27. Die Feier

"No matter what anybody tells you, words and ideas can change the world." — John Keating

Heute war endlich Samstag und ich konnte meinen Mitschülern zwar fernbleiben, doch dafür herrschte ganz anderer Trubel bei mir daheim mit der Geburtstagsfeier meines Großvaters. Meine Großmutter hat keine Kosten gescheut, um die Feier pompös zu gestalten. Ein Catering-Service wurde engagiert, auch wenn sie mit Sicherheit gerne für alle Gäste gekocht hätte, nur fehlte ihr die Zeit. Es gab tatsächlich ein Streichquartett im Garten, das Haus wurde von oben bis unten geputzt, die Geburtstagstorte war dreistöckig und es gab so viel Essen, dass ich gar nicht wusste, wer das alles verputzen sollte, auch wenn mein Magen das anders sah.

Das Glück stand auf der Seite meiner Großeltern, denn für fast Ende September war das Wetter heute recht warm. Die Sonne schien, kein Regen war in Sicht und so konnte die Feier zum Teil auch draußen ohne Sorgen stattfinden. Ich wusste nicht, wie viele Gäste kommen würden, doch bei den Mengen an Essen würden es sicher viele sein, sehr viele und ich war jetzt schon restlos damit überfordert, dachte unzufrieden daran, sicher auf viele Leute zu treffen, die mich mal wieder mit Malia verwechseln und dann ansehen, als ob ich eine wandelnde Tote wäre, was lästig werden dürfte.

Mürrisch sah ich mich in dem Kleid an, das meine Mutter für mich gekauft hatte. Es war dunkelblau, knielang und sah ja ganz hübsch aus, nur irgendwie fühlte ich mich wie ein Kleinkind in dem Teil. Ich wurde versucht kindlich auszusehen, wieso auch immer.

Meine Haare trug ich schlicht offen, mir fehlte die Lust und das Talent für was Aufwendigeres, und verzweifelt von dem Tag, verließ ich das Bad und ließ mich auf meinem Bett fallen, wo bisher von meinem Laptop meine Playlist gelaufen war, um mir das Fertigmachen zu versüßen. Ich schaltete die Musik nun jedoch aus, holte dafür mein Handy nun zur Hand, wo ich, ohne zu zögern, Elins Nummer wählte. Ich hatte mir vor dem Umzug vorgenommen, jeden Tag mit ihr zu schreiben oder zu telefonieren, aber irgendwie war das nicht so leicht wie gedacht. Ich hatte meine Probleme und sie hatte ja auch einiges zu tun, hatte wie ich auch Schule, die sie im Gegensatz zu mir sehr ernst nahm, und dann musste sie entweder Babysitten oder im Laden ihrer Mum mithelfen.

Es klingelte dreimal, bevor sie endlich ran ging, und erleichtert ihre Stimme zu hören, schloss ich die Augen.

„Du weißt gar nicht, wie froh ich bin deine Stimme zu hören."

„Ich fühle mich geschmeichelt aber ja, das höre ich öfters", lachte sie heiter am anderen Ende der Leitung und eben dieses Lachen zauberte mir gleich ein Lächeln ins Gesicht.

„Wie läuft das Leben so?", fragte ich sie, blendete den Lärm von unten aus.

„Meine Mutter ist anstrengend wie eh und je, mein Vater kam auf die glorreiche Idee, irgendwelche Verwandte aus Korea einzuladen und nun ist unser Haus noch voller als sowieso schon", jammerte sie und ich fühlte richtig mit ihr.

„Nicht cool, wenn das Haus so voll ist, was?"

„Ach sei still, dein Haus ist riesig von den Bildern, die du mir geschickt hast, du hast immerhin dein eigenes verfluchtes Badezimmer!"

„Anstrengend ist es dennoch", sagte ich, doch sie gewann den Kampf hier wohl, immerhin war ihr Haus wirklich viel kleiner als dieses. Wenn ich mir nun auch noch mein Zimmer mit irgendwem teilen müsste, würde ich wohl durchdrehen.

„Glaube ich. Ich bin noch dabei, meine Eltern zu überreden mich nach London zu lassen. Mein Bruder hat sogar eingewilligt, dass ich bei ihm wohnen kann in der Zeit, aber meine Mum verliert ungern ihre billige Arbeitskraft."

„Du schaffst es schon sie zu überreden, du bist die Beste darin", munterte ich sie auf, hoffte, sie würde es schaffen, denn ich brauchte sie an meiner Seite, brauchte sie in dem ganzen Chaos hier einfach und vermisste sie so schrecklich. Ich glaube, es würde sehr helfen sie hier zu haben, selbst wenn es nicht lange wäre.

„Klar bin ich das, aber einfach wird es nicht werden. Irgendwas Neues von dem traurigen Prinzen?"

„Trauriger Prinz?", fragte ich amüsiert, wusste, sie meinte Reed damit, doch der Name war mir neu.

„Du meintest seine Seele wäre so traurig und alles und weil er gleichzeitig so arrogant ist, kam ich auf den ausgefallenen Spitznamen", verteidigte Elin den Namen und ich musste lachen. „Sehr kreativ, wirklich", versicherte ich ihr amüsiert. „Aber nein, es gibt nichts Neues, nur, dass er vermutlich heute zur Feier kommt und mir somit nicht so aus dem Weg gehen kann wie die letzten Tage, zumindest denke ich, dass er es nicht kann." Tatsächlich hatte ich ihn die letzten beiden Tage kaum zu Gesicht bekommen. Mein Gesicht war an meinem Wangenknochen leicht verfärbt von Scotts Schlag, doch mit genug Makeup hatte ich das Veilchen gut überdecken können, auch wenn meine Eltern außer sich gewesen waren. Ich hatte ihnen versichert, dass ich nur meine Schließfachtüre gegen meinen Kopf knallen gelassen habe. Wüssten sie die Wahrheit, wäre die Hölle los gewesen und mir reichte es schon, dass vier Typen Scott am liebsten eine verpassen wollten, da brauchte ich nicht noch meinen Vater mit seinem Jagdgewehr.

