6. Stalker
"The past is never dead. It's not even past." - William Faulkner
Im Haus angekommen nahm ich mir vor, erst einmal zu duschen. Ich hatte das Gefühl vor lauter Stress dieses aufwühlendes Tages mehr als üblich geschwitzt zu haben und wollte mich sauber fühlen dürfen.
Frisch gewaschen und mit einem Handtuch um mich gewickelt lief ich nach einer halben Ewigkeit aus dem Bad in mein Zimmer, machte etwas Musik an und wollte mich schon zum Schrank bewegen, um mir Kleidung aus diesem zu suchen, als ich jedoch etwas bemerkte. Meine Vorhänge waren zur Seite geschoben, so dass ich einen guten Ausblick auf das Haus nebenan hatte und in dem Zimmer gegenüber von meinem waren heute auch die Vorhänge nicht direkt vor dem Fenster, wodurch ich einen perfekten Ausblick auf Reed Wentworth bekam, der sich in diesem gerade selbst umzog. Mein Mund klappte auf von dem Anblick, der sich mir da bot, aber scheiße nochmal sah der Typ gut aus. Ich war leicht schockiert ihn zu sehen, dass er ausgerechnet das Zimmer gegenüber von meinem hatte. Ich hatte ja noch nicht einmal ganz verarbeitet, dass wir überhaupt Nachbarn waren und war nun recht sprachlos. Ganz verdattert stand ich an Ort und Stelle, war nun selbst die gaffende Nachbarin geworden, aber der Anblick von Reed ohne Oberteil war atemraubend. Wie konnte jemand in dem Alter so viele Muskeln haben? Machte er auch was anderes als Sport? Wie konnte er überhaupt Sport machen so viel wie er rauchte? Ich war beeindruckt, vergaß dadurch wohl leider etwas, dass wenn ich ihn sehen konnte, er mich genauso ebenfalls sah. Sein Blick fiel plötzlich auf mich und ich wusste wirklich nicht, was in mich gefahren war, aber ich war so überrascht erwischt worden zu sein beim Starren, dass ich mich einfach kurzerhand auf den Boden fallen ließ, aus seinem Sichtfeld verschwand. Ich kniff die Augen zu von meinem peinlichen Benehmen, konnte es nicht fassen lediglich im Handtuch bekleidet auf dem Boden zu liegen weil ich wie eine verrückte Rentnerin meine Nachbarn ausspioniere, meinen recht attraktiven Nachbarn. Oh Gott, was er nur von mir denken muss? Vielleicht hatte er mich ja gar nicht gesehen? Es war ein schwacher Versuch diese Peinlichkeit zu ertragen, aber irgendwie benahm ich mich in seiner Gegenwart meistens ziemlich lächerlich. Ich musste genervt seufzen, krabbelte außer Sichtweite des Fensters und zog mich hastig um, ehe ich die Vorhänge schleunigst zuzog, gar nicht vorher nachsah, ob Reed noch zu sehen wäre. Oh, ich freute mich absolut gar nicht auf unsere nächste Begegnung.
Da es der erste Schultag war und es noch keine Hausaufgaben zu erledigen gab oder man großartig irgendwas lernen könnte, beschäftigte ich mich anderweitig, um nicht vor Langeweile umzukommen oder vor Scham zu sterben bei der Erinnerung an mein peinliches Erlebnis. So kam es, dass ich nun Zeit mit meinem Bruder verbrachte und nachdem dieser mir von seinem Tag ausgiebig und detailliert berichtet hatte, wollte er Verstecken spielen. Ich nahm es ihm nicht mal übel. Wenn ich so jung gewesen wäre, hätte ich vermutlich auch nichts lieber getan in einem so großen und alten Haus, es hatte was Aufregendes an sich und auch wenn ich mir Spannenderes vorstellen konnte in meinem Alter, wie eine Serie anzuschauen oder theatralisch Musik zu hören und darüber nachzudenken, wie furchtbar mein Leben doch war nach diesem Tag, so erwies ich ihm den Gefallen mitzuspielen.
„Ok, die Regeln sind die: Der Sucher muss bis 50 zählen und darf nicht schummeln", erklärte Dari mir aufgeregt, während wir zusammen auf seinem Bett saßen.
