43. Die Wahrheit

"Instinct is a marvelous thing. It can neither be explained nor ignored." - Agatha Christie

Der Rest meiner Familie kam nicht mehr so schnell zurück. Sie waren allesamt beim Quartier und sprachen wohl über das Kommende, während ich in meinem Zimmer hin und her tigerte und nicht weiterwusste. Morgen wäre Wochenende und somit keine Schule, das war auch der Grund, weshalb mein Bruder noch bei mir im Zimmer war und auf meinem Bett Nintendospiele spielte, nicht bereits im Bett lag, doch an Schlaf war gerade eben nicht zu denken, dafür war hier alles zu aufwühlend.

Ich wollte Elin am liebsten anrufen, aber ich wusste, dass sie gerade auf irgendeiner Familienfeier war, beschäftigt vorerst wäre. Ich spielte mit dem Gedanken Daisy oder Hayden zu kontaktieren, nur wussten sie mehr? Vermutlich schon, ihre Familien waren nicht so schlimm darin, ein Geheimnis aus allem zu machen wie meine, besonders, da Hayden praktisch kein Kind mehr war, zumindest war er weniger ein Kind als Daisy und ich.

Hastig schrieb ich beiden eine Nachricht, was sie wegen Chicago wussten, doch ich erhielt keine sofortigen Antworten und lief nervös weiter herum, schaffte es nicht mich zu beruhigen, dafür schwirrte zu viel in meinem Kopf herum, dafür hatte ich zu viele Fragen und zu wenig Antworten. Die Ahnungslosigkeit brachte mich noch um.

„Willst du auch mal spielen? Vielleicht beruhigt dich das?"

„Ich muss mich nicht beruhigen, ich habe zu viele Fragen."

„Habe ich auch, aber die behandeln uns wie Kinder, wir werden Ewigkeiten auf Antworten warten", erwiderte Dari und ich unterdrückte das Verlangen ihm mitzuteilen, dass er im Gegensatz zu mir nun auch wirklich noch ein Kind war. Es war süß von ihm, dass er mich ablenken wollte, doch kein Spiel würde das gerade schaffen, nicht, wenn ich nicht wusste, was sein würde, ob wir in Gefahr waren oder nicht.

„Vermutlich hast du recht", murrte ich stattdessen, ließ mich auf das breite Fensterbrett nieder und sah nach nebenan. In dem Fenster gegenüber von meinem brannte kein Licht, doch wie sollte es auch, wenn Reed fort war? Ob es ihm wohl gut ging? Wusste er schon Bescheid? War er besorgt darüber?

„Natürlich habe ich das, aber wenn wir es richtig anstellen, können wir trotzdem genug herausfinden", sagte er und klappte das Gerät zu, sah freudig zu mir.

„Wie meinst du das?"

„Ich belausche die Hälfte aller Gespräche hier im Haus, die Wände sind ziemlich dünn und wenn man leise ist, bemerken die einen nicht, so weiß ich mehr, als sie vermutlich wollen, dass ich weiß." Meinte er das gerade ernst?

„Zum Beispiel? Was hast du alles belauscht?", fragte ich neugierig, stand wieder auf und sah meinen kleinen Bruder verblüfft an. Er war gut darin Dinge herauszufinden, so wie er in so kurzer Zeit den Durchgang zum Dachboden gefunden hatte. Ich sage ja, dass er schlimmer als ich war, wenn es um die Neugier ging, vor ihm konnte man nichts auf Dauer verborgen halten.

„Mum und Dad haben seit Ewigkeiten irgendein Geheimnis, was dich betrifft, sie reden dann immer darüber, dass sie es dir sagen müssen. Ich dachte anfangs, es wäre wegen den Wächtern, als das alles rauskam, nur die Gespräche gehen weiter, auch jetzt noch, aber ich weiß nicht, was das Geheimnis ist. Sie meinen nur immer, dass sie in Sorge um dich sind und du nicht alles weißt und verstehst und noch zu jung bist." Ein Geheimnis? Was gab es denn noch für Geheimnisse? Reichte es nicht langsam damit?

„Naja, hoffentlich sagen sie es mir bald, und weiter?", fragte ich, wollte lieber mehr zu den Wächtern wissen. Es war zwar schräg, dass sie mir noch irgendwas Wichtiges und Geheimes mitteilen wollten, doch nach allem, was sie bisher von mir verheimlicht hatten, wunderte es mich eigentlich kaum mehr, und vermutlich war es nur irgendwas bezüglich meiner Kräfte oder so, zumindest hoffte ich, es wäre nichts anderes super Schräges.