Scott hatte sich wie Reed nicht mehr blicken lassen in der Schule und ich fand das alles ein wenig eigenartig, doch wenn Reed wegen einem versuchten Mord auf diesen von der Schule geflogen wäre, dann wäre das eine weitaus größere Schlagzeile gewesen und ich hätte es gewusst. Vermutlich ging er mir nur aus dem Weg nachdem, was in seinem Auto geschehen war und der bloße Gedanke an dieses Ereignis ließ meine Wangen ganz warm werden. Ich hatte Elin bereits ausführlich darüber berichtet und sie war ausgeflippt, so sehr beneidete sie mich um die ganze Aktion, doch im Grunde wollte ich alles nur noch ungeschehen machen. Dass er mich so wegen dieser Sache meiden würde, es war hervorsehbar gewesen, irgendwie war das Reeds Art einfach unterzutauchen, wenn irgendwas zu Intimes geschah. Es machte mich dennoch wütend und verletzte mich zu gleichermaßen.

„Manche Jungs sind komisch und es lohnt sich nicht den Kopf über sie zu zerbrechen. Ich finde immer noch, dass du versuchen solltest dir Hayden zu krallen."

„Ich will mir keinen von beiden krallen!", rief ich verzweifelt aus und setzte mich aufrecht hin.

„Dann bist du blöd. Du bist umgeben von zwei heißen Typen und willst keinen von ihnen? Reed hattest du ja schon, jetzt schnapp dir den süßeren von beiden und nicht den mit den größten Bindungskomplexen."

„Du weißt doch nicht einmal, wie sie aussehen und ich will kein Liebesdrama", merkte ich an, was sie lachen ließ. „Du sagst, sie sehen gut aus, also heißt das übersetzt, verflucht heiß in deiner Sprache und niemand sagt, dass es Liebesdrama geben wird. Klar, mit Reed vermutlich schon, aber Hayden?"

„Hayden ist ein anderes Thema, aber nein, wir sind Freunde", versicherte ich ihr, konnte ihn auch nicht anders betrachten, nicht mit dem ganzen Ärger, den sein Bruder machte. Ich hatte nicht den Kopf überhaupt über einen anderen Typen richtig nachzudenken seinetwegen. Reed und ich hatten einen Fehler begangen, waren uns unerlaubt nähergekommen und nun war es vorbei, fertig.

„Rede dir das alles ruhig weiter ein, Ally, aber wie auch immer, ich habe keine Zeit weiterzureden, meine Mum will, dass ich das Bad putze und wenn sie sieht, dass ich telefoniere, wirft sie wieder den Kochlöffel nach mir", sagte Elin und ich schüttelte lachend den Kopf. „Viel Spaß beim Ausweichen."

„Liebe dich auch", murrte sie und legte schon auf.

Ich sah auf der Handyuhr, dass die Feier offiziell gestartet hatte und ich wusste, dass meine Familie mich vermutlich unten erwartet, weswegen ich mich notgedrungen aufraffte und mich nach unten begab.

Es war voll. Voll war sogar noch eine Untertreibung dafür, wie viele Menschen hier anwesend waren. Schon im ersten Stockwerk traf ich die ersten fremden Gesichter, war restlos überfordert und zwang mich keine Grimassen zu schneiden, als zwei ältere Damen mich entsetzt ansahen und eine so wirkte, als ob sie gleich ohnmächtig werden würde. Ich war nicht in der Stimmung sie aufzuklären, sollten sie doch denken, einen Geist gesehen zu haben. Wenn ich jedem Gast nun sagen müsste, dass ich nicht Malia war, würde ich durchdrehen. Ich hätte mir einfach ein Schild basteln sollen, auf dem draufsteht ‚Mein Name ist Alice, ich bin Malias Cousine, nein, ich bin kein Geist'. Es war zum Verzweifeln.

Unten angekommen sah ich meine Großeltern umrundet von anderen älteren Gästen, die meinem Großvater gratulierten. Ein Berg voll Geschenke war auf einem Tisch im Wohnzimmer aufgestellt. Es gab so viele Blumensträucher, dass Lilien anfing Töpfe als Vasen umzufunktionieren und der Raum wie ein exotischer Garten roch. Das hier war eine Ansammlung an Menschen, die mich in die Knie zwang. Ich hasste es.

„Alice." Ich drehte mich zu Daisy, als diese nach mir rief und sah erleichtert in das vertraute Gesicht der hübschen Blondine. Sie sah umwerfend aus in dem hellblauen Kleid und mit den gemachten Haaren, sie sah noch schöner aus als sowieso, es war beneidenswert.

„Oh Daisy, schön dich zu sehen", begrüßte ich sie und nahm sie in die Arme.

„Das Haus scheint gewaltig zu sein", staunte sie.

„Ist es", lachte ich und nahm aus dem Augenwinkel meinen Bruder wahr, der in Begleitung eines blonden Mädchens war und aufgeregt mit dieser sprach.

„Das ist deine Schwester, oder?", fragte ich Daisy, da Hayden das letztens erwähnt hatte, als wir sie in der Schule zusammen sahen.

„Ja, Hally, sie und dein Bruder scheinen sich ja blendend zu verstehen."

„Sieht ganz danach aus", sagte ich und sah wieder zu ihr.

„Mein Großtante Ava hätte auch kommen sollen, sie ist auch eine Wächterin und unheimlich lieb, doch sie hat ein paar Probleme mit Leila und blieb lieber daheim", sagte Daisy und ich fand es aufregend von anderen Wächtern zu hören, wollte zu gerne noch mehr kennen lernen, vor allem ältere, mit mehr Erfahrung.

„Was ist ihre Kraft denn?"

„Sie hat eine besondere Bindung zu Ceres", antwortete sie und auf meinen verwirrten Blick hin fügte sie hinzu: „In der griechischen Mythologie ist sie als Demeter bekannt, Göttin der Fruchtbarkeit und des Ackerbaus, eine Schwester des Zeus und Mutter von Persephone."

„Wow, du weißt viel über all diese Mythologien, oder?"

