21. Die Entschuldigung

"I'll be ok. Just not today." Unknown

Durch das ganze Chaos der vergangenen Tage hatte ich das Gefühl, meinem alten Leben zu sehr entflohen zu sein. Ich verbrachte kaum mehr Zeit mit meinen Eltern und noch viel weniger mit Dari, was einer der Gründe war, weswegen ich diesen mit mir ins Musikzimmer nahm, nachdem ich mich etwas wegen Reeds verletzenden Worten beruhigt hatte. Dieser war froh eine Pause vom Putzen machen zu können und verließ nur zu gern die Seite meiner Großmutter, bevor sie ihm eine neue Arbeit geben konnte.

Mein kleiner Bruder war unglaublich verständnisvoll gegenüber der ganzen Angelegenheit und wieso ich nicht mehr so viel Zeit für ihn hatte. Er wusste, dass alles kompliziert war und obwohl er von Natur aus genauso neugierig wie ich auch war, stellte er nicht allzu viele Fragen, was vor allem daran lag, dass er nun alles Nötige bald selbst beigebracht kriegen würde im Unterricht. Er würde anders als ich alles von jung auf beigebracht bekommen, er würde vorbereitet sein im Ernstfall, denn offenbar hatte meine Situation meinen Eltern ein wenig die Augen geöffnet, ihnen gezeigt, dass es nicht gerade schön wäre so ahnungslos sich alledem stellen zu müssen.

Ich vermisste meine beiden älteren Brüder schrecklich, war es nicht gewohnt so selten von den zwei zu hören seit wir hergezogen waren, würde zu gern wissen, wie viel sie wohl wussten, doch offenbar waren sie zurzeit zu beschäftigt, um herzukommen oder gar zu telefonieren und so würde ich wohl geduldig auf sie warten müssen, für Dari jedoch da sein.

„Zeig mir deine Kraft!", quengelte er zum sicherlich zwanzigsten Mal heute, doch wie die 19 Male zuvor, schüttelte ich den Kopf. Ich hatte die Sache schwer unter Kontrolle und wollte nicht am Ende das Haus zerstören, was gut passieren könnte bei meinem tollpatschigen Talent und so aufgewühlt wie ich nach dem heutigen Tag besonders war.

„Ich sagte doch bereits, dass ich das gerade noch nicht so gut kann", erklärte ich ihm lächelnd und drückte wahllos Tasten auf dem Flügel, der hier oben stand.

Ich hatte früher ein paar Lieder spielen können, nie sehr gut.

„Ist egal, das ist so cool, ich hoffe, ich werde auch ein Wächter sein, glaubst du, ich werde einer? Können Geschwister Wächter werden?"

„Sicher, aber frag mich nicht, wie groß die Chance dazu ist", erwiderte ich und dachte an Reeds Familie. All seine Geschwister hatten Wächterkräfte, das war schon ein sehr großer Zufall, innerlich hoffte ich eigentlich, dass Dari keiner werden würde, nicht so ein Stress hätte, sich nicht mit unkontrollierten Kräften plagen muss und zu hoffen hat, dass es einen geeigneten Partner für ihn irgendwo da draußen gibt. Ich dachte an Nasrin und wie sie am Leiden war, dachte daran, wie viel Glück Daisy hatte Hayden zu haben. Nein, mein kleiner Bruder sollte lieber ein normales, friedliches Leben führen.

Er gab sich endlich damit zufrieden, dass ich ihm heute noch nichts zeigen würde, stellte noch ein paar Fragen zu den Wächtern, wobei ich ihm die meisten selbst nicht beantworten konnte, so ahnungslos wie ich war, ehe er viel lieber von seinem Leben berichten wollte, mir von seinen neuen Freunden erzählte, wie ihre Namen waren, welche ihre Lieblingsmannschaften im Fußball waren und wie witzig es mit ihnen in der Schule war. Eine beneidenswerte Eigenschaft von Kindern war es wohl, dass sie dazu in der Lage waren, sehr schnell viele Freunde zu finden. Ich konnte mich mit Hayden und Daisy keineswegs beklagen, doch wenn beide nicht gewusst hätten, dass ich ein Teil der Wächterlinien war, sie hätten mich vermutlich keines Blickes gewürdigt und wer wusste schon, wie es mir dann in der Schule ergangen wäre? Ich bezweifelte, um ehrlich zu sein, dass ich jetzt schon Freunde hätte, oder mich überhaupt hier so wohlgefühlt hätte, wenn es nicht um die Wächter gehen würde. Ich war der Sache also irgendwie zu Dank verpflichtet, auch wenn alles sehr stressig war und ich gern wieder etwas mehr Ruhe hätte.