„Tante Lilien redet oft über Malia und bringt Hinweise auf, dass sie noch leben könnte, doch Oma will davon nie was hören. Sie hat aber selbst ihre Geheimnisse, sie schaut sich immer irgendwelche Bilder und Gegenstände an, die sie in einer Truhe verschließt in ihrem Schlafzimmer, und Cameron telefoniert jeden Abend mit jemanden und redet dann auch meistens über dich oder Malia", plapperte er munter herunter und erstaunt sah ich ihn an, doch wie viel bekam der Kleine bitte mit? Dass Lilien glaubte, Malia würde leben, war wirklich eine Neuigkeit, noch eher war es aber verblüffend zu hören, dass meine Großmutter nichts davon wissen wollte, war sie nicht diejenige, die noch irgendwie glaubte, dass sie lebt? Die immer mit der Hoffnung lebte, sie würde irgendwann zurückkommen? Na gut, ich musste das auch nicht verstehen.

„Wow", staunte ich, wusste nicht, was ich sagen sollte, doch es waren sehr viele Informationen und ich wusste nicht, welche brauchbar waren und welche weniger.

Lilien glaubt, dass Malia lebt, zu gerne würde ich wissen, wieso sie das denkt, da ich das als ziemlich unwahrscheinlich empfinde, nicht, nachdem ich gesehen hatte, wie Kellin drauf ist. Dass Cameron Geheimnisse hat, wusste ich bereits, auch wenn ich gern wüsste, was es war, und dass meine Oma irgendwelche Bilder anschaut, ist jetzt nicht ganz so ungewöhnlich, sie ist eben sehr in solchen Erinnerungen vernarrt, so wie sie Malias Zimmer auch nicht wagt anzurühren. Meine Familie war aber zusammenfassend betrachtet wirklich einfach nur schräg. Wir hatten wirklich mehr Geheimnisse als irgendwer sonst und ich verstand einfach nicht wieso. War das so ein Ding der Familie? War es irgendwie veranlagt so zu sein? Es war ziemlich anstrengend, doch man fand sich allmählich damit ab. Ich war mir sicher, dass wenn jeder mal reinen Tisch machen würde, wir deutlich weniger Probleme hätten, aber meine Familie redet nicht gern über die schlimmen Dinge.

„Ja, es ist super mega viel, aber es macht Spaß sie alle zu belauschen. Es gibt keinen Fernseher hier und du bist so oft weg gewesen und manchmal ist es auch einfach interessant", verteidigte er sein Handeln und ich musste lächeln. „Also, solange du mir nicht heimlich nachspionierst, kann ich dir nur empfehlen, weiterzumachen."

„Ich habe dich mal versucht zu belauschen, aber du sagst nie etwas Interessantes", erwiderte er und brachte mich nur noch mehr zum Lachen. „Charmant, wirklich charmant."

„Ich kann nichts dafür, dass du nur über Mädchenzeug redest."

„Ok, ok, aber versuch weiter die anderen im Auge zu behalten, vielleicht findest du ja heraus, was sie alle so für Geheimnisse haben? Aber akzeptiere wenigstens ein bisschen Privatsphäre, ok?"

„Klaro", erwiderte er grinsend und sprang vom Bett. „Ich mache mich gleich an die Arbeit und sehe, ob Mum oder Oma was reden." Bevor ich ihn stoppen könnte, war er schon weg, und amüsiert setzte ich mich nun aufs Bett, sah auf mein Handy, wo Hayden mir geantwortet hatte.

Viel Ärger im Anmarsch, verlass lieber nicht allein das Haus. Ich schreibe dir später mehr, es ist wichtig, was ich dir zu sagen habe.

Ich seufzte, doch ich hatte mit mehr gerechnet, immerhin war er mit seinen Eltern enger im Kreis, er müsste doch Bescheid wissen, informierter sein als ich.

Ich schrieb ihm schnell, dass ich schon nicht allein wohin gehen würde und er mir sagen soll, wenn er mehr weiß.

Frustriert lehnte ich mich zurück und sah meine Zimmerdecke an, wusste nicht wirklich, was ich tun sollte, da mir nicht nach Schlafen war, es niemals könnte bei allem, was hier los war, aber was ich sonst unternehmen sollte, wusste ich auch nicht, bis da mein Bruder schon wieder in mein Zimmer gestürmt kam und das so viel schneller als gedacht.

„Sie sind zurück!"

„Haben sie irgendwas gesagt?", fragte ich neugierig und stand augenblicklich auf, hätte gedacht, keiner von ihnen würde heute noch zurückkommen.

„Sie reden alle durcheinander und Cameron ist die Treppe hochgelaufen, also musste ich weg."

„Vielleicht sollte ich mal runter", schlug ich vor, da wenn sie was besprachen, mir noch eher was sagen würden als Dari.

„Versuch dein Glück", meinte dieser nur und lief in sein eigenes Zimmer, während ich es wirklich versuchen würde, nach unten lief, im zweiten Stock jedoch innehielt, als ich Cameron sah, der aus dem Teezimmer kam, erschöpft wirkte.