Sein Zimmer unterschied sich nicht stark von meinem, abgesehen vielleicht davon, dass in seinem Schrank keine fremden Kleider hingen und er den Inhalt seiner Koffer wild auf dem Boden verteilt hatte, wofür er sicher noch Ärger kriegen wird, vor allem wenn unsere Tante das sehen sollte.
„Und weiter?", fragte ich amüsiert, fand es niedlich, wie viel Freude er hatte.
„Der Garten ist tabu und genauso die Schlafzimmer der anderen, sonst werden sie vermutlich sauer."
„Klingt logisch, dann lass uns starten, ich zähle und du versteckst dich", sagte ich und stand auf, wo er gleich den Kopf schüttelte. „Ich zähle."
„Du willst das unbedingt spielen und lieber suchen?", fragte ich, immerhin war der Teil mit dem Verstecken doch weitaus witziger als jemanden zu suchen.
„Suchen macht mehr Spaß", erwiderte Dari und ich zuckte mit den Schultern, denn wenn es ihm so lieber war, mir wäre es nämlich sowieso lieber mich einfach irgendwo versteckt zu halten und nichts zu tun anstatt das ganze Haus abzusuchen.
„Na gut, dann nicht schummeln", wies ich ihn an, woraufhin er sich mit dem Bauch auf die Matratze legte, das Gesicht in diese presste und leise zu Zählen anfing. Ich eilte sofort aus dem Zimmer, hatte keine Ahnung, wohin ich gehen sollte, rannte blindlings los und gleich einen Stock nach unten, wo es verlassen wirkte. Ursprünglich wollte ich noch weiter nach unten laufen, doch ich hörte schon bei der Treppe angekommen vom ersten Stock Liliens Stimme und hatte nun wirklich keine Lust von ihr geschimpft zu werden, weil ich alberne Kinderspiele spielte, weswegen ich im zweiten Stockwerk verweilte, den Flur entlanglief und unsicher die Türen ansah.
Das Zimmer meiner Eltern und Camerons hatten Beschriftungen an dem Holz der Türen angebracht, das Teezimmer wäre eine Option, aber es gab nicht viel zum Verstecken darin und soweit ich wusste, waren die anderen Zimmer hier verboten zu betreten, doch wie schlimm konnte es schon sein, wenn man es dennoch wagen sollte?
Wenn sie abgesperrt wären, würde ich es nicht weiter versuchen und meine Zeit vergeuden, aber ansonsten wäre es meine beste Option.
Vorsichtig näherte ich mich einer der Türen, sah zu den Bildern an den Wänden, die hier angebracht waren und die allesamt steinalt waren, vermutlich ein Vermögen wert sein mussten. Sicherlich war ein Großteil in diesem Haus eine Menge wert, so antik wie hier alles war. Es war schon gruselig zu sehen, wie viele Leute hier bereits irgendwann mal wohl gewohnt hatten, wie lange es Teil der Familie war. So viele Menschen, so viele, die längst fort waren, es war unheimlich. Ihre alten Gemälde starrten einen regelrecht von den Wänden an.
Ich rüttelte an der ersten Türe rechts neben mir, die jedoch abgeschlossen war und meine Hoffnung gleich zerstörte, doch vermutlich war jedes dieser Zimmer verschlossen. Ich gab dennoch nicht so schnell auf, eilte weiter zur Türe auf der anderen Seite des Ganges, die leider genauso verschlossen war. Was war bitte hinter diesen Türen, dass sie verschlossen wurden? War es so grauenvoll? War es wertvoll?
Ich hörte Dari von oben laut „Versteckt oder nicht, ich komme", rufen und eilte aufgeregt zur nächsten Türe, wollte nicht gleich gefunden werden und das mitten im Gang, sonst wird er nur sauer sein und ich könnte es ihm nicht einmal übel nehmen, immerhin hatte ich 50 Sekunden Zeit gehabt mir etwas einfallen zu lassen.