„Lernt man alles im Unterricht im Quartier und mich interessiert es auch, es ist immerhin alles Teil meiner Linie", sagte sie schulterzuckend, als ob es gar nicht so besonders wäre, doch in meinen Augen war es das. Ich kannte mich wirklich null in diesen Bereichen aus, hatte damals zwar ganz kurz eine Vorliebe für das antike Griechenland gehabt, aber nie genug, um mir viel zu merken, wusste gerade so wer Zeus und Hades noch waren, aber mehr hatte mich nie interessiert, abgesehen von den Klamotten und der Epoche an sich.

„Und hat deine Großtante je Kontakt zu Ceres gehabt?", fragte ich interessiert, fand es immer noch so skurril, dass es Götter und alles überhaupt wirklich geben soll, man Kontakt aufnehmen könnte, es klang unheimlich.

„Gute Frage, sie spricht nicht darüber, um ehrlich zu sein. Sie ist etwas eigen in der Sache", meinte sie vergnügt, als sich schon Hayden da zu uns gesellte, der ein Glas voll Sekt in der Hand hielt und dessen Haare trotz des Anlasses mal wieder völlig zerzaust waren, dennoch sah er einfach unverschämt gut aus, auch wenn viele der Gäste ihn nicht sehr glücklich musterten und er mit seinem Nasenpiercing eben immer irgendwie hervorstach. Hatte er etwa so viele Feinde oder lag es einfach an seiner Art?

„Ihr seht beide reizend aus", begrüßte er uns und drückte Daisy einen Kuss auf die Wange, was sie lächeln ließ.

„Du siehst auch ganz passabel aus", merkte ich an und hörte ihn schnauben. „Passabel also."

„Passabel trifft es doch ganz gut eigentlich", lachte Daisy erheitert und bekam einen bösen Blick von Hayden, was uns nur noch mehr lachen ließ. In Wahrheit sah er umwerfend aus in dem Anzug, doch jemand, der wie er genau wusste, wie gut er aussah, sollte man darin nicht noch mehr bestärken, sonst wird er noch irgendwann genauso ein arroganter Trottel wie Reed.

„Ist Reed auch da?", fragte Daisy für mich nach und ich war erleichtert die Frage nicht selbst stellen zu müssen, hatte mich innerlich aber wirklich gefragt, ob er es schaffen würde, sich hiervon zu drücken.

„Ja, er hat vorhin unsere Eltern davon abgehalten, mit Alice ihren einen Streit anzufangen der Schwachkopf, er ist glaube ich im Garten."

„Ist noch jemand da, den ich kenne? Ist Nasrin da? Oder Iran?", fragte ich die beiden und hoffte auf mehr vertraute Gesichter unter all den Fremden, hatte nur wieder eine Frau gesehen, die mich ansah, als ob ich ein Geist wäre.

„Nein, leider nicht. Nasrin geht es nicht sehr gut und Iran ist mit ihr, Mrs Flores und ihren Eltern im Quartier. Warren müsste hier aber irgendwo sein und auch der Rest der hohen Tiere des Quartiers", meinte Daisy und bedauernd dachte ich an die kleine Nasrin. Hoffentlich würde sie bald ihren Partner finden.

„Ja, ich habe sie alles schon gesehen und bin auf der Flucht. Mr Norbert hat jetzt schon zu tief ins Glas geguckt und philosophiert gerade über den Buddhismus, es ist schrecklich." Jetzt schon? Hat die Feier nicht erst vor zehn Minuten angefangen?

„Klingt eigentlich ziemlich interessant", merkte Daisy begeistert an, doch ich hatte, um ehrlich zu sein, auch keine Lust gerade irgendwas über Religionen zu hören.

„Oh nein, Kleines, wir verdrücken uns weit weg von den Erwachsenen", tadelte Hayden und zog sie und mich in Richtung Küche

„Technisch gesehen bist du einer der ältesten hier im Haus", merkte ich an und er schnaubte beleidigt auf, was er gern tat, wenn ich ihn mit seinem Alter aufziehe.

„Hab mehr Respekt vor deinen Älteren, Alice!"

„Tut mir leid", lachte ich abwehrend, verstummte jedoch, als ich eine mir unbekannte Frau sah, die auf uns zugelaufen kam. Das einschüchternde an ihr war nicht, dass sie eine fette Sonnenbrille trug und aussah, als wäre sie gerade auf den Weg zu einer Fashion-Gala, nein, das einschüchternde an ihr waren die zwei gewaltigen Hunde an ihrer Seite, die nicht wie eine Rasse aussahen, die ich je zuvor irgendwo gesehen hatte. Sie wirkten wie Bären, so riesig wie sie waren, sahen furchterregend aus und obwohl ich Hunde liebte und keine Angst vor ihnen hatte, so hatte ich vor den beiden hier einen gewaltigen Respekt, würde es nie wagen, sie zu unterschätzen.

„Sind das die Stimmen von Daisy und Hayden?", fragte die Frau und ich sah wie Hayden neben mir entsetzt zu den Tieren sah, während Daisy den Hunden den Kopf streichelte, die daraufhin gleich weniger grimmig schauten, sich stattdessen mit einem zufriedenen Blick von ihr streichen ließen. Wie traute sie sich das bitte? Ich hätte Angst gefressen zu werden.

„Hallo Leila", begrüßte Daisy die Frau, die leicht lächelte.

„Ich nehme an, Hayden hat immer noch Angst vor B und C?", fragte die Frau und Hayden lachte leicht hysterisch. „Ja, wenn sie aufhören würden mich anzusehen, als ob ich ihr Abendessen wäre, würde es mir leichter fallen sie zu mögen", erklärte dieser sich.

„Schwachsinn, die zwei töten nur auf meinen Befehl hin", wandte Leila ab. „Aber wem gehört die andere Stimme an eurer Seite?" Etwas unbeholfen sah sie sich um und ich war erst irritiert, wie sie nicht wissen konnte, dass sie wohl zu mir gehörte, ehe ich begriff, dass sie blind war und die beiden Hunde waren ihre Blindenhunde, auch wenn sie die eigenartigsten und bedrohlichsten Blindenhunde aller Zeiten waren.

„Das ist meine Stimme, ich bin Alice Noir", stellte ich mich höflich vor, zuckte zusammen, als einer der Hunde mir näherkam und mich beschnüffelte. Er reichte mir von der Größe fast zur Brust hoch, das waren gewiss keine normalen Hunde.