„Was gibt es neues?", fragte ich ihn sofort neugierig und er schüttelte den Kopf, strich sich durchs Haar.

„Es ist ein Chaos. Die Reiter streiten ab irgendwas hiermit zu tun zu haben, nur Zeugen belegen, es wären die Reiter, und nun weiß keiner weiter."

„Wieso sollten sie es aber abstreiten?"

„Ich habe keine Ahnung, es ist alles verwirrend und wenn ich ehrlich bin, will ich nur noch ins Bett."

„Aber was wird nun unternommen? Ich bin besorgt wegen Reed, weil er offenbar das Land verlassen hat und er sollte sicher nicht-"

„Es sollte dir egal sein, was aus diesem Wentworth wird!", unterbrach Cameron mich harsch, und erschrocken von der Kälte seiner Worte, sah ich ihn geschockt an. Wie konnte er das sagen? Sein Hass der Familie gegenüber war langsam extrem, er konnte doch nicht jeden so hassen wegen Kellins Taten.

„Aber-"

„Wann verstehst du endlich, dass man diesen Leuten nicht trauen kann? Sieh dir diese Familie genau an, sie sind ein Haufen an Mördern und schrecklichen Personen. Sie sind nicht deine Freunde, das sind Verrückte, Egoisten, Leute mit dunklen Vergangenheiten."

„Nur weil Kellin eine üble Person ist, muss das nicht auf alle anderen der Familie auch zutreffen!"

„Muss es nicht? Seine Eltern und Brüder sind kein Stück besser. Sein Vater ist ein arrogantes Arschloch, das nach Ansehen, Reichtum und Macht geht, seine eigenen Kinder verstoßen würde, wenn sie nicht mehr ins perfekte Bild passen. Er hat Hayden dafür damals bereits aus der Familie gekickt. Seine Mutter ist eine Hexenfreundin, Hayden ist ein egoistisches, arrogantes Schwein und Reed ist mindestens genauso übel wie Kellin selbst!"

„Woher willst du das wissen?", fragte ich streitlustig, doch so wie er das sagte, klang es, als würde er sie alle gut kennen, was ich mir kaum vorstellen konnte bei dem Hass zwischen beiden Seiten. Die Familie war sicher schräg, ich musste nur an die Mutter denken und wusste es, doch welche Familie war schon perfekt? Unsere war es gewiss nicht. Hier verbarg jeder vor jedem was, wir waren kein Stück besser dran.

„Man hört vieles und sieht vieles, wenn man sie als Nachbarn hat, und für deine Sicherheit bin ich froh, dass Reed fort ist, du solltest nicht das nächste junge Mädchen sein, das tot ist."

„Das nächste? Geht es hier wieder um Malia, weil wenn ja, dann-"

„Nein, es geht nicht um meine Schwester, sondern um Grace", merkte Cameron gereizt an und perplex von dieser Wende, verstummte ich, doch Grace? Was wusste er schon von Grace? Sie starb lange bevor er geboren wurde, er könnte sie gar nicht kennen, war nicht da gewesen.

„Grace?", fragte ich deswegen irritiert, was ihn dazu brachte, trocken aufzulachen. „Hast du dich nie gefragt, wieso das Mädchen tot ist? Ich sage ja, dein Reed ist kein Stück besser als Kellin."

„Aber Reed hat Grace nicht entführt und ermordet! Das alles war ein Unfall."

„Entführt nicht, aber auf dem Gewissen hat er das arme Ding sehr wohl", stellte er klar und entsetzt sah ich ihn an. Das war eine Lüge! Ich wollte zumindest glauben, dass es eine war, nur wieso sollte Cameron mich so dreist und ohne zu zögern anlügen? Hatte Reed Grace getötet? Ich verstand die Welt nicht mehr, war so verwirrt, konnte es mir nicht vorstellen, es würde gar keinen Sinn ergeben. Reed und Grace waren doch ein Paar, sie waren glücklich gewesen, oder nicht? Eigentlich hatte ich überhaupt keine Ahnung, was zwischen den beiden lief, was gewesen war, aber das zu glauben erschien mir so krank. Jeder meinte, es wäre ein tragischer Unfall gewesen, inwiefern trug Reed jedoch Schuld an der Sache?

„Jetzt weißt du Bescheid und wenn es nichts weiter zu bereden gibt, dann würde ich gerne ins Bett", sagte Cameron und ich wollte ihn gehen lassen, war zu schockiert von dem, was ich erfahren hatte, konnte es nicht fassen, wollte es nicht glauben. Kurz schob ich den Schock jedoch beiseite, musste andere Dinge klären, wofür ich ihn bräuchte. Ich hatte nach wie vor Fragen und ich brauchte Antworten, könnte mich später selbst fragen, inwiefern seine Worte der Wahrheit entsprachen.