Die Türe befand sich direkt neben Camerons Zimmer und zu meinem Glück, ging diese auf, schien nicht wie die anderen abgeschlossen zu sein. Ohne großartig zu zögern, lief ich erleichtert in den Raum, schloss die Türe leise hinter mir und drehte mich erst da um, um zu sehen, wo ich hier gelandet war. Es war auch ein Schlafzimmer und für einen ganz kurzen Moment dachte ich, es wäre auch nur ein simples Gästezimmer, aber ganz schnell fiel mir auf, dass hier jemand wohnte oder eher gewohnt hatte. Es war staubig in dem Raum und furchtbar stickig, als ob hier seit Ewigkeiten nicht mehr gelüftet worden wäre. Das Himmelbett besaß rosafarbene Bettwäsche, an den Wänden hingen viele Bilder und auf einem wunderschönen, alt wirkenden Schminktisch lag wild verstreut Makeup, Parfümflaschen und andere Kleinigkeiten herum. Es erinnerte mich daran, wie das Bad immer aussah, wenn ich mich ausgehfertig machte, dann war auch immer ein Chaos nur noch vorhanden, doch so wie das aussah, wirkte es so, als wäre dieses Chaos vor Jahren veranstaltet worden und niemand hätte es je aufgeräumt.
Das Spiel völlig vergessen lief ich langsam weiter in das Zimmer hinein, hatte eine leise Ahnung, wessen Zimmer das war, und es zerbrach mir ein wenig das Herz zu sehen, wie wenig meine Familie mit dem Tod meiner Cousine abschließen konnte. Es sah hier so aus, als ob nichts je verändert worden wäre nach ihrem Tod.
Auf dem Boden lag eine Schultasche halb geöffnet, auf dem Schminkstuhl hing eine Jacke, die eindeutig Teil der Schuluniform meiner Schule war, den vertrauten rötlichen Farbton besaß, und es brachte die Frage auf: warum Malia hier damals gelebt hatte? Lebten Cameron und sie so lange schon hier? Ihre Eltern waren vor ihrem Tod ja noch nicht ganz so seltsam gewesen, sie müssen doch sicher Zeit für ihre Kinder gehabt haben. Ich fand die Vorstellung komisch, dass beide immer schon hier lebten und nicht zu Hause, doch wieso sollte Malia sonst ein so eingerichtetes Zimmer hier besessen haben?
Ich lief weiter mich umsehend in dem Zimmer herum, spürte mein Herz aufgeregt in meiner Brust klopfen, war richtig in meinem Element mit so vielen interessanten Dingen konfrontiert zu werden, bis mir was auffiel. Ich ergriff mit geweiteten Augen ein Bild auf einer der Regale, das genauso staubig wie fast alles hier wirkte und auf dem ich dennoch sofort meinen Onkel Charles wiedererkannte, zu einer Zeit, wo er jünger als jetzt gewesen ist, noch all seine Haare gehabt hatte. Neben ihm stand seine Frau und vor ihnen ihre zwei Kinder. Cameron, noch ein kleiner Junge, sicher keine zehn Jahre alt, hatte nun doch irgendwie minimale Ähnlichkeiten mit Dari meiner Meinung nach, doch das wirklich schockierende auf dem Foto war wohl Malia selbst. Vor Schock hätte ich das Bild beinahe fallen gelassen, jetzt verstand ich zu gut, wieso jeder immerzu so entsetzt reagierte, wenn sie mich sahen. Es war als wäre ich auf diesem Familienfoto, die Ähnlichkeit war verblüffend, die wir hatten, wir hätten Zwillinge sein können. Wie konnten wir uns nur so ähnlichsehen? Die Art wie sie lächelte glich meiner erschreckend sehr. Wie sie neben ihrem Bruder stand, die Hand auf seiner Schulter erinnerte mich daran, wie ich es bei Dari getan hätte. Wie konnte das sein?
„Ihr seht euch sehr ähnlich, aber die Details machen es aus." Ich zuckte zusammen, als die Stimme meiner Großmutter durch den stillen Raum hallte, drehte mich entsetzt zu ihr um, während sie die Türe hinter sich schloss und näherkam, mir das Bild aus der Hand nahm und es lächelnd begutachtete.
