucht man Freunde."

„Werden wir", versprachen Hayden und ich ihr, ehe wir weiterliefen, nicht in die Bibliothek, sondern direkt ins Dorf hinein. Wenn hier schon einmal etwas Leben herrschte, wollte ich lieber so abgelenkt werden als mich in einer dunklen Bibliothek verkriechen, wo wir sowieso keine Antworten finden würden. Etwas Ablenkung könnte nicht schaden.

Im Dorf herrschte auch mehr Trubel als gewöhnlich, wo jeder fleißig für die Feier dekorierte.

Blumen wurden überall befestigt, Laternen aufgehängt. Die Wege wurden gekehrt, Sträucher mit bunten Schleifen und eigenartigen Anhängern geschmückt.

Wir fielen dabei Gott sei Dank nicht zu sehr auf. Ich wollte keine Aufmerksamkeit und ausnahmsweise bekam ich diese auch nicht.

Es war schön zu sehen, dass die Leute etwas Hoffnung bekamen, dass sie alle Spaß hatten und das Leben so zurückkehrte. Hoffentlich würde es anhalten.

„Weißt du, wenn du so eng mit Reed Zeit verbringst, werden andere immer in Sorge sein", sagte Hayden zu mir, als wir eine Weile durch die Gegend schlenderten, zusahen, wie das sonst so triste Dorf wieder an Farbe gewann, an Leben.

„Was denkt ihr denn alle, was er machen wird? Mich opfern? Mich umbringen? Es wäre leichter so etwas zu glauben, wenn es mehr Beweise dafür gibt, aber das ist nicht so. Er hat mich entführt und zurückgebracht. Würde er mir wirklich schaden wollen, hätte er das nun wirklich längst machen können", sagte ich und Hayden schüttelte seufzend den Kopf.

„Das glaube ich zumindest auch alles gar nicht. Ich habe nur Angst, weil ich gesehen habe, wie Grace geendet hat. Sie hat die letzten Wochen vor ihrem Tod in diesem verdammten Haus verbracht, fast immerzu allein. Sie hat auch nie genau gewusst, was er tat und es hat sie zerbrochen."
„Welches Haus denn? In meinem?", fragte ich, fand die Vorstellung, dass Grace allein gewesen ist während so dunkler Zeiten, traurig. Gleichzeitig war es unvorstellbar, dass mein Haus mal nicht vor Leben platzte.

„Nein, in dem, das sie mit Reed zusammen hatte."
„Die beiden haben zusammen gelebt?", fragt ich verblüfft und er grinste, als ob das offensichtlich gewesen wäre.

„Natürlich. Sie wahren Jahrzehnte zusammen. Es steht sogar noch irgendwo im Dorf, auch wenn Reed es nicht mehr betreten hat, seit... naja, du weißt schon."
„Kannst du es mir zeigen?" Ich hatte nie daran gedacht, dass die beiden zusammengelebt haben könnten. Es war natürlich irgendwie einleuchtend gewesen, aber ich hatte nie darüber nachgedacht. Ehrlich gesagt wollte ich auch nicht darüber nachdenken, was für eine Art Beziehung die beiden hatten.

Hayden wirkte etwas unsicher von meiner Bitte. „Es ist nur ein Haus, Alice."
„Dann kannst du es mir ja auch einfach zeigen. Ich will ja nicht einziehen, ich will es nur sehen."

„Deine verfluchte Neugier." Er schüttelte seufzend den Kopf. „Dann los. Lass uns das alte Ding anschauen."

Er führte mich durch die belebten Teile des Dorfes und weiter in die Richtung der Wohnanalgen, dort zogen sich mehrere Wege in verschiedene Richtungen, verschiedene Nachbarschaften. Es war eine Gegend, in der ich vorher noch nie gewesen bin und neugierig sah ich mir den verlassenen Wald hier an. Nur sehr selten tauchte ein Haus am Wegrand auf und diese wirkten meistens nicht so, als ob aktiv jemand in diesen leben würde. Dieser Teil des Dorfes war eindeutig vor langer Zeit verlassen worden und dadurch mochte ich ihn gleich am liebsten. Es war so friedlich und schön hier. Die Natur hatte die Oberhand gewonnen und es war einfach vertraut hier zu sein.