„Stimmt es, dass ein großer Krieg bevorstehen könnte?", fragte ich, sah, wie er verwirrt wirkte. „Meine Mum und Großmutter haben darüber geredet, wegen den Anzeichen, dass Kellin wieder zurück ist und die Reiter und dass vor fast 15 Jahren es ähnlich gewesen sein soll, was ist, wenn-"

„Lass das die Sorge der Erwachsenen sein, Alice, du bist zu jung, um dir den Kopf darüber zu zerbrechen."

„Ich denke nur... naja, ich habe... ich habe Malias Tagebuch gelesen und-"

„Du hast bitte was?", fragte Cameron mich laut, und nur weil unten offenbar noch eine weitaus lautere Diskussion stattfand, hörte keiner, was hier vor sich ging. Würde mich aber nicht wundern, wenn Dari dennoch alles hört.

Ich wollt das Tagebuch eigentlich nicht erwähnen, wüsste nur leider nicht, wie ich das alles hier ansprechen sollte, ohne es zu erwähnen, glaubte vielleicht würden Antworten ja in diesem liegen, die uns allen helfen könnten und ich würde dafür Camerons Wut auf mich ziehen müssen.

„Es tut mir leid, ich-"

„Du hast kein Recht dazu!"

„Weiß ich doch, aber-"

„Ich habe Großmutter tausende Male gesagt, dass sie das Zimmer entweder abgesperrt halten soll oder endlich ausräumt, aber nein und nun schnüffelt jeder in ihren verfluchten Sachen herum!"

„Ich wollte wirklich nicht schnüffeln", entschuldigte ich mich, fühlte mich elendig und würde das verdammte Buch gleich morgen wieder zurückbringen, es sein lassen, es war von Anfang an ein Fehler gewesen, ich wusste es, doch es hatte mir neue Informationen beschaffen, die ja wichtig sein könnten.

„Wieso hast du es dann getan?"

„Ich war neugierig. Jeder erzählte von Malia und Kellin und dann war da das Buch und ich habe versucht zu verstehen, doch du musst mir zuhören, wenn vor fast 15 Jahren ähnliches ablief, vielleicht kann man aus ihrem Tagebuch Hinweise finden, irgendwas, das helfen könnte, ich habe gelesen, wie sie mit den Reitern arbeiteten und-"

„Alice, die Hälfte von allem, was du das gelesen hast, ist nutzlos", sagte Cameron nun deutlich sanfter, wirkte bedauernd, sah mich mitleidig an und ich kapierte nicht, was das nun wieder sollte. Was meinte er?

„Aber es ist ihr Tagebuch!"

„Und Malia war keine vertrauenswürdige Person."

„War sie nicht?", fragte ich nun komplett irritiert, doch ständig wird mir vorgeschwärmt, wie toll sie doch war und nun soll man ihr nicht vertraut haben können? Das Widersprach sich meiner Meinung ja sehr.

„Meine Schwester ist eine wundervolle Person gewesen, die es schaffte, jeden für sich zu gewinnen, aber psychisch... sagen wir mal einfach sie hatte einige Probleme, besonders, wenn es darum ging, Fiktion und Realität zu unterscheiden. Vor den Wächtern verbrachte sie einen Großteil ihrer Jahre in psychischen Einrichtungen oder in der Gesellschaft sehr zwielichtiger Leute, sie hatte viele Probleme, man kann nichts glauben, was in ihrem Buch steht."

„Aber... aber...", brachte ich hervor, wusste nicht, was ich sagen sollte. Also war alles, was ich gelesen hatte, vielleicht nicht echt? Vielleicht war alles nur wirres Zeug? Waren alles nur die Worte einer kranken Person? Wieso hatte vorher nie jemand erwähnt, dass Malia krank war? Wieso hatte man das so verschwiegen? Diese Information traf mich unerwartet, kam so überraschend und änderte alles.

„Ist schon gut, ich weiß, es kommt überraschend, wenn jeder nur über das Gute spricht, doch es gibt immer Schattenseiten und das waren ihre und vielleicht verstehst du nun endlich besser, wieso du die Sache endlich sein lassen solltest."

Ohne weiter was zu sagen, ging er in sein Zimmer und ließ mich überfordert zurück.

Es war schwer mich dazu zu bringen, nach oben zu gehen, zurück in mein Zimmer, doch ich hatte gerade so vieles erfahren und wusste nicht weiter. Sagte er die Wahrheit? War es die Wahrheit, dass Reed ein Mörder ist? War es die Wahrheit, dass Malia psychisch labil war? Ich hätte fast aufgeschrien, als mein Handy zu Vibrieren anfing, und nahm es zur Hand, wo ich sah, dass Elin versuchte mich anzurufen. Eigentlich war mir gerade nicht nach Telefonieren, doch gleichzeitig wollte ich jemandem von allem erzählen, wollte ihre Meinung zu allem wissen, nicht mehr allein sein müssen mit diesen Neuigkeiten.