„I-Ich wollte nicht so neugierig sein", stammelte ich, wollte wirklich nicht einfach so hier eindringen, hätte das Zimmer nie betreten, wenn ich gewusst hätte, wessen es war, doch wie hätte ich auch mit so etwas rechnen können? Das hier war wie ein Grab mitten im Haus, war es denn gesund noch so an einer Toten zu hängen? Ich wusste es leider nicht zu sagen, ich hatte nie jemanden verloren, wüsste nicht, wie man damit umgeht, aber gesund war es sicher nicht.
Ich kam mir schäbig vor hier so eingedrungen zu sein, mich von meiner Neugier mal wieder so verleiten gelassen zu haben. Früher oder später würde ich mich noch in gewaltige Schwierigkeiten begeben.
„Ist schon gut. Ich komme fast jeden Tag hierher, damals, weil alles noch so vertraut gewirkt hatte, weil ich der festen Überzeugung gewesen war, sie würden vielleicht ja doch wiederkommen. Aber die Vertrautheit ist mittlerweile weg. Ihre Klamotten riechen nicht länger nach ihr, alles ist so staubig und stickig, doch ich bringe es nicht übers Herz etwas zu verändern, auch wenn Peter oft das ganze Zimmer leerräumen wollte."
„Wieso quälst du dich aber so?", fragte ich leise, konnte mir nicht vorstellen, wie schlimm es sein musste so etwas aufrecht zu erhalten. Malia war so lange fort, es war einfach grausam.
„Es ist eher ein winziger Funken Hoffnung, den ich habe und der jeden Tag ein wenig mehr erlischt."
„Wenn jemand so lange tot ist, wird er nicht wieder aus dem Grabe auferstehen", sagte ich sachte, wusste nicht wirklich, woran sie sich da klammerte, was sie dazu brachte, lächelnd das Bild wegzulegen.
„Wenn deine Eltern nicht so furchtbar stur wären, könnte ich es dir besser erklären, aber es ist so, dass... du weißt sicher, dass unsere Familie nicht so normal ist wie andere Familien, oder?"
„Ist mir aufgefallen", merkte ich an, denn das ist mir in der Tat aufgefallen, sehr gut sogar, so dass ich beinahe gelächelt hätte, nur die Atmosphäre hinderte mich daran. Hier zu lächeln erschien mir nicht richtig. Hier in diesem Zimmer hatte sie früher gelebt, war ungefähr so alt gewesen wie ich jetzt, als sie starb. Das hätte genauso gut mein Zimmer sein können, verlassen auf ewig. Irgendwann war sie das letzte Mal in diesem Bett aufgewacht, hatte das letzte Mal dieses Zimmer verlassen, ohne je zurückgekehrt zu sein.
„Nun ja, Malias Tod war auch nicht ganz normal, wie kann er es auch sein, wenn es keine Leiche gibt?"
„Es gibt keine Leiche?", fragte ich entsetzt nach, „Wie kann das sein? Wieso denkt ihr dann überhaupt, sie wäre tot?"
„Die Umstände lassen es vermuten, aber wie bereits erwähnt, bin ich die einzige, die Hoffnung hat, sie könnte nach wie vor leben. Für die anderen ist es klar, dass es unmöglich ist, aber ich..." Sie brach ab und sah sich mit einem traurigen Blick um, strich sachte über die Jacke, die über dem Stuhl hing und es zerbrach mir das Herz meine Großmutter so traurig zu sehen. Sie war zu gut für uns alle. Sie besaß ihr Herz am rechten Fleck und das war keine einfache Angelegenheit in einer so düsteren Welt, in einer Welt, wo das nicht mehr sehr häufig anerkannt wurde. Sie hatte ihre Enkelin verloren und ich denke, es muss mindestens so schlimm sein wie sein eigenes Kind zu verlieren.
Ich wollte sie aufmuntern, irgendwas Tröstendes sagen, doch sie hatte in all den Jahren wohl schon alle möglichen Worte gehört und nichts, was ich sage, würde was besser machen.
„Wieso hat sie überhaupt hier gelebt?", fragte ich vorsichtig weiter, konnte mich mit den Fragen nicht bremsen, besonders nicht, da sie bereit war zu antworten und diese Fragen interessierten mich eben brennend, immerhin hatte Onkel Charles ein Haus gehabt soweit ich wusste.