Meine Mutter beendete unsere kleine Zusammenkunft schließlich, als sie meinen Bruder zwang, duschen zu gehen, da er vom vielen Putzen ganz schmuddelig geworden war, und ich verzog mich in mein Zimmer bis zum Abendessen, wo ich eigentlich lernen wollte, irgendwas Nützliches tun wollte, doch mein fauler Hintern lockte mich nur aufs Bett, nicht jedoch ohne vorher das Tagebuch meiner Cousine geschnappt zu haben.

Eigentlich war mir nicht nach herumschnüffeln und eigentlich wollte ich wirklich etwas Produktives tun anstatt in fremden Dingen meine Nase zu stecken, aber ich wollte mich ablenken und es strikt meiden an Reed, den Kuss oder seinen gemeinen Worten von vorhin zu denken.

Nun, wo ich von den Reitern wusste, wollte ich einfach sehen, ob Malia vielleicht ja irgendwas zu ihnen gewusst hatte. Ich konnte es dieses Mal nicht sein lassen noch weiter hinten eine Seite aufzuschlagen, musste einfach wissen, was sie wusste, was sie gemeint hatte, als sie über die fünften Wächter geschrieben hatte. Es war so interessant und beängstigend mehr über sie und ihr Leben zu erfahren, über das, was war, zu erfahren, auch wenn es falsch war, nicht richtig sein konnte.

02.09.2005

Ich kann nicht mehr leugnen, dass ich Angst habe. Ich habe schreckliche, schreckliche Angst und weiß kaum, was ich dagegen noch unternehmen soll. Ich kann mit niemanden mehr wirklich darüber reden, die ganze Sache ist zu riskant geworden, alles ist zu gefährlich und ich will niemanden mehr gefährden müssen. Kellin ist sich so sicher bei der ganzen Sache und ich vertraue ihm, doch ein Teil von mir will ihm vermutlich einfach keinen Glauben schenken müssen, denn wenn es wirklich stimmt, es würde alles verändern und ich bin nicht bereit dafür. Ich finde immer noch, dass andere sich darum kümmern sollten, es nicht unsere Aufgabe ist, doch wer sollte es sonst tun?

Ich zog die Stirn kraus, als die nächsten paar Zeilen alle durchgestrichen wurden und das leider so stark, dass man kein Wort erkennen konnte, ich könnte versuchen es zu entziffern, doch ich hatte nicht die Nerven dafür im Moment, weswegen ich die letzten paar Worte las, die nicht verbogen wurden.

Ich glaube, dass mir das alles das Leben kosten wird, und obwohl es beängstigend ist, so wird der Gedanke von Tag zu Tag etwas erträglicher.

Ich atmete zittrig aus von diesen Worten. Sie hatte gewusst, dass etwas nicht stimmte, so wenige Monate vor ihrem Tod hatte sie es gewusst, doch den Sinn hinter ihrem Geschriebenen begriff ich nach wie vor nicht. Ich musste vermutlich wirklich geordnet anfangen die Einträge zu lesen, um alles zu begreifen, nur es wäre eine mühsame Arbeit, bei der ich mich nicht ganz so wohl fühlen würde. Vielleicht sollte ich das Buch einfach Elin geben, wenn sie mich besucht, es war nicht ihre Cousine, vielleicht würde es einfacher für sie sein?

Ich klappte das Buch wieder zu, mir war die Lust am Lesen ganz schnell wieder vergangen mit dem Gedanken an das Ende, den Tod und was für in Schicksal das arme Mädchen erleiden musste, und ich war froh, dass in dem Moment Lilien zum Essen rief, mich etwas ablenkte und davon abhielt, mir den Kopf weiter zu zerbrechen.