„Ja?", fragte ich monoton, als ich den Anruf annahm.

„Was ist denn los? Du wirkst ja richtig schlecht gelaunt."

„Der Tag war... kompliziert."

„Uh, klingt nach Neuigkeiten, ich habe auch welche, aber du zuerst", sagte sie aufgeregt und ich erzählte ihr so die nächste halbe Stunde alles, was war, während ich zurück in mein Zimmer ging. Dass Reed weggezogen ist, dass die Reiter Chicago angegriffen haben, was Cameron mir erzählte, was Dari mir berichtet hatte.

Ohne viel einzuwenden, hörte sie mir zu, staunte an einigen Stellen, wirkte sonst recht sprachlos jedoch.

„Das ist wirklich ein komplizierter Tag", sagte sie, als ich schließlich fertig gesprochen hatte.

„Ja, und ich weiß nicht weiter. Mag sein, dass alles, was ich in dem Buch gelesen habe, eine Lüge ist, dass Reed kaum besser als Kellin ist, und ich glaube langsam jeder in meiner Familie verbirgt irgendwas, und obendrein muss ich nun Angst haben, dass irgendwelche Verrückte uns alle umbringen."

„Aber genau das ist es doch. Du meinst, jeder verbirgt irgendwas und dass Cameron sich eh seltsam benimmt. Vielleicht lügt er. Er will, dass du Reed hasst und er will, dass du nicht weiter bezüglich Malia nachforschst."

„Aber wieso?", fragte ich, da ich es nicht verstand. Klar, er hasste die Wentworths, aber so etwas zu behaupten war kalt und seine eigene tote Schwester als Lügnerin darzustellen, war ebenfalls kalt.

„Ich habe keine Ahnung, ich würde gerne vorbeikommen und diesen Typen mal kennen lernen", gestand sie und ich musste lächeln. „Er ist sonderbar, aber irgendwie ist das jeder in meiner Familie, sogar mein Bruder. Ich will gar nicht wissen, wie verrückt Acyn und Riley eigentlich sind, wenn Dari schon so ein Unruhestifter ist."

„Ja, dieser kleine neugierige Zwerg, vielleicht kommt er ja ganz nach den älteren beiden", lachte Elin erheitert. „Ich will gar nicht wissen, wie viele Gespräche er von uns schon belauscht hat."

„Ich auch nicht", meinte ich amüsiert, war froh mit ihr zu reden. Es wurde leichter mit allem fertig zu werden.

„Naja, zerbrich dir nicht zu sehr den Kopf wegen Cameron. Frag unauffällig mal jemand anderen in deiner Familie dazu oder frag Hayden." Ich verdrehte die Augen, doch seit das mit Reed und mir Geschichte war, drängte sie mich dazu, mir doch einfach Hayden zu krallen, der in ihren Augen sowieso sympathischer ist, obwohl sie ihn nicht einmal kannte.

„Mal sehen, was ich machen werde, erst hoffe ich mal, dass sich alles wegen den Reitern schnell klärt, ich will nicht unbedingt die Apokalypse heraufbeschwören."

„Das klingt so absurd, dir ist klar, dass jeder zweite Actionfilm über den Untergang der Welt oder so geht? Ich glaube ja, wir müssen uns ein wenig von dem, was wir kennen, distanzieren und die Sache anders betrachten, wenn wir das alles verstehen wollen."

„Wie meinst du das bitte?"

„Naja, wir denken bei dem Wort Apokalypse meistens an kaputte Gebäude oder was auch immer in der Bibel steht, doch du meinst selbst, dass offenbar alle Religionen der Welt existieren, wir sollten uns also auch mit ihnen allen beschäftigen und deren Beschreibung der Apokalypse."

„Du weißt, dass es recht viele Glaubensrichtungen gibt?", fragte ich sie, da das eine anstrengende Arbeit sein würde.

„Klaro, aber man muss vorbereitet sein."

„Mal sehen, was sich bei allem, was hier abläuft und der Schule, machen lässt."

„Kriegen wir sicher hin, aber bevor ich es vergesse, muss ich dir meine großen Neuigkeiten mitteilen."

„Dann schieß mal los, ich hoffe sie sind besser als meine."

„Ich habe herausgefundenen, was die Zahlen bedeuten", sagte sie ganz euphorisch und ich selbst richtete mich gleich ein wenig mehr auf, aber damit hatte ich nicht gerechnet, diese Zahlen waren längst aus meinem Kopf erloschen bei allem, was hier sonst ablief, das waren in der Tat bessere Neuigkeiten.

„Wie hast du das geschafft?"

