13. Keine Helden
"Do you remember when we first met? I thought I had wandered into a dream." — J.R.R. Tolkien
„Deine Fähigkeiten sind beeindruckend."
Staunend begutachtete Reed die kleine Höhle, nachdem wir uns irgendwann dazu bewegen konnten, uns voneinander zu lösen und aus ihr herauszukriechen.
„Wenigstens war es die Natur, die reagiert hat. Stell dir vor, wir wären in einer Höhle aus Feuer gelandet", sagte ich grinsend und sammelte währenddessen meine Klamotten ein, ehe ich loslief.
„Wohin so eilig?"
„Zu dem See dort. Ich will irgendwie sauber werden", rief ich ihm zurück und hörte, wie er seine eigenen Klamotten einsammelte und mir folgte, mich schnell einholte.
Der See war klein und war eher wie ein Zwischenbecken eines kleinen Flusses, der auf der einen Seite in ihn hineinfloss und auf der anderen wieder seinen Weg zog.
Ich legte meine Kleidungsstücke ordentlich zur Seite und tapste langsam in das Wasser hinein. Der Sand unter meinen Füßen war so herrlich sauber und das Wasser sah klar genug aus, dass ich nicht vor Furcht umdrehte. Ich mochte keine Seen, aber da es keine Duschen im Wald gab, war das hier besser als nichts.
Das Wasser war oberflächlich von der Sonne erwärmt worden, doch je tiefer ich ins Wasser tapste, ums kälter wurde es. Dennoch war es irgendwie erfrischend und wohltuend. Mein völlig erhitzter Körper konnte sich abkühlen.
„Unsere letzte Erfahrung mit einem See verlief nicht gerade gut", merkte Reed an, der seine Sachen neben meine legte.
„Dieses Mal falle ich auch nicht ins Wasser, und außerdem sieht es hier nicht so gruselig aus."
„Und du haust nicht wütend vor mir ab, weil ich dich gekränkt habe."
„Du warst damals so ein fieser Idiot", zischte ich und funkelte ihn grimmig an, ehe ich mich weiter vorwärts traute.
Das Wasser wurde immer kälter, aber die Sonne über uns schien kräftig und ließ die vom Wasser unbedeckten Stellen an mir fast unerträglich erhitzen, so dass ich mich weiter traute und beschloss, einfach unterzutauchen.
Ich ließ mich unter Wasser fallen. Es war nicht sonderlich tief hier, dennoch ließ ich mir meine Zeit damit, wieder aufzutauchen.
Kaum durchbrach ich wieder die Oberfläche, wurde ich schon von Reed in dessen Arme gezogen und kichernd ließ ich mich von ihm mehr in die Mitte des Sees ziehen.
„Ich war damals nur so gemein zu dir, weil du mich so schrecklich verwirrt hast."
„Wann genau hast du denn angefangen, mich überhaupt zu mögen? Ich war so verwundert, als du mich geküsst hast. Ich hatte damals gedacht, du würdest mich verabscheuen. Du hast kurz zuvor immerhin versucht mich bei einem Autorennen umzubringen."
Er schnaubte. „Ich habe dich nie gehasst", sagte er und ich schlang meine Beine um seine Mitte, sah ihn überrascht an. „Ich war von der ersten Sekunde fasziniert von dir gewesen, als wir uns damals in der Nacht getroffen hatten, wo du wie eine Verrückte gegen mich gerannt bist. Du hast mir nur das Leben erschwert und ich hatte mein Bestes gegeben, dich auf Abstand zu halten."
„Stimmt, ich bin damals vor Colin geflohen", sagte ich belustigt und dachte an den Moment zurück. Dass er mich da für verrückt gehalten hatte, konnte ich ihm kaum übelnehmen.
„Colin... ja... er ist... speziell musst du wissen. Er stammt aus der Linie der Zeit."
„Bitte was?" Irritiert sah ich ihn an. Colin war ein Eingeweihter? Er war ein verfluchter Wächter? Wieso hatte mir das nie irgendwer erzählt? Wieso hatte er nie was gesagt? Wieso war er nie bei Versammlungen gewesen?