Die Essen mit meiner Familie waren etwas, die mir den Tag versüßen konnten. Vor der ganzen Wächtersache hatte ich nie zu schätzen gewusst, wie nett es eigentlich war so beisammen zu sitzen, doch seit wir hier lebten, seit mein Leben eine gewaltige Wende eingenommen hatte, ich merkte so richtig, wie toll sie alle waren und wie sehr ich sie alle liebte.

Mein Großvater erzählte irgendeine Geschichte von einem nervigen Nachbarn, mit dem er sich heute gestritten hatte, weil er seiner Meinung nach seinen Müll nicht richtig sortierte; meine Oma hatte sich beim Kochen wieder einmal selbst übertroffen. Lilien mahnte Cameron, wie er den richtigen Job nach dem Studium zu finden hatte und Dari erzählte meinen Eltern dasselbe, was er mir vorher schon erzählt hatte. Ich selbst saß still da und lauschte lächelnd den Gesprächen, aß mein Essen, versuchte kurz das Gefühl zu genießen normal zu sein, verdrängte die Wächter, Reed und alles weitere aus meinen Gedanken. In solchen Momenten war das Leben aber auch einfach schön. Alle Probleme scheinen vergessen zu sein, man war gewöhnlich, erfuhr, was bei seinen Geliebten den Tag über so geschehen war, konnte seinen eigenen Gedanken ein wenig entkommen.

„Wie stehen die Planungen zu deinem Geburtstag eigentlich?", fragte mein Vater seinen Vater und ich sah verwundert auf. Ich wusste, dass er am Wochenende Geburtstag haben würde, doch dass er etwas Großes dafür plant, hatte ich nicht gedacht.

„Ich wollte nichts Großes planen, aber deine Mutter übertreibt ja wie immer gerne", lachte er und legte sein Besteck auf den leeren Teller.

„Ich denke, es ist wichtig die großen Zahlen zu feiern, also habe ich einen Großteil seiner ehemaligen Kollegen eingeladen und auch andere Mitglieder der Wächter", sagte diese und ich versuchte nicht allzu entsetzt zu wirken, doch ich mochte keine großen Feiern mit Leuten, die ich nicht kannte und die allesamt Teil der Wächter waren, das klang sehr, sehr anstrengend.

„So viele alte Leute", jammerte Dari und bekam einen warnenden Blick von meiner Mutter dafür, woraufhin er sich weiter dem Essen widmete, während ich mir ein Lächeln verkniff.

„Ja, es werden wohl viele alte Leute sein", gab meine Großmutter ihm recht. „Aber es werden sicher auch jüngere Gäste anwesend sein."

„Ja, das glaube ich", murrte ich und dachte daran, ob Reed da sein würde? Würde man die Wentworths einladen? Sie waren immerhin Nachbarn und auch Teil der Wächter, es konnte also gut sein, Streit hin oder her.

„Seid nicht so, das ist der Geburtstag eures Großvaters in dessen Haus ihr hier lebt", sagte mein Vater streng, der mir wohl ansah, wie wenig ich mich auf diese Feier freute und sofort fühlte ich mich schlecht nur an mich zu denken. Ich musste ja nichts mit Reed zu tun haben, Daisy wird sicher auch da sein und es ging um mehr als nur um mich.

„Tut mir leid, ich werde mich von meiner besten Seite zeigen, versprochen", versicherte ich meinem Großvater, der das alles mit einer Handbewegung abwandte. „In deinem Alter habe ich auch keine Lust auf Familienfeiern gehabt, man hatte mich nur begeistern können, wenn meine eigene Großmutter ihre berühmte Wasservorführung veranstaltete."

„Wasservorführung?", fragte Dari gleich wieder ganz Ohr und ich selbst fragte mich auch, was er meinte, stellte mir gerade eine alte Frau in einem Pool vor, die dort Wassergymnastik machte.