„Völliger Zufall, ich habe einen alten Brief von meiner Oma gelesen bei dieser ätzenden Familienfeier... es ist ein Datum, Alice."

„Aber es gibt keinen Tag 95, das haben wir doch geklärt."

„Das ist es ja. In Korea und anderen Ländern werden die Daten anders aufgeschrieben, das Jahr kommt zuerst, dann der Monat und dann der Tag. Somit handelt es sich um den 7. September 95."

„Du bist ein Genie Elin, wie sind wir da nicht früher draufgekommen? Es ergibt so viel mehr Sinn als irgendwas sonst", sagte ich, da es so auf jeden Fall mehr Sinn ergab, konnte es kaum glauben. Es war ein Datum. Ein verfluchtes Datum. Die Antwort war so simpel gewesen, so verflucht simpel im Grunde.

„Weiß ich doch, wir beide sind einfach nur manchmal etwas langsamer im Denken, so wie es aussieht", lachte sie erheitert.

„Aber was war an dem Tag?"

„Frage ich mich auch, das habe ich leider noch nicht herausgefunden. Ich dachte zuerst, es würde vielleicht in Malias Tagebuch stehen..."

„Aber 1995 wäre Malia gerade einmal um die acht oder neun Jahre alt gewesen und hat sicher nichts Brauchbares irgendwo aufgeschrieben."

„Eben, ich habe so ein wenig nachgeforscht, was in dem Jahr und genau dem Tag in der Welt geschehen ist."

„Und?"

„Nichts, aber auch wirklich gar nichts, ich habe keine Ahnung, was an dem Tag in dem Jahr geschehen sein soll, was so wichtig ist, dass Kellin es aufschreibt."

„Dann stehen wir im Grunde immer noch ohne etwas da", meinte ich und hatte schon so große Hoffnungen gehabt, doch meine Freude verflog damit nur gleich wieder.

„Verdammt", fluchte sie und ich versuchte mich zu erinnern, ob ich irgendwas über das Jahr 1995 wusste, das eine Hilfe darstellen würde, doch keiner in meiner Familie hatte je irgendwas Spektakuläres über dieses Jahr berichtet und...

„Ich hab's", meinte ich leise, glaubte langsam ein Bild in meinem Kopf zu erschaffen, endlich schlauer zu werden. Es kam mir vor, als ob man die letzten Teile eines gewaltigen Puzzles zusammenlegen würde, endlich versteht, was das Bild einem zeigen sollte.

„Was hast du? Weißt du, um was es geht?"

„Ja, es ist nicht 1995, sondern 1895."

„1895? Wieso 1895?"

„Meine Mutter meinte, es wäre einer der Jahre gewesen, in denen der große Krieg gedroht hatte, es war ein besonderes Jahr für die Wächter, eins von vielen besonderen Jahren. Es war sogar das letzte Jahr der Dunklen Tage. Es würde passen."

„Ich schaue gleich mal im Internet, ob ich zu dem Datum was finden kann", sagte Elin und ich hörte, wie sie sich an ihren Laptop setzte und in die Tasten haute. Geduldig wartete ich, bis sie nach Infos gesucht hatte, fragte mich selbst, wieso Kellin einem so einen Hinweis liefern würde, doch ich hatte keine Ahnung, was er zu bezwecken versuchte.

„Nichts. Hier wird nichts Großes an dem Tag erwähnt, was für uns wichtig sein könnte."

„Es muss eine Kleinigkeit sein, irgendwas, das für die Wächter relevant ist. Sicher steht es dann nicht im Internet."

„Ich denke langsam eher, es ist etwas, das du verstehen musst. Ich meine, wir sind uns einig, dass dieser Kellin ein komisches Spiel spielte. Erst tut er so, als ob er dich entführen will wie Malia, ehe klar wird, dass er das nie beabsichtigt hatte. Er plant etwas und hat dir einen Hinweis gegeben und den müssen wir verstehen. Ich würde ja sagen, du schnappst dir Reed und reist ins Jahr 1895, aber das ist nicht möglich."

„Und was gedenkst du dann, was ich tue? Jeden danach fragen?"

„Es wäre eine Option."

„Nicht wirklich, wir wissen meine Familie hat Geheimnisse, wenn sie selbst das geheim halten wollen, würden sie dichthalten."

„Mag sein, aber ich denke nicht, dass er dir grundlos dieses Datum gegeben hat. Es ist wichtig, es hat sicher etwas damit zu tun, was jetzt abläuft, denn wenn wir wissen, was vor über hundert Jahren gewesen ist..."

„Dann wissen wir mehr zu dem, was jetzt geschehen wird", erwiderte ich, wusste auch, dass es sicher nicht unwichtig war, ich irgendwie mehr herauskriegen müsste.