„Es wissen nur wenige, weil Colin es selbst nicht einmal weiß."
„Wie kann er es nicht wissen? Er muss paar hundert Jahre alt sein, oder nicht?"
„Ich sage ja, es ist speziell." Reed lächelte grimmig. „Wie viel weißt du eigentlich mittlerweile über die Seelensammler?"
„Nicht viel und ich will auch nicht viel wissen, das mit Rowan reicht mir bisher. Ich habe nur Hayden und Sam dazu gefragt. Diese meinten, dass Reiter früher besonders Kinder entführt hatten, um sich an ihnen zu nähren, aber... Colin?"
„Er war ein solches Kind. Er hat nur länger als andere überlebt, ungewöhnlich lang sogar. Er war so viel älter geworden als irgendein Kind es sonst würde, wenn ein Reiter sich dauerhaft von einem nährt. Die Reiter glaubten, er könnte deswegen was Besonderes sein. Sie haben ihn für seltsame Rituale missbraucht und... das, was von seinem Verstand übriggeblieben ist, ist endgültig zerstört worden. Ich habe damals einfach zugesehen. Ich hätte helfen können, einschreiten können, aber ich habe nichts getan, weil ich insgeheim so sehr gehofft hatte, dass es funktionieren würde, dass Colin die Person ist, die sie haben wollen, dass sie nicht nach jemand anderen suchen, dass sie nicht nach ihr suchen und das alles vielleicht endlich enden würde."
Grace.
Er hatte sie beschützen wollen. Nur wer hatte je Colin beschützt? Mein Herz schmerzte bei der Vorstellung, was er durchgemacht haben musste. Ich fühlte mich schlecht, weil ich ihn immer für etwas sonderbar gehalten hatte, dabei war er einfach auf eine Weise traumatisiert worden, die entsetzlich war, und keiner hatte ihm je geholfen. Keiner war je für ihn da gewesen.
„Seine Eltern starben bei den Dunklen Tagen und Colin landete in so einigen Einrichtungen, die ihm helfen sollten. Erst vor wenigen Jahren hat sich sein Zustand so weit gebessert, dass er raus durfte. Eine eingeweihte Familie hat ihn aufgenommen und kümmert sich um ihn. Keiner von uns weiß, wie viel er eigentlich weiß. Er scheint keinen von uns wirklich zu erkennen... außer mich." Reed klang traurig, er war traurig. Er sah mir nicht in die Augen, sondern sah an mir vorbei und ich erkannte Tränen in seinen Augen. Er fühlte sich furchtbar deswegen und gern hätte ich ihn getröstet. Es war nicht seine Schuld. Er hatte Colin das nicht angetan. Er hätte ihm helfen können, aber er hatte die beschützt, die er liebte. Wenn ich die Wahl hätte einen Fremden zu retten und dafür jemanden zu opfern, der mir wichtig wäre, hätte ich es auch nicht getan. Wer würde das schon?
„Wir können die Vergangenheit nicht verändern, wir können sie nicht wiederholen und irgendwas verbessern."
„Ich versuche so sehr, die Dinge zu verändern und zu verbessern und dabei habe ich nie etwas anderes getan, als Schaden anzurichten."
Diese neue Verletzlichkeit an ihm berührte mich. Ich umarmte ihn fester und versuchte, ihm seinen Schmerz zu nehmen, was ich nie schaffen würde.
„Wir retten jetzt Dawson und Reyna. Das ist eine gute Sache. Du hast mich gerettet. So oft. Du bist nicht durch und durch böse, auch wenn du sicher kein edler Held bist, aber das weißt du selbst am besten. Es ist nur nie zu spät sich zu bessern und ich vertraue dir jetzt, ich vertraue darauf, dass du am Ende alles richten wirst."
„Ich liebe dich, Alice", sagte er leise. „Ich hoffe du weißt, wie sehr ich dich liebe."
„In der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft", sagte ich, klaute seinen Spruch, den er zu mir damals gesagt hatte.
Er sah mir in die Augen und lächelte traurig.
„Wenn du nur wüsstest, wie ernst ich das meine."