„Malia und Cameron haben eine gewisse Zeit hier gelebt, weil Charles sehr beschäftigt war, ebenso Enisa, die Mutter der beiden. Malia hat sowieso einen Großteil ihrer Kindheit bereits hier gelebt, sie war wie eine Tochter für mich gewesen, hat sich immer wohler bei Peter und mir gefühlt als bei ihren echten Eltern. Mein Sohn ist ein guter Mann, aber ein grauenvoller Vater, man kann es nun einmal nicht leugnen."
„Ja, ich habe Onkel Charles auch nie als Familienmenschen eingestuft", murmelte ich, was sie lächeln ließ und ihre Traurigkeit kurz verscheuchte.
„Ich habe sie geliebt wie meine Tochter, hätte alles für das Kind getan aber... man kann seine Kinder eben nicht vor allem beschützen. Da draußen gibt es so viel Schrecken und Dunkelheit und ich hatte wohl nie ganz begriffen, wie sehr Malia sich in falsche Kreise begeben hatte", meinte sie bedauernd. „Cameron kommt nie hierher. Er war so alt wie Dari, als sie starb, aber beide hatten ein sehr gutes Verhältnis zueinander. Er hat Wochen nicht mehr gesprochen, nachdem sie fort war, es war sowieso eine schreckliche Zeit."
„Gefunden!" Ich schrie dieses Mal wirklich auf, als die Türe plötzlich aufknallte, dabei gegen die Wand krachte und mein kleiner Bruder da stand mit einem breiten Grinsen im Gesicht und erst da erinnerte ich mich wieder an das Spiel. Das hatte ich wirklich komplett vergessen bei alledem.
„Oh Gott", sagte ich und hielt mir die Stelle, unter der sich mein Herz befand, „du hast mir fast einen Herzinfarkt verpasst."
„Ich hätte was Kreativeres von dir erwartet. Willst du wissen, was für coole Verstecke ich bei der Suche nach dir gefunden habe?", fragte er glücklich, schien überhaupt nicht zu verstehen, was mit diesem Zimmer war, was hier los war, wie sollte er auch? Mein Bruder war zu jung, um so etwas sofort zu begreifen, um sich mit Dingen wie den Tod zu beschäftigen, das wollte ich auch gar nicht. Er sollte ein Kind sein dürfen und nicht mit den Tragödien der Familie konfrontiert werden müssen.
„Ja, es wäre wohl besser, wenn wir gehen", schlug Großmutter vor und drückte mich zur Türe, wo ausgerechnet in dem Moment Cameron vorbeilief, stockte, als er die offene Türe sah und uns hier drinnen erblickte.
Er schien was sagen zu wollen, ich sah wie die verschiedensten Emotionen sich in seinem Gesicht widerspiegelten. Schock, Trauer, Wut, Erschöpfung, doch letztendlich sagte er nichts und lief nur in sein eigenes Zimmer nebenan. Wunderbar. Wir waren keine paar Tage hier und schnüffelten schon im Zimmer seiner toten Schwester herum. Innerlich schlug ich mir gegen die Stirn für diese Aktion, aber das Timing war einfach grauenvoll gewesen.
„Erwähne unser nettes Gespräch doch nicht vor deinen Eltern, mein kleiner Engel, du weißt, wie dein Vater sein kann", bat mich Großmutter noch und ich nickte lächelnd, würde gewiss nichts erwähnen, ehe ich mich von Dari schon mit nach oben ziehen ließ. Für jemand so kleinen, hatte er richtig Kraft, es war schwer nicht über meine eigenen Füße zu stolpern bei dem Versuch, schnell die Treppen hochzukommen, wo ich gleich vor Erschöpfung nach Luft hecheln musste.
„Wohin denn so eilig?", fragte ich kichernd, folge ihm dennoch geschwind in das Musikzimmer hinein, das am Ende des Ganges lag.
Es war ein großes Zimmer, in dessen Mitte ein alter Flügel stand, dessen Tasten vergilbt waren und wo der Hocker schon ein paar Löcher im Stoff aufwies. Einige uralte Sofas waren in einer Ecke zu einer gemütlichen Sitzecke platziert worden und ansonsten befanden sich nur einige viele Schränke im Raum, die alle optisch überhaupt nicht zueinander passten, alles eher wie eine Abstellkammer wirken ließen.