„Ah, die neue Wächterin, ja, ich habe einiges über dich gehört, du bist das neue Mädchen an der Seite von Reed."

„Sieht so aus", meinte ich, auch wenn ihre Wortwahl mir missfiel. Ich war mehr als nur Reeds Anhängsel.

„Viel Glück dabei, meine Kleine", sagte sie und es klang fast so, als würde sie mit meinem baldigen Ableben rechnen.

„Danke?", antwortete ich deswegen überfordert, fand sie ein wenig schräg.

„Und Daisy Schatz, richte Ava doch die besten Grüße aus, es ist ja typisch für sie, sich hiervor zu drücken, aber sie kann mir nicht ewig ausweichen." Mit den Worten verschwand Leila wieder in der Menge und ich sah, wie Hayden sich die Brust hielt, erleichtert wirkte, dass sie fort war. „Ich weiß nicht, wie du keine Scheißangst haben kannst", fragte er Daisy, die amüsiert ist. „Ich finde sie süß."

„Und was für Hunde waren das bitte? Welche Rasse sieht so aus?", fragte schrill.

„Höllenhunde", antworteten beide für mich und ich glaubte mich verhört zu haben. „Bitte?"

„Leila stammt aus der Linie der Unterwelt, sie ist die Tante von Nasrin und Iran und ihr Gabe ist es Höllenhunde zu lenken. Sie wurde blind als Kind und als sie ihre Kräfte bekam, nutzte sie das für ihre Zwecke. Die Hunde führen sie jetzt", klärte Daisy mich auf und mir fehlten wirklich die Worte. Höllenhunde, die als Blindenhunde arbeiten. Was zur Hölle.

„Aber was denken andere Leute darüber?", fragte ich und stellte mir vor, wie normale Menschen in der Fußgängerzone reagierten, wenn sie solche Hunde sahen.

„Höllenhunde sind nicht dafür gemacht, hier auf der Erde zu verweilen. Nur Leute, die dem Tode nahestehen, können sie sehen. Alle aus der Wächterlinie sind mit den Göttern verbunden und somit auch irgendwie mit der Unterwelt, deswegen sehen wir sie als das, was sie sind, für andere Menschen sind es einfach nur zwei etwas größere und grimmigere Hunde, aber nicht in dem Ausmaß, wie wir sie sahen", sagte Daisy und ich war dennoch völlig überwältigt von dieser Begegnung und davon, was für Kräfte es gab. Dagegen wirkte meine wirklich wie ein Witz, aber ich war nicht einmal unbedingt neidisch, es wäre so gruselig gewesen so etwas zu können, gewaltige Hunde des Todes lenken zu können.

„Einfach gruselig, wenn ihr mich fragt", sagte Hayden, der sein Glas leerte und es anschließend auf die Küchentheke stellte.

„Ein wenig ja", gab ich ihm recht. „Ich gehe dann aber lieber mal meine Eltern und andere aus der Familie suchen, ich denke, sie werden sauer, wenn ich mich so versteckt halte." Zu gern wollte ich bei ihnen bleiben, doch ich würde mich leider nicht so aus der Sache verdrücken können, musste mich wenigstens kurz etwas vor meiner Familie zeigen.

„Viel Spaß, wir erkunden mal dein Haus etwas", sagte Hayden zwinkernd und ich verdrehte lächelnd die Augen, bahnte mir einen Weg zurück ins Wohnzimmer.

Mich begrüßten Menschen, die mir völlig fremd waren, einige wirkten überrascht mich zu sehen, andere wirkten ehrfürchtig, sowie im Dorf des Quartiers schon. Ich sah Haydens und Reeds Eltern, doch ich mied ein Gespräch lieber, wollte nicht mit ihrer Mutter am Ende über Reed reden müssen und eilte nach draußen, war froh über die frische Luft hier außen. Der Lärm hier war dank der vielen Gäste und des Streichquartetts immer noch enorm. Ich sah Warren und andere aus dem Quartier sich lachend unterhalten, bei ihnen stand auch Cameron, der recht heiter wirkte, sie schienen alle besoffen zu sein, doch sonst sah ich keine wirklich vertrauten Gesichter. Wo waren denn alle aus meiner Familie? Waren sie es nun, die sich verdrückten?

„Du siehst genauso überfordert aus wie ich mich fühle." Ich sah zu Reed, als dieser es schaffte, sich unbemerkt neben mich zu stellen und meinem Blick zu der Menge folgte. Es verschlug mir die Sprache, wie gut auch er im Anzug aussah, die Gene dieser Familie waren beeindruckend. Mein Herz hüpfte aufgeregt auf und ab ihn wiederzusehen, doch das hier war das erste Mal, dass wir uns richtig begegneten und miteinander redeten seit dem Moment im Auto, und ich wusste gar nicht, wie ich mich benehmen sollte, hatte nicht gedacht, dass er von sich aus meine Nähe suchen würde. Nun war er hier und ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte.

„Ich kenne mehr als die Hälfte aller Gäste hier nicht."

„Man will den Großteil auch nicht kennen lernen. Anstrengende Menschen", merkte er fast ein wenig abfällig an und ich lächelte leicht. „Naja, Hauptsache mein Großvater hat einen schönen Tag, alles andere ist doch egal."

Er musterte mich nun endlich, sah zu mir, wo mir auffiel, wie sein Blick an meinem überschminkten Veilchen hängen blieb, er gleich wieder deutlich angespannter wirkte. Also hatte er das alles nicht einfach vergessen und Scott innerlich vergeben. War auch etwas naiv, das zu hoffen.

„Tut es noch weh?", fragte er und ich schüttelte den Kopf. „Ich sage ja, es ist nur halb so wild gewesen."

„Es ist nicht halb so wild, ich hasse mich auf dich gehört zu haben und dem Dreckskerl nicht alle Zähne ausgeschlagen zu haben."