Bevor ich fragen konnte, was das nun wieder zu bedeuten hatte, küsste er mich bereits. Es war ein Wunder, dass wir es auf diese Weise überhaupt zum Ufer zurückschafften, so wie wir aneinanderklebten, aber irgendwann lagen wir nebeneinander auf dem Sand und versuchten, von der Sonne ein bisschen getrocknet zu werden, bevor wir uns anziehen könnten. So lagen wir da, die Augen geschlossen und unsere Hände ineinander verschränkt, weil jeder noch so kleine Abstand sich teilweise so grausam anfühlen konnte. Wie hatte ich nur je zulassen können, dass dieses Band zwischen uns so eisern wurde? Würde ich Reed jemals verlieren, würde ich sterben. Ich würde nicht wissen, wie ich das überleben sollte. Es klang super melodramatisch, aber so war es nun einmal.
„Was tust du da?", fragte ich kichernd, als er anfing, meine Hand zu küssen.
Ich öffnete die Augen und drehte mich zu ihm. Wieso musste er nur so verdammt gut aussehen? So nebeneinander zu liegen und das nackt war keine weise Entscheidung gewesen. Nicht für meine Selbstbeherrschung.
„Ich küsse deine Hand. Ich liebe deine Hände."
„Du liebst meine Brüste, du liebst meine Hände, muss ich von noch mehr Körperteilen wissen, die du liebst?"
„Ich könnte dir so einige aufzählen", sagte er neckend, sah mich dabei lüstern an und ich verlor das winzige Stück an Selbstbeherrschung. Ich hatte eh nie eine Chance gehabt.
Ich rollte mich auf ihn, so dass ich nun breitbeinig auf ihm saß.
Er wirkte keineswegs überrascht. Vermutlich wäre er nur selbst gleich über mich hergefallen, ich war ihm lediglich zuvorgekommen.
Ich küsste ihn und seine Hände krallten sich sofort an meiner Hüfte fest, wo er mein Becken führte, mich auf sich sinken ließ. Ich keuchte auf und auch wenn wir gerade erst Sex gehabt hatten, kam es mir so vor, als ob ich ewig hierauf gewartet hätte. Unsere sauberen Körper wurden von dem Sand gleich wieder ganz schmuddelig, wir waren gleich wieder verschwitzt, aber es war mir gleich.
Ich löste den Kuss, richtete mich mehr auf und ließ meine Hüfte kreisen, genoss es die Macht zu haben, ihn auf diese Weise nur noch tiefer und besser in mir zu spüren.
„Fuck, Alice", raunte Reed und lächelnd sah ich zu ihm hinab, ließ zu, dass er mich mit seinen Händen leitete. Es war wundervoll ihm in die Augen zu sehen, zu sehen, wie er mühevoll versuchte, sich zu beherrschen, ehe er seine Augen schließen musste, laut stöhnen musste, und angetrieben von dem Anblick, dem Geräusch, überschwemmte mich eine Welle der Lust.
Gerade, als ich meinen Höhepunkt bekam, drehte Reed uns einmal, kapselte mich unter sich ein und drang so erbarmungslos in mich ein, dass mir für einen Moment schwarz vor Augen wurde, ich ganz vergessen hatte zu atmen. Ich fing erst wieder an klarer zu sehen, als mein Körper sich beruhigt hatte und Reed zu seinem eigenen Höhepunkt kommen konnte.
Kaum fand ich meinen Atem wieder, küsste er mich nur erneut, er küsste mein ganzes Gesicht und sprach süße kleine Liebesversprechen, die mein Herz erwärmten und mich dazu brachten, am liebsten nur wieder über ihn herzufallen, aber so würden wir niemals die anderen retten. Kaum dachte ich daran, fühlte ich mich schlecht. Da waren Leute in Gefangenschaft und das einzige, was wir taten, war alle paar Minuten Sex haben. Wir waren furchtbar.