Als ich das Gespräch schließlich mit Elin beendete, war es schon fast ein Uhr nachts, dennoch sah ich, dass ich neue Nachrichten erhalten hatte während des langen Gesprächs. Ich sah, dass diese von Daisy, Hayden und zu meiner größten Überraschung Reed selbst stammten. Ohne mich bremsen zu können, klickte ich als erstes natürlich auf die von Reed, wurde jedoch gleich enttäuscht.

Bleib zu Hause und pass auf dich auf.

Das war alles, was er geschrieben hatte. War das sein Ernst? Was glaubte er denn, was ich nun mache? Draußen spazieren gehen? Ok, gut, das war bei mir wohl möglich, aber er hätte ruhig auch mehr schreiben können.

Wütend wollte ich mein Handy schon gegen die Wand werfen, riss mich jedoch zusammen und unterdrückte meine aufsteigenden Tränen, dass das wirklich alles war, was er mir schreiben wollte.

Um mich zu beruhigen, schaute ich nach, was Daisy mir geschrieben hatte, was immerhin mich gleich besänftigen konnte, ein wenig zumindest.

Meine Eltern sagen nicht viel hierzu, doch meine Großtante plaudert gerne aus dem Nähkästchen und meinte, wir befinden uns gerade in einer gefährlichen Zeit und dass das alles was mit der Jahreszahl zu tun hat und anderen Faktoren. Ich kann dir morgen gerne mehr erzählen.

Ich lächelte erleichtert, dass sie mehr wissen könnte, dass sie auch bereit wäre mir mehr zu erzählen und es also wirklich was mit der Jahreszahl zu tun hatte, so wie meine Mum schon meinte, also war das immerhin wahr. Wir befanden uns wirklich in einer gefährlichen Zone, doch was würde das bedeuten? Wie würde man die Bedrohung dieses Mal stoppen? Müsste Kellin wieder verschwinden hierfür?

Ich sah mir noch die Nachricht von Hayden an und ich war froh, diese als Letzte angeschaut zu haben, doch vor Schock hätte ich fast mein Handy fallen gelassen, glaubte mich verlesen zu müssen. Seine Nachricht war so kurz und doch erzielte sie eine enorme Wirkung.

Traue Reed nicht!!!

Was hatte das bitte zu bedeuten? Wieso schrieb er mir so etwas? Was war bitte geschehen?

Augenblicklich antwortete ich ihm, fragte, was los sei, aber zur Antwort schrieb er nur, dass er mir alles erklären würde, ich auf gar keinen Fall weiter Kontakt zu Reed halten sollte jedoch. Was erwartete er bitte? Ich meine, klar waren Reed und ich gerade sowieso auf Abstand, nur wenn er den Kontakt sucht, wie sollte ich mich davon fernhalten können? Ich war verwirrt, sehr verwirrt und sehnte mich nach Ruhe, nach Schlaf, aber würde ich den überhaupt finden nach allem, was heute gewesen war?

Zu meinem Erstaunen rief Hayden mich an und ohne zu zögern ging ich ran, wollte Antworten und das sofort!

„Was meinst du wegen Reed?"

„Ich verstehe es selbst nicht so recht, Alice, gerade ist es sowieso gut, dass er fort ist, aber ich habe durch reinen Zufall was erfahren, das ich schon eine sehr lange Zeit befürchtet hatte. Ich misstraue meinem Bruder schon eine verdammt lange Zeit, ich hatte nur immer gehofft, mich zu irren, aber jetzt... ich denke, Reed spielt ein doppeltes Spiel."

„Doppeltes Spiel, inwiefern? Was redest du bitte da für einen Unsinn?"

„Ich habe etwas nachgedacht wegen den Angriffen in Chicago, wegen dem ganzen Unheil, das uns allen ja bevorstehen soll und so weiter und es gibt ein Schema."

„Ja, das Schema soll ja sein, dass Kellin wiederaufgetaucht ist, so wie 2005 schon."

„Genau das ist es nicht. Klar, Kellin ist seltsam und übel, aber Reed ist es, um den wir uns gerade sorgen müssen, denn ich begreife gerade eben etwas ganz Furchtbares, von dem ich schon so lange eine Vermutung habe, die ich jedoch nie ganz wahrhaben wollte, wo mir immer einige letzte Einzelteile gefehlt hatten, um zu verstehen."

„Hayden, du machst mir langsam Angst, was versuchst du mir bitte zu sagen?", fragte ich, da ich langsam nichts mehr verstand.

„Ich versuche dir zu sagen, dass mein Bruder der Auslöser der letzten beinahe Apokalypse war, wenn nicht sogar der beiden letzten, dass er mit den Reitern zusammenarbeitet und nichts Gutes im Schilde führt."

„Aber das ist unmöglich. Wieso sollte er? Die Reiter sind gegen uns!"