Schließlich stoppten wir vor verschlossenen Toren, die teilweise von Pflanzen verwachsen waren.

„Das ist es?", fragte ich neugierig, sah durch die Gitter zu dem großen Haus auf dem fast völlig zugewachsenen Grundstück. Dass hier seit über hundert Jahren keiner mehr gelebt hatte, konnte ich mir sehr gut vorstellen.

„Ja, es sieht übler aus als ich dachte", murmelte Hayden und sah das Haus eingehend an. Sicher hatte er es auch seit hundert Jahren nicht mehr gesehen. Was würde einen auch herführen, wenn keiner mehr darin lebte?

„Ich kann mir bildlich vorstellen, wie es mal ausgesehen haben muss", sagte ich und öffnete das Tor. Ich hatte gedacht, es würde sicher verschlossen sein und Hayden wohl auch, da er fast enttäuscht wirkte, dass ich noch mehr sehen wollte.

„Es war mal ein hübscher Anblick, aber das Ding ist eher wie die Verdammnis", sagte er. Konnte ich mir gut vorstellen. Der Garten muss geblüht haben und wild und ordentlich zugleich gewesen sein, das Haus hat sicher geleuchtet und war sauber und gepflegt gewesen und doch war es im inneren wie ein Albtraum. Ich stellte mir vor, wie Grace dort drinnen festsaß und ihr Tagebuch geschrieben hatte, wie Reed dort drinnen dunkle Pläne schmiedete, wie alles zerbrach.

„Du willst rein?" Hayden klang nervös, folgte mir dennoch bis zum großen Eingang, die paar einst weißen Stufen hinauf zu der hölzernen Flügeltüre.

Ich wusste nicht so recht, wieso ich ins Haus wollte. Es war beinahe wie eine unsichtbare Macht, die mich zwang, weiterzugehen, mehr zu sehen, fast als würden Geister vergangener Zeiten nach mir rufen. Für einen ganz kurzen Moment verschwamm die Gegenwart mit dieser Vergangenheit. Für einen winzigen Moment hörte ich fremde Stimmen, Gelächter. Ich konnte Blumen riechen, die nicht da waren, und vor mir sah ich Menschen verschiedener Zeiten, die hier ein- und ausgingen. Das alles waren nur Schatten der Vergangenheit. Nichts war mehr übrig von dieser vergangenen Zeit, nur dieses alte Haus, das mehr wie eine Ruine aussah in diesem miserablen Zustand.

Ich antwortete Hayden nicht, stattdessen öffnete ich die Türen, die auch nicht abgesperrt waren und quietschend aufschwangen. Im Haus war es dunkel. Die Fenster waren von außen teilweise zugenagelt worden und es roch stickig, staubig und modrig hier drinnen. Die Staubschicht auf den weißen Tüchern, die die Möbelstücke abdeckten, war dick, der Boden schien gräulich zu sein und wie grauer Schnee wirbelte er auf von dem ersten frischen Luftzug in Jahrzehnten.

„Das ist scheiße gruselig", murmelte Hayden. „Müssen wir hier rein? Ich will nicht rein, hier ist sie..."
„Sie ist hier gestorben", vollendete ich seinen Satz.

Natürlich.

Sie ertrank in einer Badewanne, ihrer Badewanne, in ihrem Haus. Hier.

Plötzlich verstand ich, was Hayden meinte. Es war gruselig und die Anziehung, die ich bis gerade verspürt hatte, veränderte sich in Angst. Ich sah die Treppe hinauf, beinahe als könnte ich von oben das Plätschern von Wasser hören, als könnte ich in der Ferne Reed schreien hören.

Mir wurde schwindelig.

„Wow, alles gut?", fragte Hayden, der mich stützte, als ich kurz zu schwanken drohte.