Würde Reed nicht aus der Linie der Zeit stammen, würden wir bei unserem Verhalten sicher bald Kinder in die Welt setzen. Aus der Zeitlinie zu stammen, machte die Angelegenheit nur deutlich schwerer. Den Göttern sei Dank. Beide Partner mussten ein Kind wollen, damit es zu so etwas kommen konnte, anderenfalls würde die Welt von Leuten aus der Linie der Zeit platzen. Ich musste nur an Haydens Liste vergangener Liebhaber denken und mit was für einem Genuss er sich durch die Gegend vögelt und war erleichtert, dass er nicht so leicht Kinder kriegen konnte, anderenfalls wäre er sicher schon hundertfacher Vater nach all den Jahrzehnten.
Und da ich sicher so schnell kein Baby haben wollte, waren wir sicher.
Ich befürchtete nur irgendwann zu sehr von der Aussicht mit Reed abzuhauen und alles hinter uns zu lassen verführt zu werden. Ich wollte zwar noch keine Kinder haben, gleichzeitig wäre es mir so viel lieber mit Reed nun das Weite zu suchen, mit ihm eine Familie zu gründen, glücklich und in Sicherheit zu sein. Es war eine schönere Vorstellung als alles, was sonst noch auf uns wartete.
„Wir müssen uns nun wirklich fertig machen, Herzblatt", sagte Reed, der das wohl ähnlichsah.
„Dann waschen wir uns jetzt getrennt voneinander und keiner zieht mehr seine Klamotten aus!"
„Als ob Klamotten irgendeinen unterschied machen", lachte er. „Ich will dich jederzeit haben." Er zwinkerte mir zu, ehe er sich aufrichtete und frisch machte.
Oh, das konnte ja was werden.
Wir liefen bis die Sonne unterging, ehe wir wieder ein Feuer machten und Reed und ich aneinander gekuschelt einschliefen. Am nächsten Tag waren wir beide hungrig. Wir hatten bisher nur Beeren gegessen und mein Magen grummelte laut. Das einzige, was mich aufheitern konnte, war Reed und die Aussicht, dass wir offenbar nicht mehr weit von dem Ort wären, den wir aufsuchten.
„Wo genau werden sie festgehalten? In einem Loch? Kerkern?"
„Du stellst dir ja nette Dinge vor", sagte er schmunzelnd. „Aber nein, hier wird gleich ein Anwesen auftauchen, in dem Rowan lebt, dort werden sie sein. Er besitzt Zellen in seinem Haus und ich bin mir sehr sicher, dass sie dort sind. Rowans Zellen sind verdammt abgesichert."
„Wie kannst du dir dabei überhaupt so sicher sein? Vielleicht hat er seine Meinung geändert und sie dieses Mal wo anderes untergebracht?"
„Ich kenne Rowan, ich kenne seine Vorgehensweisen, ich vertraue darauf. Wenn ich mich irre, hatten wir aber immerhin einen netten Ausflug."
„Einen, bei dem wir verhungern." Ich klang gereizter als beabsichtigt, aber ich brauchte Essen, richtiges Essen. Am besten einen Cheeseburger oder eine Pizza mit ganz viel Käse.
„Wenn wir das Haus erreichen, hole ich uns Essen. Rowan wird dort sicher Essen lagern und du wirst in der Zwischenzeit ganz artig draußen warten."
„Ich werde was?" Ich blieb stehen und sah ihn verdutzt an. „Wieso sollte ich? Traust du mir das nicht zu?"
„Oh, Herzblatt, ich traue dir viel zu und ich weiß, dass du in der Lage bist, deine Kräfte zu beherrschen und dass diese Leute Angst vor dir haben sollten, aber Rowan will dich haben und wenn du dort hineingehst, weiß ich nicht, ob ich dich auch wieder nach außen bringen kann."
„Dann lassen wir uns nicht erwischen. Vielleicht ist Rowan selbst gar nicht dort." Ich wollte nicht draußen warten. Ich würde durchdrehen, wenn ich nicht wüsste, wie es Reed erging, ob alles gut war. Das letzte Mal, als ich Rowan und Reed gegenüber voneinander gesehen hatte, wäre er fast gestorben. Noch einmal wollte ich das nicht erleben. Ich würde es nicht ertragen.
