3. Abgrund
"Believe nothing you hear, and only one half that you see." - Edgar Allan Poe
In den frühen Morgenstunden wirkte das Haus noch faszinierender als sonst auf einen. Es war so ruhig hier, jeder schlief vermutlich noch tief und fest und es hatte etwas Magisches an sich, so wie die Sonnenstrahlen der gerade erst aufgegangenen Sonne durch die Fenster die Gänge erhellte, Licht ins Dunkle brachte. Der Ort wirkte in diesem Zustand wie verlassen, als ob alles Leben verschollen wäre und ein Hauch der Vergangenheit war deutlich zu spüren. Es war, als ob man es hören könnte. Wenn man ganz leise war, dann konnte man die Vergangenheit hier hören, sei es wegen der quietschenden Dielen an manchen Stellen oder weil der Wind durch undichte Fenster zog, es war wie ein leises Wispern vergangener Zeiten.
Ich brauchte ungewöhnlich wenig Schlaf heute, war früher als üblich wach, nutzte somit den Morgen, um mich in dem Haus ein wenig mehr umzusehen. Ich achtete dabei penibel darauf, keinen Lärm zu verursachen und irgendwen am Ende noch zu wecken.
Gestern war das Abendessen recht entspannend ausgefallen. Cameron hatte fast zwanghaft versucht mich nicht anzusehen, meine Tante und mein Vater haben viel miteinander geredet, diese hat meinen Bruder in Frieden gelassen und ich habe mich in einem Gespräch meiner Großeltern ein wenig mitbeteiligt. Ich war froh darüber, dass es kein weiteres Drama gegeben hatte, hatte somit gut meinen schrecklichen Spaziergang vergessen können und war erstaunt, wie friedlich ich hier Schlaf finden konnte. Die letzten Wochen war ich von Albträumen nur so geplagt worden, es war schön ausnahmsweise mal ausgeschlafen zu sein, man kam sich fast wie ein neuer Mensch vor so voller Energie.
Im ersten Stockwerk angekommen, blieb ich stehen, als ich Stimmen vernahm, die echt waren und nicht der bloße Wind, der durch die Gänge zog und schaurige Geräusche dabei von sich gab. Wer war bitte um die Zeit wach? Abgesehen natürlich von mir, doch selbst das war ein kleines Wunder. Meine Familie bestand eigentlich nur aus Langschläfern, keiner würde freiwillig so früh auf den Beinen sein, wenn es Wochenende war und doch hörte es sich an, als würde sich jemand streiten, leise streiten, darauf bedacht, niemanden zu wecken. Neugierig wie ich es von Natur aus nun einmal war, folgte ich den Stimmen, die wohl aus der Bibliothek kamen, deren Türen zwar geschlossen waren, dennoch konnte ich genug hören, um mit zu lauschen.
„... grundlos. Du hast selbst gesagt, es gibt Anzeichen! Wenn es nicht so wäre, was machst du dann hier, Henry? Wenn alles in Ordnung ist, kannst du zurück gehen und London wieder verlassen, dann müsstest du die Kinder nicht in diese Angelegenheit ziehen", zischte Tante Lilien gereizt, schien ziemlich sauer zu sein und ich hörte jemanden daraufhin seufzen. Meinen Vater.
„Ja, es gibt Anzeichen, aber die treffen auf jeden dieser Familie zu und du weißt, was Cecilia und ich hoffen, du weißt Bescheid! Wenn es wahr ist... es ist gefährlich. Sie wäre in Gefahr und würde der Junge erst einmal Bescheid wissen, könnte ihr sonst was widerfahren. Ich will ihn nicht in ihre Nähe lassen, ich habe Angst, was er ihr antun könnte", erwiderte mein Vater gestresst und ich fragte mich, um was es hierbei geht. Was für Anzeichen bitte? Was war so wichtig, dass die zwei um diese Uhrzeit darüber reden mussten, sich stritten? Meine Tante war gut darin, Streit mit anderen anzufangen, doch mein Vater war eigentlich eine ruhige Seele, die versuchte sich aus vielen Dingen herauszuhalten, also worum ging es hier?