„Ich dachte erst, du versteckst dich vielleicht in einem Schrank und dabei habe ich dann das gefunden." Er öffnete einer der Schranktüren, sah mich erwartungsvoll an und verwirrt zog ich die Stirn kraus, doch dieser schien leer zu sein.
„Ahja", sagte ich, versuchte zu verstehen, was er hier sah, was ihn zum Lachen brachte. „Du musst nach oben schauen", tadelte er mich belustigt von meiner Unwissenheit und ich näherte mich dem Schrank, sah in dessen Inneren nach oben und staunte nicht schlecht. Dort, wo der obere Teil des Schrankes sich nun befinden müsste, war stattdessen ein Loch, das direkt in die Zimmerdecke zeigte. Dort oben war es stockfinster und obwohl ich von Natur aus sehr neugierig war, so würden mich keine zehn Pferde da nach oben kriegen. Ich hatte genug Horrorfilme gesehen, um zu wissen, dass ein düsterer, geheimer Dachboden nichts Gutes beinhalten konnte und ich war nicht scharf darauf, alte Geister zu wecken oder von einem Monster gefressen zu werden.
„Cool, nicht wahr? Sieht aus wie ein Dachboden oder ein Hohlraum, da könnten vielleicht Schätze versteckt sein."
„Ja und diese Schätze bleiben besser verborgen", meinte ich und schloss den Schrank. Ich hatte schon genug Probleme und wollte nicht noch Geister oder ähnliches sehen müssen, das wäre definitiv zu viel für meine armen Nerven.
„Ally bitte!", quengelte er beleidigt. „Das ist so aufregend."
„Mag sein, aber auch sehr gruselig, was hast du denn noch so gefunden?"
„Sag ich nicht, du bist eine Spielverderberin." Beleidigt lief er an mir vorbei, geradewegs in sein Zimmer, knallte die Türe hinter sich zu und ich schüttelte seufzend den Kopf. Kinder.
Es wurde langsamer zur Gewohnheit für mich, vor dem Abendessen spazieren zu gehen. Ich wusste gar nicht so recht, wieso ich mir das eigentlich antat, wenn ich doch jedes Mal auf Reed traf, den ich nun ganz sicher alles andere als sehen wollte, aber es tat mir gut etwas zu laufen und das an der frischen Luft. Ich wusste nicht wirklich, wohin ich sollte. Es befand sich zwar ein kleines Waldgebiet offenbar nicht sehr weit von hier entfernt, doch bis ich dort wäre, müsste ich sicher längst wieder daheim sein. Ich wollte die kleine Grünanlage meiden, wo ich gestern Reed angetroffen hatte, aber es war ein hübscher Ort gewesen und wie groß war die Wahrscheinlichkeit schon, dass er erneut dort wäre? Er konnte kaum immerzu dort auftauchen, wo ich mich auch befand, oder? Bei meinem Glück würde ich nur mal wieder auf ihn treffen, aber da ich nicht weiter nur durch die Nachbarschaft wandern wollte, blieb mir kaum was anderes übrig. Ich lief in Richtung Grünanlage, atmete auf, als ich die Bank, auf der Reed gestern gesessen hatte, leer vorfand. Er war also nicht hier. Ich lief unbesorgt weiter einer der Wege entlang. Die Sonne kam hinter einer dichten Wolkendecke hervor, ließ es gleich viel Wärmer werden, so dass ich mir meinen Cardigan auszog und um die Hüfte band. Es war friedlich hier, so viel ruhiger als man es von einer Millionenstadt erwarten würde. Ich könnte das nächste Mal eine Decke und ein Buch mitnehmen und mich wie ein paar andere es bereits taten auf die Wiese damit legen, die Sonne genießen. Es wäre sicher nett. Zwar könnte ich das auch in meinem Garten, aber lange würde man bei dem vollen Haus da keine Ruhe haben.
Seufzend blieb ich stehen, sah zu den wenigen Leuten auf der Wiese und überlegte mir, mich auch einfach so etwas zu setzen, selbst wenn ich keine Decke oder ein gutes Buch bei mir hätte. Ich könnte etwas Musik hören und meinen Gedanken nachgehen. Leider wurde aus meinen Plänen nichts, als sich da jemand neben mich stellte, mir sofort der Geruch von Rauch in die Nase stieg, vermischt mit einem gut riechenden Parfum.