„Ich weiß nicht, was ihn anspornt, aber es ist verdächtig. 2005 hat er kurz bevor Kellin durchdrehte das Land verlassen, schien an den seltsamsten Orten in der Welt aufzutauchen, dort, wo man ihn überhaupt nicht vermuten würde, kehrte heimlich nach London zurück und machte sich erst dann deutlich bemerkbar, nachdem unser Bruder in die Vergangenheit flüchtete. 1895 war es dasselbe. Kurz vorher verließ er das Land, war damals in so eigenartigen Ländern unterwegs, hatte sich mit Leuten zusammengetan, die einfach Abscheulich sind. Wir beide hatten unsere Differenzen zu der Zeit mit den Dunklen Tagen und allem, was da ablief, aber ich hatte Kontakt zu Leuten, die ihm nahegestanden waren, und was sie mir damals erzählten, hatte mich schon misstrauisch gestimmt. Ich hatte nie viele Beweise, weswegen ich nicht viel wusste, und die einzige Person, die mehr wissen könnte, ist leider tot, aber ich fange erst jetzt an zu verstehen und... naja, auf jeden Fall, was ich sagen will ist, dass Teddy damals, als wir uns näher waren, Andeutungen machte wegen meines Bruders. Ich dachte, er würde Kellin meinen, doch ich verstehe langsam, dass nicht Kellin das Übel ist, sondern Reed noch weitaus schlimmer." Ich dachte an das, was Cameron mir erzählte. Reed wäre ein Mörder, wäre keine gute Person, doch konnte das stimmen? War das die Realität? Reed war der Böse der Geschichte?

Nichts ergab mehr Sinn, rein gar nichts und wie viel ich von Haydens Story halten sollte, wusste ich auch nicht. So viele Leute hatten einen vor Reed gewarnt, vor der ganzen Familie. Ich dachte an die Dunkelheit zurück, die ich bei unserer Bindung gesehen hatte, die deutlich vorhanden war. War diese Dunkelheit mächtiger als ich dachte? War er kein Stück besser als Kellin und vielleicht sogar noch gefährlicher als dieser?

„Ich weiß es ist nichts, was wirklich ein großer Beweis ist, aber sagen wir so, ich kenne ihn ziemlich gut und sein Benehmen in der Vergangenheit war schon sehr... sehr eigen gewesen, doch ich erspare dir die Details von dem ganzen Drama der Vergangenheit."

„Du weißt aber hoffentlich, dass ich nicht einfach auf Abstand zu ihm sein kann? Klar ist es gerade gezwungen nötig, doch wenn er mich anrufen sollte, ich würde nicht nicht ran gehen."

„Ja, das habe ich mir schon gedacht, aber sei trotzdem vorsichtig. Ich versuche mehr herauszufinden zu allem und sage dir dann Bescheid, werde dir alles dann genauer und besser erklären." Mit den Worten legte er auf und ich legte mich in meinem Bett zurück, sah meine Zimmerdecke an.

Woran ich glauben sollte, war mir nicht bewusst, es gab so vieles, das ich erfahren hatte und so vieles, das mich überforderte.

Reed soll ein Mörder und Verräter sein, die Apokalypse könnte uns allen bevorstehen. Malia soll psychisch labil und alles in ihrem Tagebuch eine Lüge sein. Cameron verbirgt eindeutig irgendwas. Der Code ist das Datum der vorletzten beinahe Apokalypse und nun? Was wäre nun?

Ja, manche Familien hatten Geheimnisse, doch das hier war nicht vergleichbar mit den Geheimnissen, die andere hatten. Hier ging es um mehr als einen Onkel mit einem Trinkproblem oder um ein geheimes Sparkonto. Das hier war etwas so Großes, so Verstricktes und es hatte offenbar anderen bereits das Leben gekostet. Malia war gestorben hierfür, was aus Grace geworden ist, wusste ich nicht, und Kellin... wenn Hayden recht hatte und Reed nicht zu trauen wäre, dann hatte Kellin nur dabei geholfen uns auf Abstand zu bewahren, war er dann der Böse der Geschichte? Er hatte immer noch Malia auf dem Gewissen, doch wie echt war diese Geschichte überhaupt?

Die nächsten Tage und Wochen würden sehr sicher noch schlimmer werden als die letzten paar Wochen. Etwas Dunkles kam auf uns alle zu und um ehrlich zu sein, machte es mir unheimliche Angst.

Wörter: 5144

Aloha :) Das ist das letzte richtige Kapitel des Buches. Das Nächste ist dann der Epilog, ehe es in Band 2 weitergehen wird. Ich hoffe es hat euch gefallen, auch wenn recht viele Dinge hier am Ende ans Licht gekommen sind xD Seid ihr überrascht? War es hervorsehbar? Wie viel davon glaubt ihr? Würde mich über eure Meinung freuen und ich versuche morgen den Epilog hochzuladen xx

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top