„Das wäre er nicht wert gewesen!", meinte ich, wusste immer noch nicht, was ich davon halten sollte, wie verändert er mir gegenüber war. Er war weniger gemein, zeigte offen, dass er sich um mich sorgte, fing von allein Gespräche mit mir an, küsste mich einfach, ignorierte mich wieder. Mir schwirrte der Kopf allmählich von seiner Art. Vielleicht hatte er sich ja damit abgefunden, dass wir verbunden waren, wollte ein halbwegs gutes Verhältnis zu mir aufbauen. Es würde mich freuen, doch gleichzeitig würde es keinen Sinn ergeben, wenn wir dann so intime Momente miteinander hatten und uns anschließend wieder aus dem Weg gingen. Ich war mir sicher, dass er einfach genauso planlos über unser Verhältnis war wie ich. Er wusste sicher einfach gar nichts mit mir anzufangen.

„Was auch immer, er sollte mir lieber nicht über den Weg laufen."

„Wenn er schlau ist, wird er das auch nicht", sagte ich. Scott kam mir nur leider nicht sehr intelligent vor, was Reed auch so sah, der schmunzeln musste von meinen Worten, wieder lockerer wurde und das Thema gleich wechselte. „Wir können in den Irrgarten und weg von der Menge", schlug er vor und obwohl ich wusste, dass er es nicht ernst meinte, schüttelte ich den Kopf. „Selbst wenn ich wollte, das Tor ist verschlossen."

„Hat dich letztes Mal offenbar auch nicht hindern können", erwiderte er und sah zu mir, wo seine Augen amüsiert funkelten und ich ganz kurz vergaß zu atmen, zu überwältigt von seinem Blick war ich, von ihm als Person. Wollte er mir etwa von sich aus wieder näherkommen? Worauf wollte er hinaus? War es denn von Bedeutung? Eigentlich schon. Ich sollte mich nicht so von ihm ausnutzen lassen. Er konnte nicht immer nur dann zu mir kommen, wenn er körperliche Nähe brauchte. Ich war mehr als ein Spielzeug, doch vielleicht verurteilte ich ihn auch einfach zu schnell? Oh, wie gern ich all meine Fragen laut aussprechen würde, nur wie ich ihn kannte, würde er einfach dicht machen und wieder die Flucht ergreifen.

„Ich glaube ja mittlerweile, dass ich nur dort hinein bin, weil du drinnen warst. Ich denke nachts verliere ich die Kontrolle über meinen Geist oder so und dann spüre ich unser bescheuertes Band und glaube, zu dir zu müssen", sagte ich, hatte die Vermutung schon gehabt, als ich ihn im Irrgarten getroffen hatte damals in dieser einen Nacht. Ich bereute es jedoch sofort, das angesprochen zu haben, vermutlich klang das völlig albern und nun dachte er, ich wäre besessen von ihm oder so. Zu meiner Erleichterung, nickte er verstehend, wirkte nicht amüsiert oder abfällig. „Kann gut sein. So etwas kommt ab und an bei Paaren vor."

„Vergeht es denn irgendwann?"

„Nein, aber wenn du nachts heimlich in mein Bett kommst, verspreche ich, dich nicht von der Bettkante zu stoßen", sagte er scherzend und ich schlug ihm gegen die Schulter, was ihn nur lachen ließ. Oh, wie schön sein Lachen sich doch anhörte. Dass er überhaupt in der Lage war, solche Witze zu machen, war schon bemerkenswert genug. Wieso musste seine Stimmung sich auch nur immer so ändern? Wieso konnte er nicht immer so lebhaft, scherzend drauf sein?

„Nicht witzig. Ich finde es ziemlich unangenehm, so machtlos zu sein."

„Kein schönes Gefühl, da gebe ich dir recht, aber das ist Teil der Bindung, jedes Paar hat seine eigenen Hürden", meinte er und ich zuckte leicht zusammen, als er meine beiden Hände ergriff, ich mich wie berauscht von der Berührung fühlte, merkte, wie mein Herzschlag schneller wurde, ein angenehmes Kribbeln mich gleich durchfuhr.

„Siehst du, du spürst es auch, oder?", fragte er leise, flüsterte fast und doch hörte ich ihn.

„Es ist seltsam", gab ich zu, da ich mich plötzlich ganz ruhig und entspannt fühlte und gleichzeitig mehr von seiner Nähe wollte, mir elektrisiert vorkam, mein Blick ungewollt auf seine Lippen fiel, ich daran dachte, wie weich sie sich anfühlten, wie schön es war ihm so nahe zu sein. Ich verscheuchte den Gedanken aus meinem Kopf. Es war falsch das zu denken, so zu empfinden. Er dachte immerhin anders, da gab es keine Liebe oder Gefühle. Wir waren uns nur nahe gewesen aus reiner Lust heraus und Lust könnte auf Dauer alles ruinieren.

„Diese Bindung kann stärker sein als jede irdische Beziehung sonst auf der Welt, wenn man es denn zulässt, doch man muss sich immer den Konsequenzen bewusst sein", meinte er und ich folgte seinem Blick zum Boden, wo ich sah, dass die Wiese um uns herum voller kleiner Wildblumen blühte, die vorher noch nicht da gewesen waren. Das ist mein Werk, das habe ich geschafft und das nur, weil wir Händchenhalten. Wie die Natur draußen im Wald wohl eskaliert war, als wir uns nähergekommen sind? Ich hatte nicht darauf geachtet, doch es würde mich nicht wundern, wenn nun neue Bäume gewachsen wären.

„Wenn man es zulässt, wird man stärker, mächtiger, aber was sind die Konsequenzen?", fragte ich, ließ mich unbewusst näher zu ihm ziehen, so dass unsere Körper nur noch wenige Zentimeter voneinander trennten, ich richtig die Spannung zwischen uns spüren konnte, glaubte, die Luft wäre geladen.

„Nichts, was du verkraften könntest, Herzblatt", erwiderte er bedauernd.