„Ich will dich zu nichts zwingen und das werde ich auch nicht, aber überdenke es wenigstens noch einmal. Das ist Rowans eigenes Haus. Es gibt eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass er dort ist und ich werde machtlos sein etwas zu tun, wenn er dich hat. Du gehörst ihm, Alice."
Ich erschauderte, aber zu wissen, dass ich das wirklich tat, war immer noch so skurril und gruselig. Wie konnte ich jemandem gehören?
„Was passiert, wenn du ihn einfach töten würdest?"
„Mal abgesehen davon, dass ich es wegen seiner enormen Macht nicht kann, meinst du? An sich würde mit den Bindungen, die er besitzt, das geschehen, was er will. Die meisten Seelenfänger haben solche Dinge im Voraus geregelt, so dass ihr Besitz an jemand anderen übergeht, sie können aber auch dafür sorgen, dass die Personen einfach mit ihnen sterben und Rowan ist sehr... dramatisch und hasserfüllt und gefährlich. Ich will dein Leben nicht riskieren."
„Wirst du auch nicht. Ich handle auf eigene Gefahr, genauso wie ich aus freien Stücken den Deal mit ihm eingegangen bin." Ich lächelte ihn zuversichtlich an. Aber wir würden das gemeinsam schaffen. Wir mussten einfach.
Wir erreichten nach einem kurzen weiteren Weg das Haus. Es war ein großes, hübsches Anwesen mit einem gewaltigen Grundstück. Ich sah einige schwarze Autos vor der Türe parken und ich sah Wachen an den Toren der Einfahrt und der Türe stehen. Das Grundstück war nur bei der Straße eingezäunt, offenbar nahm man nicht an, dass irgendwer durch den Wald marschieren würde, vor allem, da hier kein Weg zu finden war.
Es war einfach gewesen, uns hastig im Schatten der Bäume bis zur Hausfassade zu schleichen und auch einfacher als gedacht ins Haus selbst hineinzukommen. Die Fenster im Erdgeschoss waren bodenlang und mühelos konnte Reed eines öffnen und uns hineinlassen, geradewegs in einen leeren Flur.
Im Haus herrschte eine gruselige Stille. Ich hörte nichts. Keine Stimmen, keine Schritte, keine Musik oder Fernseher oder irgendwas. Es roch nach den Blumen hier, die in Vasen aufgestellt waren und an den Wänden hingen Gemälde, die aussahen, als ob sie aus einem Museum gestohlen sein mussten. Ich war mir beinahe sicher, dass es so war oder Rowan einfach reich genug war, um sich die Dinge zu leisten, aber ich las ein paar der Künstlernamen und konnte mir gut vorstellen, dass Werke von Monet nicht billig waren.
Wir hatten den Plan ausgemacht, bevor wir ins Haus gegangen waren. Reed war zuvor schon hier gewesen und kannte sich aus, ich war planlos über das Haus, zumindest bis er mir alles erzählt hatte, das er noch über das Gebäude wusste. Es wäre gefährlich für mich mit zu den Zellen zu gehen, da dort die meisten Wachen sein würden, also würde ich wo anders hingehen, mich anders nützlich machen.
Es war Mittag und in dieser Zeit bestand eine gute Chance, dass viele der sonstigen Gäste des Hauses fort wären. Mittags war Geschäftszeit in diesen Kreisen und anders als zum späten Abend konnte man fast immer sicher sein, dass dafür das Haus verlassen wird oder Besprechungen hinter Bürotüren stattfanden. So ruhig wie es hier war, lag das Glück wohl auf unserer Seite.
„Wenn du es nicht findest, dann hau sofort ab, verstanden? Sei vorsichtig, bitte, bitte sei vorsichtig", flüsterte Reed ein letztes Mal, bevor unsere Wege sich trennen müssten. Er sah mir dabei in die Augen, hielt mein Gesicht in seinen Händen und küsste meine Stirn.
„Sei du vorsichtig!", sagte ich, immerhin war ich nicht so waghalsig wie er... nicht ganz so schlimm zumindest.
Er grinste mich an, ehe er um die nächste Ecke verschwand und ich mich langsam und vorsichtig vorwärtsbewegte.
Mein Ziel lag im oberen Stockwerk des Hauses.