„Ja. Wir sollten vielleicht doch nicht hineingehen."
„Lassen wir das Geisterhaus mit all seinen Geistern ruhen. Manche Orte sollte man schlafen lassen, manche Erinnerungen sollte man einfach vergessen." Hayden war erleichtert, dass wir nicht hineingehen würden. Er schloss die Türen und wollte schon am liebsten das Grundstück hastig verlassen, als er angerufen wurde.

„Sam... ich hoffe in meiner Abwesenheit hat Teddy sich benommen", seufzte er und ging ran.

Während er telefonierte, lief ich die Stufen hinab und schlenderte durch den zugewachsenen Garten. Die meisten Pflanzen waren vertrocknet, andere waren durch die mangelnde Pflege so außer Kontrolle geraten, dass sie alles um sich herum zu verschlingen drohten. Ich fragte mich, wie die Natur hier reagiert hatte, als Grace starb und das direkt bei ihnen. Der Irrgarten hatte damals an Leben verloren, dieser Garten hier vermutlich auch.

Alice."

Verwundert, wer mich am Rufen war, sah ich nach vorne.

Hayden konnte es nicht gewesen sein, ich hörte ihn noch ganz leise irgendwo hinter mir telefonieren.

Alice."

Neugierig, wie ich es nun einmal war, lief ich weiter nach vorne und versuchte hinter dem hohen Gras irgendwas zu erkennen. Langsam und darauf bedacht, mich an keinem Gestrüpp zu verfangen oder in unbemerkte Löcher zu fallen, lief ich weiter und weiter und fing an, meine Melodie zu hören. Zuerst war es nur ein leises Summen, als ob der Wind mir ein Lied vorspielen würde, dann wurde die Musik jedoch lauter, klarer und ich blieb erschrocken stehen, als ich direkt hinter dem Haus eine Gestalt im Blumenbeet knien sah. Als ob der Garten leben und nicht völlig vertrocknet und tot wäre arbeitete die Person in der Erde, schien sich nicht beirren zu lassen, dass hier kein Leben mehr existierte.

„Hallo, Alice."

Ich verkrampfte mich für einen kurzen Moment. In der kauernden Haltung und mit dem Sonnenhut auf dem Kopf hatte ich sie zuerst nicht erkannt, aber die Stimme... sofort wusste ich, wer das war.
„Olivia", hauchte ich abwertend und besagte Person drehte den Kopf leicht zu mir, lächelte mich heiter an, ehe sie unbekümmert weiter am Arbeiten war.

Das letzte Mal, als ich sie gesehen hatte, da hatte ich meine Seele an Rowan verloren und Hades hatte ihr anschließend das Genick gebrochen. Er hatte gesagt, sie würde wiederkommen, dass sie das nicht töten würde.

Was tat sie nur hier?

„Du klingst ja ganz entsetzt. Komm, knie dich zu mir und hilf beim Arbeiten. Die Pflanzen könnten dich gebrauchen, du bist doch eine Naturwächterin, nicht?"
Was beabsichtigte sie bitte? Was genau war sie überhaupt? Wer war sie viel eher? Rowan hat für sie gearbeitet. Rowan hat sie gefürchtet. Hades hat über sie gesprochen, als ob er sie kennen würde. Zu was genau machte sie das dann? Und was wollte sie von mir? Von Reed und mir?

„Hayden", sagte ich den Namen meines Freundes, nicht laut genug, dass er mich hörte, dafür war der Schock zu enorm. Ich wollte mich umdrehen, rennen und zu ihm eilen, aber da umschlangen Pflanzen meine Knöchel und ich fiel hart zu Boden, wo mehr von den Pflanzen mich festhielten, meine Hände eisern umklammerten und mich davon abhielten, mir selbst zu helfen.

„Nicht schreien", sagte Olivia, als ich gerade dabei war, eben das zu tun, und kurzerhand schlang sich eine Wurzel um meinen Hals, drückte mir die Luft ab.