„Oh, stell dich nicht dümmer an als du bist, Henry. Wir waren beide im Unterricht und wissen, wie die Anzeichen aussehen, wenn jemand ein Wächter ist, und du bist ihr Vater und jetzt sieh mich nicht so an, so oder so ist sie aus dieser Linie, trägt das Blut der Familie in sich und... Ich verstehe einfach nicht, wieso bei den beiden Jungs alles kein Problem war, aber du jetzt hier einen Rückzieher machst." Reden sie über mich? Außer mir hatte mein Vater keine Tochter mehr, also musste es doch um mich gehen, aber was sollte mit mir schon sein? Was für Wächter bitte? Das klang ein wenig so, als ob sie von einer Sekte reden würden, doch Gespräche von Blut und Linien, es war irgendwie unheimlich und auch nicht wie ein normales Gespräch, das irgendwer aus meiner recht einfachen Familie führen würde.
Ich drückte mein Ohr noch näher an das Holz der Türe, wollte nichts verpassen, doch meine Gedanken so sehr um das Gespräch kreisen zu lassen, hatte mich unaufmerksam für andere Dinge werden lassen, so dass ich nicht mitbekam, wie jemand anderes sich noch wach durch das Haus schlich, mich erwischte.
„Es gehört sich nicht fremde Gespräche zu belauschen." Ich zuckte überrascht zusammen beim Ertönen einer weiteren Stimme, die jedoch nicht aus der Bibliothek, sondern irgendwo hinter mir im Gang kam. Geschockt drehte ich mich zu Cameron um, der am Treppengelände angelehnt dastand und zu mir sah, sehr leise gesprochen hatte, doch ich hatte ihn dennoch gehört.
Augenblicklich ging ich von der Türe weg, auf ihn zu, wollte nicht, dass mein Vater und meine Tante irgendwas hiervon mitbekamen. Ich merkte, wie ich verlegen wurde so ertappt worden zu sein. Was er nun von mir dachte? Na gut, es konnte mir gleich sein, mein erster Eindruck von ihm war ja auch nicht gerade sehr gut, nachdem, wie er gestern drauf war.
„Na komm mit nach unten", wies er mich freundlich an, schien seit gestern wie ausgewechselt zu sein und verwirrt lief ich ihm, ohne was zu sagen, nach, war verblüfft, dass er heute so normal sein konnte, wo er es gestern doch nicht gewesen ist. Hatte er sich über Nacht verändert? Ist ihm klar geworden, wie eigenartig er sich benommen hatte?
„Ich habe nicht gelauscht... nicht wirklich zumindest", verteidigte ich mich nun, wo wir weiter weg von den Streitenden waren, verspürte das Bedürfnis mich irgendwie zu rechtfertigen. Ich wollte nicht, dass er sonst was von mir dachte, auch wenn es mir gleich sein könnte.
Ich folgte Cameron nicht zum Salon, wie ich es irgendwie erwartet hatte, stattdessen in die andere Richtung, dort, wo das Esszimmer und die angrenzende Küche lagen.
„Ist klar, ich lehne mich auch immer an verschlossene Türen und lausche nicht den Gesprächen dahinter." Während er das amüsiert sagte, fing er an sich Kaffee in einer gewaltigen Maschine zuzubereiten, die so wirkte, als ob sie aus einem Café gestohlen worden wäre, doch wer besaß so ein Teil schon daheim? Wie bediente man es überhaupt?
Ich brauchte nichts zum Trinken, wusste aber auch sonst nicht wirklich was mit mir anzufangen in dieser beklemmenden Situation, weswegen ich mich lediglich an die Theke lehnte und meinen Cousin dabei beobachtete, wie er geschickt und ohne Probleme das Ding bediente.
„Also gehörst du zu den Leuten, die wenig Schlaf brauchen?", fragte ich ihn, wollte nicht weiter über das Gespräch, das ich gehört hatte, nachdenken, es verwirrte mich zu sehr und außerdem hoffte ich, dass er die Sache auch schnell wieder vergessen würde, wenn wir über etwas anderes reden.