Mein Ziel war Malias altes Zimmer.
Ich hatte nicht einmal gewusst, dass sie hier eines gehabt hatte, dass sie mal in diesem Haus gelebt hatte, aber Reed hatte mir davon berichtet und gemeint, dass es in diesem vielleicht etwas gibt, das uns helfen könnte. Ich wusste nur leider nicht, wonach ich genau Ausschau halten sollte. Reed wusste es selbst nicht, er hoffte, dass ich es finden würde, es spüren würde, wenn ich es sehe. Was auch immer es da bitte zu spüren gab.
Das waren Angaben, die praktisch so hilfreich waren wie keine Angaben. Ich wollte allerdings nicht dumm am Waldrand warten und auf Wunder hoffen. Ich wollte helfen und vor allem mich daran beteiligen, Rowan zu besiegen! Es ging hier nicht nur um meine Seele, es ging um die Zukunft von uns allen.
Malias Zimmer war es gewesen, in dem sie offenbar zum dritten Mal ihr Band zu Rowan gelöst hatte. Dreimal war sie mit Rowan verbunden gewesen, dreimal hatte sie ihm gehört, dreimal hatte sie sich vom ihm getrennt, und ich verstand nicht wirklich, was so besonders daran war, dass sie sich dieses dritte Mal von ihm gelöst hatte, aber laut Reed war dabei das Band zwischen ihnen das erste Mal richtig zerstört worden. Sie hatten ein deutlich stärkeres Band zueinander gehabt als Rowan und ich es zueinander besaßen.
Ich wusste nicht alle Details zur Vergangenheit meiner Cousine, doch sie war eine sehr lange Zeit hier gewesen, Rowan hatte sich wohl sehr lange von ihr genährt und als sie ihm das letzte Mal entkommen konnte, hatte sie das Band zwischen sich so stark zerstört, dass es Rowan geschwächt hatte, dass es ihn verwundbar gemacht hatte. Laut Reed bestand die Möglichkeit, dass so eine enorme Menge Energie nicht einfach verschwinden kann, sich irgendwo fest genagt hatte, versteckt hielt, vielleicht in einem Gegenstand. Wir hofften zumindest auf einen Gegenstand, denn nur das könnte man wirklich greifen und mitnehmen, und nach Reeds Angaben war der Gegenstand wichtig, weil er so mächtig war, weil dieser Gegenstand eine Schwachstelle Rowans war. Das, was auch immer er je für Malia empfunden hatte, was er von ihr genommen und sie letztendlich zerstört hatte, war ein wunder Punkt von ihm. Laut Reed wäre es ja vielleicht möglich, dass Rowan damit verwundet werden könnte, also würde ich auf die Suche danach gehen. Alles, was ihn schwäche könnte, wäre ein Anfang. Wäre er erst einmal schwach genug, vielleicht würde man ihn dann stoppen können.
Leider waren das alles mehr Vermutungen als Fakten, die Reed da besaß und von Kellin zur Verfügung gestellt bekommen hatte, und ob dieser Gegenstand wirklich existierte und wirklich immer noch in dem alten Zimmer von Malia lag, war unklar. Weil ich aber hier war und Reed schon nicht direkt helfen konnte, würde ich wenigstens versuchen, ihn zu finden. Ich wollte nützlich sein. Es ging hier um meine Freiheit, da würde ich alles geben, um sie zurückzugewinnen.
Ich schlich also meinen Weg entlang und kam an einer großen Küche vorbei, wie Reed es mir gesagt hatte. In dieser war niemand zu sehen und da wir Proviant für den Rückweg benötigten, machte ich mich vorsichtig an die Arbeit, wenigstens ein Bisschen mitzunehmen. Ich schnappte mir einen Stoffbeutel, den jemand ordentlich gefaltet auf einer der Barhocker liegen gelassen hatte und ich packte hier und da einfache und leicht zu tragende Dinge ein. Eine Packung Kekse, Obst, ein paar Brötchen, die vom Frühstück übriggeblieben waren, und eine Wasserflasche.