„Das alles hätte längst enden können, aber du musstest ja unbedingt so töricht sein und dich an Rowan verkaufen." Bedauernd schüttelte sie den Kopf. „Ja, ja, die Liebe zwingt einen manchmal zu ganz idiotischen Taten. Aber deine Liebe zu diesem Jungen hat mich zu viel gekostet. Zu lange habe ich darauf gewartet, dieses Spiel zu beenden und immer wieder kommt ihr mir in die Quere. Ich hoffe du verstehst, dass mich das sehr, sehr wütend stimmt."
Ich wollte gern was erwidern, ich wollte ihr panisch mitteilen, dass ich Luft benötigte, nur kein Laut verließ meine Lippen. Mir wurde schwummerig, meine Lungen fühlten sich an, als ob sie platzen müssten.

„Leider hat mein treuster Ergebener sich gegen mich gerichtet und durch diesen Deal und meinen geschwächten Zustand bist du unerreichbar für mich. Aber ich muss dich gar nicht suchen. Du wirst mich suchen. Verrückt, nicht wahr? Du wirst zu mir kommen, weil du wissen wirst, dass es keinen anderen Weg gibt. Weil du wissen wirst, dass du mich brauchst, wenn du seiner Dunkelheit entkommen willst."

Gerade, als ich dachte, das Bewusstsein zu verlieren und dass mein Brustkorb zerbrechen müsste, löste sich der Druck. Ich lag immer noch auf dem Boden, nur waren da keine Pflanzen, die mich festhielten, da war auch keine Olivia, sondern Hayden, der besorgt über mich gebeugt war.

„Verdammt, du bist wach", seufzte er erleichtert, als ich gierig die Luft einzog.

„Was... was ist passiert, wo ist sie hin?" Verschreckt setzte ich mich auf, sah mich suchend um. Keine Spur von Olivia. Das Beet, an dem sie gearbeitet hatte, wirkte so unberührt wie der ganze Rest hier im Garten. Einfach nur vertrocknet und tot.

„Wer?", fragte Hayden. „Du warst plötzlich weg und ich habe dich gesucht und... fuck, ich dachte, du bist tot. Du hast nicht geatmet, was ist passiert?"

Also war Olivia nicht hier gewesen?

Ich sah auf meine Handgelenke, die unversehrt wirkten. Selbst mein Hals schmerzte nicht. Hatte ich mir das gerade eben nur eingebildet?

Nein, hatte ich nicht. Ich spürte etwas in meiner geschlossenen Faust, wagte es jedoch nicht, diese vor Hayden zu öffnen.

„Ich habe nicht geatmet?"

„Ja, ich weiß nicht wie lange, ich bin grade gekommen und du lagst da und warst ganz bläulich angelaufen und alles. Was ist passiert, Alice?"
„Sag es nicht Reed!"

„Was?"
„Bitte, sag ihm nichts, er soll sich nicht unnötig sorgen."

Unnötig sorgen? Er muss sich ganz eindeutig sehr sorgen, man fällt nicht einfach um und hört auf zu atmen, das ist nicht normal! Du müsstest ins Krankenhaus, zu den Heilern, irgendwohin, wo man dich untersuchen kann."

„Es war nur eine Halluzination oder so."
Hayden schnaubte. „Seit wann sind die so schlimm? Wenn diese anfangen dich halb umzubringen, wirkt das keineswegs normal, Alice. Das klingt eher gefährlich!"

„Wenn ich das nur wüsste", seufzte ich. Das war gruselig gewesen, mehr als nur gruselig.

„Aber dir geht es gut?" Kritisch musterte er mich. Am liebsten wollte er mich wohl wirklich zu den Heilern schleppen und untersuchen lassen, aber ich wusste, dass sie nichts finden würden. Das war keine Krankheit oder irgendwas, bei dem Heiler mir helfen würden.

„Alles gut, ich will nur nach Hause dürfen."

Hayden gab sich damit vorerst geschlagen und lief voraus. Den Moment nutzte ich, um meine Hand zu öffnen und den Zettel in dieser zu lesen.

Wenn du mich brauchst... Du findest mich am Eingang der Welten – O.


Wörter: 3744

Aloha :) Ich hoffe es hat euch gefallen. Ein paar vertraute Gesichter waren mal wieder dabei. Eure Meinung dazu würde mich super sehr interessieren xx

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