„Du offenbar auch nicht. Kaffee?" Ich schüttelte den Kopf und biss mir auf die Lippe, wollte ihn wegen gestern fragen, wusste nur nicht wie, doch ich konnte kaum direkt fragen, ob er ein Problem mit mir hatte, oder? Ok, ich könnte es vermutlich schon, nur wäre das nicht etwas harsch? Vielleicht war es ihm ja unangenehm?
Cameron übernahm dieses Problem für mich schon und ersparte es mir selbst die Frage zu stellen, als er kurz schwer seufzte. „Tut mir leid, falls ich mich gestern komisch benommen habe, ich war etwas durch den Wind", sagte er, sprach das Thema somit an und lehnte sich mit seinem fertigen Kaffee mir gegenüber an eine Theke.
„Nicht so schlimm, auch wenn du sehr schockiert gewirkt hast."
„Ja, nicht wahr?" Er musterte mich, schien nachdenklich geworden zu sein und ich fragte mich, was in seinem Kopf vor sich ging, was er in mir sah, wenn er mich so musterte. Er wirkte so traurig, so verletzlich.
„Ich habe gehört, du studierst hier, darf ich fragen was?", versuchte ich das Gespräch am Leben zu erhalten, wollte nicht einfach nur dastehen und schweigen, besonders nicht, wenn er mich so ansah. Vielleicht war er ja gar nicht so übel, doch dafür müsste ich ihn wohl erst besser kennen lernen und dann könnte ich mir ein Bild davon machen, ob er ein Idiot war oder nicht. Ihn hier zu haben ließ mich jedoch nur meine älteren Brüder vermissen, vor allem da er charakterlich nicht wie sie zu sein schien. Die beiden waren immer so offen und witzig gewesen gegenüber jedem, ob sie ihn nun kannten oder nicht, während Cameron sehr distanziert wirkte.
„Zahnmedizin", antwortete er grinsend und meine Augen weiteten sich ein wenig von dieser äußerst unerwarteten Antwort. Ich hatte eher mit was anderem gerechnet. Irgendwas wirtschaftliches oder Jura vielleicht, es würde auf den ersten Blick eher zu ihm passen.
„Du willst Zahnarzt werden?"
„War nicht meine erste Wahl, aber es klingt ziemlich interessant."
„Es klingt... anstrengend", gab ich zu, was ihn zum Lachen brachte, während er an seinem Getränk nippte.
„Ja, leicht ist es nicht, aber ich gebe mir Mühe und habe es ja auch bequem nicht nebenbei mir eine Wohnung und alles finanzieren zu müssen."
„Und deine Eltern müssen sicher stolz auf dich sein, oder? Ich weiß nur von meinem Dad, dass sie gerade irgendwo in Europa sind, siehst du sie denn oft?" Ok, eindeutig ein sehr sensibles Thema. Kaum erwähnte ich seine Eltern, schien Camerons Gesichtsausdruck verbittert zu wirken. Hatte ich ja klasse hinbekommen, mir hätte doch klar sein können, dass das Thema blöd war, immerhin war Camerons Teil der Familie etwas mehr zerrüttet als meiner, sie hatten eben viel mehr durchmachen müssen als wir und ich weiß, dass als ich jünger gewesen war, meine Eltern immer mitleidig gewirkt hatten, wenn Camerons Name gefallen war. Sie hatten dann immer betreten die Köpfe geschüttelt und gesagt, wie arm dran er doch wäre. Ich hatte erst später richtig verstehen können, inwiefern er denn so arm dran war.