„Ist es dein Hobby andere zu beobachten?" Ich sah zu Reed, der sich mit einer Zigarette in der Hand neben mich stellte, meinem Blick zu den Leuten folgte. Was tat er denn nun hier? Es war so klar gewesen, dass ich nicht so sicher war, er natürlich mir noch über den Weg laufen musste heute. Ich hatte ihn sicher nicht so schnell wiedersehen wollen nach der Aktion von vorhin. Ich wurde rot im Gesicht, biss mir auf die Unterlippe vor Scham bei der bloßen Erinnerung daran.
„Ich beobachte niemanden speziell, ich schaue eher die Wiese an und denke nach", verteidigte ich mich und er lachte auf. „Ahja, die Wiese. Und vorhin hast du nur meine Zimmermöbel betrachtet?"
„Es ist doch nicht meine Schuld, dass unsere Zimmer gegenüber voneinander liegen und du dich mit offenen Vorhängen umziehst!", sagte ich leicht gereizt, dachte nicht gern daran zurück, wie unverschämt gut er ohne Oberteil aussah, dass er mich beim Gaffen erwischt hatte und das auch noch während ich selbst nur ein Handtuch um mich gewickelt hatte.
„Ich hätte nicht damit rechnen können, dass meine Nachbarin ein Stalker ist", merkte er an, lief weiter und ich sah ihm empört nach, ehe ich ihm kurzerhand folgte.
„Ich bin keine Stalkerin!"
„Und doch verfolgst du mich."
„Weil ich das nicht auf mir sitzen lasse", sagte ich schnippisch, verstand sein Problem nicht wirklich. Hatte er mich nur angesprochen, um mich zu ärgern?
Ich knallte fast gegen ihn, als er einfach anhielt, sich zu mir umdrehte und kurz musterte.
„Was machst du überhaupt schon wieder an diesem Ort? Habe ich dir nicht erst gestern gesagt, dass du besser aufpassen sollst?", fragte er und lenkte vom Thema ab.
„Es ist nur eine Grünanlage", sagte ich leicht verwirrt, was so schlimm an diesem Ort war. Sicher wollte er nur nicht, dass ich seinen geheimen Lieblingsplatz klaue. Er verdrehte die Augen von meiner Aussage, fast als wäre es naiv von mir das zu glauben. Was wusste er bitte, was ich nicht wusste? Ich runzelte die Stirn, hatte hier sicher nichts Bedrohliches ausgemacht, selbst nicht Sasha, den er ja offenbar nicht mochte.
„Es ist-", begann er gerade zu erklären, als da ein Hupen ihn jedoch unterbrach. Ich sah zur Straße, bei der wir fast angekommen waren, und wo ein großer Range Rover hielt. Das Fenster zur Beifahrerseite wurde heruntergelassen und ich sah zu Chris, der hinter dem Steuer saß und grinsend zu uns blickte, lasziv mit den Augenbrauen wackelte bei dem Anblick von uns beiden zusammen.
„Kommt die Kleine mit?", fragte er.
„Ganz sicher nicht!", sagte Reed, bevor ich nur den Mund hätte öffnen können, warf seine Kippe in den nächsten Aschenbecher und lief zum Auto. Er schenkte mir keinerlei Beachtung mehr, als er einstieg und Chris drängte loszufahren. Verwundert sah ich dem Auto noch nach, seufzte trübe von diesem verwirrenden Jungen. Ich benahm mich in seiner Gegenwart 80 Prozent der Zeit wie ein Trottel und er benahm sich 100 Prozent der Zeit über wie ein Arsch. Es war zum verrückt werden, vor allem weil es so aussah, als ob ich ihn nicht so meiden könnte wie ich es gern wollte.
Wörter: 4019
Aloha :) Ich hoffe euch hat das Kapitel gefallen. Alice unser kleiner Stalker xD Ich glaube mir wäre es sehr unangenehm mein Fenster gegenüber von einem heißen Kerl zu haben xx
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top