„Wieso bist du dir da so sicher? Ich bin stärker als du glaubst."
„Nicht stark genug für die Dinge, die im Schatten lauern", sagte er leise, musterte mich bitter dabei, ließ mich einfach los und ehe ich was sagen konnte, verstehen konnte, verschwand er wieder in der Menge und unbeholfen blieb ich zurück, wurde manchmal nicht aus ihm schlau. Nein, ich wurde eigentlich nie aus ihm schlau. Was war nur mit ihm? Wieso glaubte ich nur, dass da so viel mehr an ihm war, als ich auch nur ahnen konnte? Ich schüttelte den Kopf, kam mir benebelt vor, wollte mich nicht mehr so fühlen, wollte mich nicht immer seinetwegen so seltsam fühlen und lief wieder nach innen. Ich wollte kurz Ruhe, einen freien Kopf kriegen, weswegen ich nach oben lief, im ersten Stock jedoch Hayden und Daisy lachen hörte, ich ihren Stimmen so in die Bibliothek folgte. Was taten die zwei bitte dort? Ich betrat den alten Raum, in dem es wundervoll nach Büchern roch und wo ich die beiden auf dem alten Ledersofa beim Fenster vorfand. Ein altes Buch lag offen auf Haydens Schoß und ertappt sahen beide zu mir, ehe sie erleichtert wahrnahmen, dass es nur ich war.

„Was macht ihr da?"

„Wir haben euer Familienbuch gefunden, es ist echt witzig", sagte Hayden amüsiert und ich quetschte mich zu ihnen aufs Sofa.

„Wir haben so etwas?", fragte ich, da ich das selbst nicht gewusst hatte.

„Ja, verdammt alt das Teil und deine Vorfahren sahen teilweise echt witzig aus", sagte Hayden und zeigte mir einige Fotografien aus dem 19. Jahrhundert.

„Wie weit geht das denn bitte zurück?", fragte ich erstaunt, woraufhin er das Buch zuklappte und ganz vorne wieder öffnete.

„Ähm, wenn ich das richtig entziffern kann, irgendwann im Jahre 1500, aber vermutlich wurde es erst später angefertigt, so alt wirkt das Buch nun auch wieder nicht", sagte er und schlug das Buch nun wieder relativ weit hinten auf. „Schau, da bist du und dein Bruder." Er zeigte mir die neusten Seiten, wo ich überrascht war, tatsächlich Bilder von Dari und mir zu sehen. Sie waren gar nicht einmal so alt.

„So seltsam", murmelte ich, fand es irgendwie ziemlich cool. Ich würde immer wissen, wer Teil meiner Familie gewesen ist, es immer zurückverfolgen können.

„Was machst du aber hier?", fragte Daisy nun, während Hayden das Buch wieder zuklappte und zur Seite legte.

„Ich habe Reed getroffen und brauche eine Pause."

„Oh oh, war mein Bruder wieder gut drauf?", fragte Hayden amüsiert und ich schüttelte den Kopf. „In einem Moment denke ich, wir würden uns verstehen, dann kommt er mir nahe und ich weiß nicht, ob er mich küssen will oder ob ich einfach verrückt werde, und im nächsten ist er wieder kalt und unerreichbar", jammerte ich und Hayden seufzte wehleidig. „Gib dir keine Schuld, er ist das Problem."

„Sei nicht so fies, es trauert eben noch immer", sagte Daisy, doch wie konnte man über hundert Jahre um jemanden trauern?

„Er macht es sich selbst schwer. Ich vermisse Gracie auch, aber ich habe mittlerweile akzeptiert, dass sie fort ist, es ist ja nicht gerade erst geschehen, sondern vor einer Ewigkeit."

„Er will es eben nicht wahrhaben", sagte Daisy verständnisvoll, was überraschend von ihrer Seite aus war, da sie Reed immerhin nicht wirklich mochte, und ich sah sie fragend an. „Nicht wahrhaben? Wir kann er es nicht wahrhaben wollen nach so viel Zeit?"

„Mein Bruder lebt mit der absurden Idee, dass Grace gar nicht wirklich tot ist, sondern lebt, musst du wissen", sagte Hayden und ich sah ihn an, als ob das ein schlechter Scherz wäre. Reed dachte bitte was? Wie kam er darauf? Selbst wenn es so wäre und sie damals nicht gestorben wäre, sie stammte nicht aus der Zeitlinie und müsste längst tot sein, oder nicht?

„Das ergibt keinen Sinn", sagte ich deswegen und er lächelte. „Eben, es ergibt keinen Sinn. Er ist nur so besessen von ihr, dass er es nicht akzeptieren will."

„Er ist verliebt", verteidigte Daisy ihn. Liebe hin oder her, man konnte sich doch nicht so sehr an etwas klammern.

„Mein Bruder hat sie nicht als einziges geliebt, aber wir anderen haben es auch akzeptiert", erwiderte Hayden fast bissig, schien nicht gern über das Thema zu reden, ich sah ihm an, wie verkrampft er war, wie nervös irgendwie und ich fragte mich, wie nahe die zwei sich gewesen waren. Waren sie Freunde? Was war überhaupt damals gewesen? Laut den anderen war es ein Unfall gewesen, doch was genau?

„Aber wieso denkt er das überhaupt?", fragte ich, wollte versuchen zu verstehen.

„Dafür müsstest du die ganze Geschichte der beiden kennen und ich erspare dir das weil... naja, du bist mit Reed verbunden und sollst nicht zu verschreckt werden und gleichzeitig würde er vermutlich nicht wollen, dass ich überall seine Lebensgeschichte preisgebe, besonders, da er darin nicht gut wegkommt", meinte Hayden ernster als sonst, wirkte ziemlich nachdenklich dabei, als ob er vieles selbst noch nicht ganz verstehen würde. „Aber um es einfach zu machen, die beiden haben sich so stark aneinandergebunden, wie es irgendwem nur möglich ist, ihre Seelen sind verschmolzen und er glaubt nach wie vor ihre Nähe fühlen zu können auf der Erde, was absurd meiner Meinung nach ist."