„Wir telefonieren ab und an, ich denke, sie wollen nur sehr ungern daran erinnert werden, dass sie Kinder haben, oder eher, dass sie nur noch eins haben", erwidere er verachtend und ich sah ihn mitleidig an. Ich vergaß manchmal, dass er mal eine Schwester gehabt hatte. Wie war nochmal ihr Name gewesen? Ich hatte keine Ahnung. Sie starb, als ich gerade einmal drei oder vier Jahre alt gewesen war, da war Cameron vielleicht so um die zehn? Sie war älter als er gewesen und was genau geschehen war, wusste ich nicht, ich erinnerte mich nicht einmal mehr an sie, ich wusste nur noch, dass ihr Tod eine Tragödie gewesen war, dass meine ganze Familie Monate von nichts anderem gesprochen hatte, bei jeder Gelegenheit man getuschelt hatte und zu der Zeit so viele Verwandte und mir teilweise völlig fremde bei uns ein- und ausgegangen waren. Es waren hektische Zeiten gewesen, alle hatten sich benommen, als ob das Ende der Welt bevorstehen würde und dann war plötzlich meine Cousine tot und der Trubel wurde größer, ehe alles anfing irgendwann von einem auf den anderen Tag wieder ruhig zu werden. Keine fremden Menschen kamen mehr, meine Tante und mein Onkel hielten sich etwas auf Abstand zu uns anderen, meine Cousine war tot und alle anderen lebten ihre Leben weiter.
„Wie alt wäre sie jetzt gewesen?", fragte ich vorsichtig, wusste nicht, wie sehr er über das Thema reden wollte, aber als er zu mir aufsah, wirkte er nicht sauer, lächelte sogar leicht, auch wenn er immer noch traurig wirkte. „33. Ich frage mich oft, wie es gewesen wäre, wenn sie noch da wäre, aber es bringt ja nichts sich das zu fragen. Malia ist fort und die Welt dreht sich weiter", sagte er und seufzte schwer.
Malia, ja stimmt, das war ihr Name gewesen. Ich schüttelte leicht den Kopf, musste dringend das Thema wechseln, doch über solche Sachen zu reden, bereitete mir ein mulmiges Gefühl und es gab sicher Schöneres zu bereden, als über tote Mädchen und die Vergangenheit.
„Und, gibt es in dem Haus irgendwelche geheimen Gänge oder Räume, die sich hinter einem Bücherregal befinden?", fragte ich, konnte mir gut vorstellen, dass es hier was Mystisches, Geheimes gab; was ihn zum Lachen brachte. „Ich habe bisher keine gefunden, aber du kannst gerne nach welchen suchen, auch wenn dich was anderes vermutlich noch mehr faszinieren könnte", sagte er und stellte seine Tasse ab, zeigte mir, dass ich ihm folgen sollte.
Die Küche verschmolz ganz hinten wieder mit dem riesigen Salon oder Wohnzimmer oder wie auch immer man das eher betiteln würde. Von dort aus konnte man in den Garten gehen, den wir nun auch betraten. Ich war zwar barfuß unterwegs, aber es störte mich nicht wirklich, ich war sowieso viel zu erstaunt, als ich sah, was das für ein Garten war.
„Ach du Scheiße", staunte ich und sah Cameron neben mir grinsen, doch die hatten wirklich einen verdammten Irrgarten in ihrem Garten. Der vordere Teil sah ganz typisch wie ein Garten aus. Ein Stück Wiese, ein Vogelbrunnen hier, einige viele Pflanzen dort, aber hinten war der Eingang eines Irrgartens, verschlossen von einem großen Silbertor, das recht alt und mitgenommen wirkte. Die Hecken um das Tor waren größer als ich, verborgen alles dahinter bestens. Wer kam bitte auf die Idee, sich einen Irrgarten zu errichten? Das war so abgefahren und schräg zu gleichermaßen.
Vorsichtig lief ich etwas näher auf ihn zu, spürte das feuchte Gras unter meinen Füßen, ansonsten war es jedoch ganz angenehm hier draußen, weniger kalt als gedacht zu dieser Uhrzeit.
„Er erstreckt sich ein ganzes Stück nach hinten, führt in ein Waldgebiet und auch in das Nachbargrundstück", klärte Cameron mich auf und nickte zu dem Haus, wo ich gestern geglaubt hatte, mich würde jemand beobachten.
„Wem gehört das Haus?"
„Gut, dass du mir die Frage stellst, erwähne lieber niemals die Familie dort vor irgendwem sonst hier im Haus, es herrscht eine gewisse Feindschaft zwischen unseren Familien musst du wissen."