Im Gegensatz zu uns anderen war Dawson durch und durch Mensch. Würde er anfangen Wasser aus Flüssen zu trinken, lief er nur ganz sicher Gefahr, krank zu werden. Keiner von uns wusste ja, wie rein das alles wirklich war und wir Wächter waren vielleicht so ziemlich immun gegen irdische Krankheiten, Dawson aber nicht.
Ich stellte die Tasche unauffällig zur Seite, bereit sie mir zu schnappen, wenn ich wieder zurückgehe. Vorerst wollte ich leicht unterwegs bleiben und so schlich mich aus der Küche und lief zur Treppe. Ich lauschte, hörte aber nach wie vor niemanden.
Stufe um Stufe ging ich hinauf und spürte, wie mein Herz vor Furcht immer schneller und schneller schlug. Ich ging immer tiefer in die Höhle des Löwen hinein. Würde Rowan hier auftauchen, wäre ich verloren. Er müsste nur eine Sache sagen und ich wäre verdammt.
Ganz ehrlich, ich konnte mir nicht vorstellen, wie es war, wenn jemand so eine Wirkung auf einen hat, dass ich ihm gehorchen musste. Ich wusste nicht, was sein würde, wenn ich nicht das mache, was der Besitzer meiner Seele will. Würde ich mich überhaupt wehren können? Darüber nachzudenken, ängstigte mich viel zu sehr. Ich überlegte in meinem Kopf fieberhaft, was ich zu tun hatte, wenn irgendwer anders als er mir begegnen sollte. Da würde ich mich wehren können. Ich könnte einer der nahestehenden Bäume dazu bringen, die Fenster einzuschlagen und mir zu helfen, ich könnte Feuer erzeugen und dieses Haus abbrennen, nur würde ich am Ende in den Flammen vollenden und die anderen auch.
Ich könnte versuchen, ein Erdbeben zu erzeugen, aber ich wusste nicht, ob ich dafür die Kraft besaß und es wäre auch riskant. Die Bäume wären am sichersten und meine Schnelligkeit und vielleicht wäre in solchen Momenten etwas Selbstverteidigung nützlich gewesen, aber gut, ich würde improvisieren müssen.
Vielleicht hätte ich doch beim Wald warten sollen.
Nein! Ich musste aufhören so feige zu sein! Lilien würde mich nun sicher tadeln, dass ich eine verdammte Noir sei. Meine Vorfahren waren nicht talentiert, berühmt und stark gewesen, nur damit ich mich ängstlich hinter Bäumen verstecke! Ich war auch stark und mutig und vielleicht etwas lebensmüde, aber ich gab mein Bestes!
Ich kam im oberen Stockwerk an und sah mich um, lauschte weiter still verharrend nach Gefahren. Als ich mir sicher war, keine zu bemerken, lief ich in die Richtung, die Reed mir gesagt hatte.
Ich schlich immer noch wie eine Verbrecherin durch das Haus. Es wäre effektiver, schneller zu sein, wenn ich gerade schon keinen hörte, aber ich traute mich nicht. Das Haus war so groß, am Ende überhörte oder übersah ich nur jemanden und ich wollte trotz meines neugewonnenen Mutes jede Art von Konfrontation vermeiden, wenn es denn ging.
Ich blieb stehen, als ich in meinem Kopf nochmal alles durchgehen musste, was Reed mir gesagt hatte, wie viele Türen ich passieren müsste. Waren es drei oder vier gewesen? Ich war mir etwas unsicher geworden. Jeder Türe hier oben war geschlossen und ich wollte ungern ins falsche Zimmer platzen.
Wenn Malias Zimmer noch das war wie damals, würde sicher keiner dort drinnen sein. Reed war sich sicher, dass Rowan genug besessen nach meiner Cousine war, um das Zimmer so zu lassen und mittlerweile konnte ich mir das auch gut vorstellen. Leider gab es eine große Chance, dass in den anderen Zimmern Leute wären und solche Konfrontationen würden ungut enden.
„Wo willst du denn hin?"
Ich erstarrte.
Fuck.
Wörter: 3991
Aloha :) Fieser Cut, ich weiß, aber Sonntag geht es weiter. Eure Meinung würde mich super sehr interessieren xx
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