„Müsste sie nicht längst tot sein nach über hundert Jahren?", fragte ich und er schüttelte den Kopf. „Der Vorteil der Zeitlinie. Finden wir den richtigen Partner, können wir uns so binden, dass er mit uns langsam altert. Wie bei meinen Eltern." Oh stimmt, da war ja was. Also waren Grace und Reed wirklich eng gewesen. Aus irgendeinem absurden Grund spürte ich die Eifersucht in mir, als mir klar wurde, dass er immer nur sie lieben würde, dass selbst wenn er loslässt, er niemals jemanden so sehr lieben würde wie sie. Wie es wohl war jemanden so sehr zu lieben? So sehr geliebt zu werden? Ich wusste es nicht, wusste nicht, ob ich es je nachvollziehen könnte, doch ich stellte es mir schön und grausam zugleich vor.

„Und du denkst, er würde falsch liegen?", fragte ich und er nickte. „Die Wahrscheinlichkeit, dass sie lebt, ist genauso groß wie dass Delfine sprechen können."

„Und er wird es sicher auch noch akzeptieren", versichert Daisy. „Er macht Fortschritte seit Alice da ist. Vorher hat er niemals irgendwen an sich herangelassen."

„Aber wenn er sie anfängt zu verletzen wegen der Grace Angelegenheit, reicht es", murrte Hayden. „Lass den Schwachkopf nicht zu sehr an dich heran, Kleine, ein totes Mädchen reicht, ich mache da nicht nochmal mit."

„Reed wird sie kaum umbringen", mahnte Daisy ihn und ich sah beide entsetzt an. „Was würde Reed bitte?"

„Nichts", sagte Hayden nun wieder belustigt, schien seinen Humor wieder zu finden. „Ich sage ja, die Sache ist kompliziert."

„Ich merke es, aber gut, ich gehe kurz ins Bad und versuche unterwegs eure Worte zu verdauen, sonst werde ich noch langsam gaga", meinte ich und stand auf, brauchte kurz einfach nur Ruhe, vor allem nach dem, was ich von den beiden nun erfahren hatte.

Ich verließ die Bibliothek unter Daisys besorgten Blicken, lief weiter nach oben in den dritten Stock, wo ich dabei war, mein Zimmer zu betreten, kurz in Frieden durchzuatmen, als ich jedoch hörte, wie jemand die Tasten auf dem Klavier im Musikzimmer klimpern ließ. Klar durften die Gäste hier hochgehen, doch ich hörte keine Stimmen, also war die Person allein und etwas neugierig wollte ich wissen, wer es war und was die Person ganz allein hier oben zu suchen hatte bei einer so großen Feier.

Ich betrat das Zimmer also, doch am Klavier war keiner mehr zu sehen. Bildete ich mir nun schon Dinge ein? Der Tag machte mich wirklich fertig, aber vermutlich verwechselte ich das Geräusch nur mit dem Lärm von unten. Ich wollte mich schon umdrehen und gehen, doch ich zuckte verschreckt zusammen, als die Türe vor meiner Nase zugeschlagen wurde und ich Kellin sah, der sich hinter dieser versteckt hatte. Kellin, der Bruder von Hayden und Reed, der Mörder meiner Cousine, der einst so hübsche Junge mit den vielen Narben im Gesicht.

„Hallo, kleines Mädchen", begrüßte er mich vergnügt, legte den Kopf schief und lächelte. Er war hier. Er war wirklich hier und ich war ganz allein hier oben, ihm ausgeliefert. Das war nun wirklich nichts, mit dem ich gerechnet hatte. Niemals hatte ich angenommen, dass er ausgerechnet heute hier auftauchen würde, sich das trauen würde. Es geschah zu unerwartet und ich hatte das Gefühl, mein Kopf würde leer werden vor Schock.

Automatisch wich ich ein gutes Stück zurück, war völlig entsetzt. Wie konnte er hierher? Wie konnte er wissen, dass ich hier allein sein würde? Was wäre nun? Er wollte mich entführen. Aber durch die Zeit konnten wir noch nicht zusammen reisen, oder hatte er bereits eine Alternative gefunden mich an ihn zu binden?

„Nicht so ängstlich, noch bin ich friedlich gestimmt", beruhigte er mich erheitert von meiner Angst und ich merkte, wie mein Herz am Rasen war, wie meine Hände schwitzig wurden, ich am liebsten schreien wollte. Würde mich bei dem Lärm unten überhaupt jemand hören?

„Komm mir nicht zu nahe!", warnte ich ihn ängstlich, nur ich machte ihm keine Angst, wie sollte jemand wie ich ihm schon Angst machen? Er kam mir langsam entgegen, woraufhin ich weiter zurückwich, das Klavier zwischen uns brachte, mich etwas sicherer so fühlte.

„Ich hasse es den Bösen spielen zu müssen, aber leider kann ich dich nicht gehen lassen", sagte er sachlich und ich glaubte ohnmächtig werden zu müssen, als er ein Messer zog. Oh Gott, er würde mich umbringen. Er wollte mich beseitigen, ermorden, zerstückeln. Es war mir egal, ob mich jemand hören würde oder nicht, ich schrie um Hilfe, wurde richtig hysterisch bei dem Anblick der Waffe. Hier im Zimmer waren nicht mal Pflanzen, die mich retten könnten, und selbst wenn, wäre ich zu unfähig sie als Waffe zu nutzen.

Ich wusste nur, dass ich nicht sterben wollte, nicht von im ergriffen werden wollte, wegmusste.

Von meinem Schrei alarmiert, griff Kellin an. Er wartete nicht ab, spielte kein Spiel, in dem er das Raubtier und ich die Beute wäre, er rannte um den Flügel herum auf mich zu und ich lief sofort weiter zur Türe, wollte weg, weit weg. Gerade, als ich sie aufreißen konnte, schmiss er mich mit sich zu Boden, hatte mich natürlich sofort erreicht.

Wenn ich das hier überlebe, würde ich endlich anfangen Sport zu machen und Marathonläuferin zu werden, langsam reichte es doch.

Ich schrie weiter um mein Leben, als sein Gewicht mich zu Boden drückte, er mich nicht sehr freundlich auf den Rücken drehte und mir den Mund mit einer Hand zuhielt, mich zum Verstummen brachte und ich nur völlig panisch in seine Augen sehen konnte. Tränen sammelten sich in meinen eigenen an, die schon frei über mein Gesicht hinab in meine Haare liefen und ich sah in das Gesicht des Mannes, der meine Cousine getötet hatte, der aus Eifersucht jemanden getötet hatte, der mich nun auch töten wollte vielleicht, doch wieso? Wieso das alles? Wieso tat jemand solche Dinge?