„Wieso das denn?", fragte ich, fand die Vorstellung skurril, dass meine gutherzige Großmutter irgendwen hassen könnte, aber andererseits war sie fast genauso gut darin Streit anzufangen wie Lilien. Vermutlich hatte Lilien dann aber doch eher einen Streit um nichts angefangen, darin war sie nämlich unschlagbar, es war wie ihre geheime Superkraft, Leute in Schnelle zu verärgern, es war wirklich wie ihre persönliche Gabe.
„Lange Geschichte, es geht um die Wächter und alles..."
„Wächter? Was für Wächter? Mein Vater hat auch in der Bibliothek von welchen gesprochen, was meint er damit?", fragte ich neugierig und sah wie irritiert Cameron mich anblickte von meiner Frage, fast als ob er glaubt, ich würde scherzen, doch ich machte keine Scherze, hatte wirklich keine Ahnung. Was war denn los mit diesen Wächtern? War es so eine besondere Sache?
„Warte, du hast keine Ahnung? Wie kannst du keine Ahnung haben?"
„Kein Ahnung von was denn?", fragte ich und glaubte langsam meine Familie verbarg mehr vor mir, als ich es geahnt hatte. Wieso wirkte er denn so verblüfft? War es etwa so sonderbar, dass ich ahnungslos bin?
„Ich... also das sollten dir echt deine Eltern erklären, aber merke dir einfach, dass du dich von denen fernhältst und auch von dem Irrgarten", stellte Cameron klar und ich zog meine Stirn kraus, hatte nur noch mehr Fragen. Also meine Familie hatte irgendwas mit einer Sekte vermutlich zu tun und der Irrgarten war tabu. Führten sie dort irgendwelche Rituale durch? Fanden da die Sitzungen ihrer Sekte statt? So viele Fragen schwirrten in meinem Kopf umher, nur Cameron schien nicht vorzuhaben mir Antworten zu schenken und das ließ mich innerlich beben.
Mit den Worten ging er wieder nach Innen und ich blieb verdutzt zurück, verstand nach wie vor so vieles nicht.
Unsicher sah ich zu dem Eingang des Irrgartens, fragte mich, was sich dort drinnen befand, dass er abgesperrt wurde und so tabu ist. Es musste sicherlich einen richtigen Grund dafür geben, er würde kaum einfach abgesperrt werden, weil man gerade Lust danach hat. Meine Familie war ja so schräg.
Langsam fing ich an die kalte Morgenluft um mich herum richtig wahrzunehmen und fröstelnd schlang ich die Arme um mich. Mir gefiel es nicht, wie viel ich nicht wusste, mir gefiel es nicht, dass hier irgendwas sicher nicht mit rechten Dingen vor sich ging. Was waren bitte die Wächter? Was war mit dieser Familie? Ich sah zu dem Haus nebenan, das Dank der gewaltigen Hecke kaum zu erkennen war, dennoch fühlte ich mich seltsam beobachtet, glaubte irgendwer auf der anderen Seite würde zu mir herübersehen, so wie gestern, als ich durch das Fenster gesehen hatte. Das Gefühl war aber zum Teil auch so wie ein anderes, das ich gestern gespürt hatte, und zwar genauer gesagt, als ich gestern die drei Jungs getroffen hatte. Sofort sah ich wieder Reeds Gesicht vor mir, wie er mich angesehen hatte und ich atmete zittrig aus. Bevor ich noch paranoid werden würde, verschwand ich schnell nach Innen zurück, ließ all meine eigenartigen Gefühle hier draußen zurück.
Wie gestern beschloss ich vor dem Abendessen einen Spaziergang zu unternehmen. Dieses Mal jedoch früher, so dass die Sonne nicht gleich untergehen würde, und auch ganz sicher nicht in derselben Gegend. Ich wollte unter keinen Umständen Colin oder einer der drei Typen wiedersehen müssen. Die Aussicht auf solch unerfreulichen Begegnungen machte mir Angst, doch ich blieb brav in der Nachbarschaft, wo alles so wohlhabend aussah, dass ich mich sicher fühlte. Ich wanderte also unbeschwert durch die Gegend, hörte nebenbei Musik durch meine Kopfhörer und begutachtete die großen, überteuerten Häuser. Wie viele aus meiner Schule hier wohl lebten? Ich grübelte viel über den morgigen ersten Tag nach, wie einsam ich sein würde und ganz in meinen Gedanken lief ich wahllos durch die Gegend, bis mir ganz plötzlich etwas auffiel oder besser gesagt jemand auffiel. Auf der anderen Straßenseite saß auf einer Bank bei einer kleinen Grünanlage eindeutig Reed, der Junge von gestern Abend. Er rauchte eine Zigarette, sah nachdenklich zum Himmel hinauf und hatte mich noch nicht bemerkt. Was tat der denn hier? Sofort verspürte ich einen Fluchtinstinkt, wollte fort, nur wieso? Er hatte mir ja nichts getan, er hatte mir mit seinen muskulösen Freunden gestern den Hintern gerettet, ehe ich wie eine Verrückte einfach weggerannt war. Ich schuldete ihm vermutlich ein Dankeschön. Ja, ich sollte es hinter mich bringen, über meinen Schatten springen. Ich zog meine Kopfhörer aus meinen Ohren und verstaute sie in meiner Jackentasche. Er wird mich kaum angreifen, ich hoffte es zumindest, immerhin war Reed die unfreundlichste Person gewesen gestern. Ich straffte meine Schultern und überquerte die Straße, lief geradewegs auf ihn zu und blieb neben der Bank stehen. Er sah nicht zu mir, schien den Himmel interessanter zu finden und ich biss nervös auf meine Unterlippe. Hatte er mich noch nicht bemerkt? Nein, ich schätze er ignorierte mich eher bewusst.
„Ähm... ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnern kannst?" Ich sah ihn unsicher an, doch er schien mir auch weiter keine Beachtung zu schenken. Wunderbar. Er hatte tagsüber immer noch einen beschissenen Charakter. Welch Wunder. „Ich wollte mich nur bedanken und..."
„Für was zum Fick willst du dich bitte bedanken?", fragte er, sah nun doch endlich zu mir und ich wünschte mir etwas, dass er wieder zum Himmel schaut. Sein Blick schüchterte mich ein, er wirkte so grimmig, hatte eine kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen von der Art, wie er sie zusammenzog, und ich erschauderte. Wie gestern verlor ich mich kurz in seinen Augen, wusste nicht wieso ich mich einen Moment so sicher fühlte, so ruhig und das obwohl er nicht freundlich wirkte, ganz und gar nicht sogar.
„Du und deine Freunde habt mir gestern geholfen."
„Nicht freiwillig. Du bist uns ja regelrecht in die Arme gerannt wie eine Irre", sagte er kühl und ich verzog das Gesicht. Was ein Arsch.
„Naja, ich wollte es trotzdem loswerden", sagte ich und er sah genervt wieder zurück zum Himmel hinauf, schien kein Interesse daran zu haben, dieses Gespräch auch nur irgendwie weiter aufrecht zu erhalten. Es war mir gleich. Ich habe mich bedankt und würde ihn nicht mehr nerven. Vermutlich wohnte er auch in dieser Gegend. Na hoffentlich sehe ich ihn nicht jeden Tag von nun an. Ich lief weiter in die Grünanlage hinein, doch weit kam ich nicht, als sich ein Typ mir einfach in den Weg stellte. Was war nur mit dieser Stadt, dass ich ständig mit fremden Männern konfrontiert wurde, die mir plötzlich im Weg standen? Er sprach mich auf einer Sprache an, die für mich leicht nach Russisch klang. Er wirkte recht überrascht mich zu sehen, fast, als ob wir uns kennen sollten. Irritiert sah ich ihn an von seinen Worten, verstand kein Wort. Ich war unbrauchbar, wenn es um irgendeine Sprache ging, die nicht Englisch war.
„Sorry, ich verstehe dich nicht", sagte ich und er wirkte kurz überrascht, aber das hielt nicht lange, ehe er er breit lächelte.
„Tut mir leid, du sahst aus wie jemand, der russisch versteht", lachte er und ich musste auch lächeln von seiner offenen Art und wie weich seine Stimme klang. Er strahlte etwas sehr freundliches aus.
„Gut zu wissen. Ich werde die Sprache bedauernswerterweise niemals beherrschen. Sprachen liegen mir nicht."