Ich dachte an Malias Worte aus dem Tagebuch, sie hatte ihm vertraut und er hatte sie dafür getötet. Wieso wollte er mich aber dafür töten? Nur weil ich aussah wie sie?

„Ich bringe dich nicht um, also hör auf zu schreien", besänftigte er mich harsch und tatsächlich beruhigten seine Worte mich ein Stück, wenn auch nicht völlig. Wenn ich sterben sollte, ich wäre wohl wirklich längst tot, er war mir immerhin überlegen.

Er nahm seine Hand von meinem Mund und schwer atmend sah ich in sein Gesicht, sah zu den Narben, sah in seine grünen Augen und ich erschauderte, als er mir sachte übers Gesicht strich, fasziniert wirkte, mich intensiv musterte, sie wohl in mir sah.

„Es ist, als wäre sie hier", murmelte er und angewidert wusste ich genau, wen er meinte, fand die Situation so grauenvoll, dass mir schlecht wurde, ich am liebsten erneut das Schreien angefangen hätte, aber ich hatte Angst, was er dann tun würde, obwohl mein Schweigen mich hier auch nicht rettete. Irgendwas an ihm ließ mich aber einfach nicht weiter schreien, ließ mich sprachlos nur unter ihm liegen. Ich sah ihn an und irgendwas, das er ausstrahlte, verwirrte mich, passte nicht ins Bild, auch wenn ich noch nicht genau verstand, was es denn war.

„Ich brauche nur ein wenig Blut von dir, Kleine", sagte er da nämlich und schluchzend versuchte ihn von mir zu kriegen, aber er wog so viel mehr als ich, war so viel stärker, es war ein zweckloser Versuch, als er sein Messer schon an mein rechtes Handgelenk drückte, ich das brennende Gefühl spürte, das die Klinge hinterließ, als sie meine Haut dort durchschnitt, ehe warmes Blut aus der Wunde floss.

Ich sah nicht, was er mit dem Blut tat, wusste nicht, was er als nächstes vorgehabt hätte, denn etwas anderes hinderte ihn an dem Fortführen seines Plans, und zwar das laute Knurren von Hunden. Höllenhunden.

„Oh, das darf doch wohl nicht wahr sein", murmelte Kellin, der sich aufrichtete und die beiden Bestien sah, die ich zwar nicht sehen konnte von meiner liegenden Position, nur ich war mir sehr sicher, dass es Leilas waren.

„Bringt Mama den Mistkerl", sagte diese und ich hörte, wie die schweren Pfoten näherkamen, hörte ihr lautes Bellen und Knurren, blieb flach auf dem Boden liegen und sah zu Kellin auf, der nicht weiter wartete und schon in der Zeit verschwand. Ich schrie auf, als die beiden Tiere dennoch über meinen Körper hinwegsprangen, als wäre es gar keine Hürde, im Musikzimmer schlitternd zum Stehen kamen, das Klavier dabei verschoben und nicht glücklich wirkten, dass er entwischen konnte.

„Feiglinge wie er hauen immer ab, wenn es ernst wird", murrte Leila, die sich mir näherte und mühsam setzte ich mich aufrecht hin, lehnte mich an die Wand und sah zu ihr, als sie sich mir näherte und neben mich kniete, ihre Hand ausstreckte nach ihren Hunden, die zu ihr kamen, nun gleich wieder lieb und freundlich wirkten und nicht so, als ob sie gerade dabei gewesen wären, jemanden zu töten.

„D-Danke", brachte ich stammelnd hervor. Sie hatte mir das Leben gerettet, ohne sie wäre ich vielleicht tot, ohne sie hätte er sonst was getan. Der Schock saß tief, ich kam mir verstört vor. Damit hatte ich niemals gerechnet. Niemals hätte ich gedacht, dass er sich traut hier aufzutauchen, es wagen würde. Woher hatte er auch gewusst, dass ich hier oben sein würde? Wie war das möglich?

„Nichts zu danken. Mein Gehör funktioniert ziemlich gut, aber selbst bei dem Lärm habe ich etwas Schwierigkeiten gehabt deine Schreie zu hören."

„Woher wusstest du, dass es Kellin war?", fragte ich, drückte mit meiner Hand die Wunde zu, die nach wie vor blutete.

„Ich vergesse keine Stimmen und ganz so blind bin ich auch nicht", meinte sie und ich verstand wirklich nicht, wie sie das meinte, doch es war doch ganz egal. In dem Moment kamen schon Reed, meine Eltern und Cameron nach oben gerannt, liefen direkt weiter auf uns zu, als sie sahen, wie wir auf dem Boden saßen.

„Was ist geschehen?", fragte Reed ganz krank vor Sorge, drückte sich an Leila vorbei und sah sich die Wunde an.

„Kellin", erklärte ich, konnte nach wie vor kaum glauben, dass er wirklich hier gewesen war. „Er hat mich angegriffen und Leila hat ihn verscheucht."

„Wir haben den Krach gehört und sind sofort hoch, aber wie konnte Kellin hierher? Ich dachte, er war nie in diesem Haus während er Malia kannte und damals waren keine Wentworths je hier eingeladen", fragte meine Mutter besorgt und ich fragte mich das ja auch, gleichzeitig brummte mein Kopf nur fürchterlich. Das Adrenalin fing an zu verschwinden und ich kam mir erschöpft vor, musste die verdammte Wunde verarzten.

Ich war dennoch froh, dass Reed hier war, dass er neben meiner Familie und Leila hier war, sich um mich kümmerte, sorgte und ich dachte daran, was Hayden meinte, als er sagte, ich würde es schaffen, ihn zu verändern, ihn wieder richtig lebendig werden zu lassen, nachdem er es hundert Jahre nicht mehr war. Ja, vielleicht war unsere Bindung stärker als er es wollte und ahnte, nur war es wirklich so schlimm?



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Aloha :) Mal wieder ein längeres Kapitel mit mehr Action, ich hoffe es hat euch gefallen, würde mich über eure Meinung freuen xx

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