„Eine Schande, aber Englisch liegt uns ja beiden, also reden wir einfach so weiter", sagte er und musterte mich knapp, was ich ihm leicht verwundert gleichtat. Er war älter als ich, sicher so um die Mitte 20. Er trug einen dunkelgrauen Mantel, darunter einen schwarzen Rollkragenpullover. Seine Haare waren blond und seine Augen waren so hell, dass es mich etwas einschüchterte. Es wirkte so unnatürlich. Ich hatte noch nie zuvor jemanden mit so hellen Augen gesehen.
„Ich heiße übrigens Sasha", stellte er sich ordentlich vor, reichte mir seine Hand, die ich kurz schüttelte.
„Ich heiße Alice."
„Hübscher Name, Alice. Wohnst du hier in der Gegend? Oder bist du eine Touristin, die hergekommen ist, um die Schönheit Londons zu bewundern?"
„Ich bin frisch hergezogen", sagte ich, fand ihn sympathisch und hübsch war er auch. Er war zumindest eine nette Erfrischung im Gegensatz zu Reeds mürrischen Ausstrahlung, doch leider war ich diese nicht so schnell los wie gedacht. Ich hörte Schritte näherkommen, die recht aufbrausend klangen, bedrohlich beinahe schon.
„Verpiss' dich von hier!" Ich sah zu Reed auf, der sich neben mich stellte, Sasha wohl zu kennen schien und diesen noch finsterer ansah als mich vorhin. Er wirkte ziemlich gefährlich im Moment, wenn ich ehrlich war. Ohweh, mit wem hatte der Typ eigentlich keine Probleme? Kannte er ganz London und hasste alles und jeden? Wie es seine beiden Freunde nur mit ihm aushielten?
„Ich rede nur mit Alice hier, hast du irgendein Problem damit?", fragte Sasha amüsiert von Reeds Benehmen. „Seit wann bekümmert es dich, mit wem ich was zu tun habe? Ich dachte du hältst dich aus unseren Angelegenheiten heraus?"
„Oh, du weißt genau, was mein fucking Problem ist, also verpiss' dich von hier oder ich breche dir den Kiefer!" Ich sah leicht irritiert zwischen den Männern hin und her, verstand nicht, was hier vor sich ging, wollte es aber auch gar nicht verstehen. Schon wieder war ich in einer ganz blöden Lage und ich wollte nur fort. Reeds schien nur Ärger zu machen. Die Leute fürchteten ihn, ich war sicher besser dran, ganz großen Abstand zu halten, auch wenn ich gleichzeitig nicht das Gefühl hatte diesen nötig zu haben. Es war vielleicht patzig, aber bedrohlich war er mir noch nicht gegenüber geworden.
„Schon gut, schon gut. Du schüchterst die arme Alice ja ganz ein", sagte Sasha besänftigend und sah zu mir. „War mir eine Freude dich kennen zu lernen. Hoffentlich sieht man sich mal wieder... ohne Störungen." Er wandte sich ab und lief den Weg weiter, während ich ihm leicht verwundert nachsah, erst wieder auf Reed aufmerksam wurde, als dieser zu fluchen anfing und sich eine Zigarette anzündete.
„Was ist dein Problem mit ihm?"
„Geht dich ein Scheiß an", murmelte er gereizt und ich sah ihn zornig an. Hatte der Kerl auch je gute Laune?
„Ich habe mich nett mit ihm unterhalten, es geht mich also sehr wohl was an!", sagte ich zickiger als ich es normalerweise wäre, doch die Art, wie er alle um sich herum zu behandeln schien, nervte.
„Halte dich einfach fern von dem Typen und seinen Freunden, wenn du nicht im fucking Abgrund landen willst", sagte er, wandte sich ab und lief weg, so dass ich nun ihm verwirrt nachsah. Abgrund? Was für ein Abgrund?
Wörter: 3999
Aloha :) Das Kapitel ist zur Hälfte neu geschrieben. Ich muss einfach etwas mehr Relice einbauen xD Vielleicht geht es später schon mit dem nächsten Kapitel weiter xx
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