„Meine Großmutter war vor Malia einer der letzten Wächterin unserer direkten Linie, wenn wir mal von meinen Cousins absehen, die auch Kräfte geerbt hatten. Ihre Kraft war es das Wasser zu bändigen und sie war äußerst begabt darin", erklärte Großvater uns stolz und ich wünschte mir auch so grandios mit meiner Kraft umgehen zu können, irgendwann unter meinen Familienmitgliedern dafür berühmt zu sein, berüchtigt, doch irgendwie glaubte ich nicht daran, je irgendwas Beeindruckendes zu erreichen. Ich würde sie vielleicht irgendwann beherrschen, aber mächtig sein war wieder ein anderes Thema.

„So cool", staunte Dari beeindruckt. „Kannst du auch eine Show veranstalten, Ally?"

„Ich kann versuchen eine Blume blühen zu lassen. Das wird nur ungefähr eine halbe Stunde dauern und ist alles andere als spektakulär", meinte ich und brachte fast alle am Tisch zum Lachen damit.

„Die Kräfte sollen ja auch kein Entertainment sein", sprach meine Mutter mir gut zu.

„Und alles braucht seine Zeit", pflichtete mein Vater ihr bei.

„Weiß ich doch", sagte ich seufzend, hatte geahnt, dass sie das sagen würden und gerade als Lilien ihre Meinung dazu abgeben wollte, klingelte die Türe und brachte alle Gespräche zum Verstummen.

„Erwartet irgendwer Besuch?", fragte Cameron, der schon aufstand, um nachzusehen, wer es war.

„Wieder Mr Norbert?", fragte ich vergnügt und dachte an das letzte Mal, als jemand um die Zeit klingelte.

„Nein", sagten meine Großmutter, und Lilien und die anderen schüttelten nur die Köpfe, sahen neugierig dem Braunhaarigen nach, wie er in der Eingangshalle verschwand. Wer es wohl war?

„Was willst du hier?!", fragte Cameron laut, wütend, und alarmiert sprang mein Vater sofort auf und eilte in die Eingangshalle, während meine Mutter ihm gleich darauffolgte.

Ich selbst legte mein Besteck zur Seite, lauschte den Worten, die gesprochen wurden, doch nun sprachen sie alle so durcheinander, dass es schwer war ihnen zu folgen, dennoch erkannte ich die Stimme, die neben der von Cameron und meinen Eltern ertönte, es war Reeds.

Gleich machte mein Herz ein paar aufgeregte Sprünge, ich schien seine Nähe wie ein Magnet zu spüren, wurde ganz hibbelig. Was tat er bitte hier? Was hatte ihn hierhegetrieben? Ich war einerseits ganz aufgeregt, andererseits wütend. Ich wollte ihn am liebsten nicht sehen müssen. Nicht nachdem, was er gesagt hatte, wie er sich mir gegenüber benommen hatte.

„Vielleicht solltest du nachsehen, Alice", mischte Lilien sich ein, die seine Stimme wohl auch erkannt hatte, und ich tat wie verlangt und sprang regelrecht auf, warf meinen Stuhl dabei fast um, eilte zu den anderen, wo ich Reed an der offenen Türe ausmachen konnte.

Mein Vater hielt Cameron eindeutig davon ab, Reed eine zu verpassen, doch das feindliche Verhältnis, das die zwei an den Tag legten, war deutlich spürbar. Was war hier los? Was tat er überhaupt hier?

„Was ist hier los?", fragte ich verwirrt von der Szene, sprach meine Gedanken somit laut aus.

Was wollte Reed bitte hier? Wieso riskierte er es herzukommen wissend, dass keiner in dem Haus ihn wirklich ausstehen konnte.

Reeds Blick fiel auf mich, als ich sprach und der Streit der drei Erwachsenen verstummte somit auch.

„Alice", begrüßte Reed mich etwas überrascht, musterte mich kurz und ich wünschte mir etwas anderes zu tragen als meine Hausklamotten, die aus einer Leggins und einem übergroßen alten Pulli bestanden, doch neben ihm sah ich schäbig aus, wobei es mir egal sein könnte. Das war mein Haus, ich lebte zumindest hier und da konnte ich wohl herumlaufen, wie ich wollte! Ich sollte mehr wie Iran sein und darauf scheißen, was er dachte. Er war ein Arsch!

„Vielleicht solltet ihr zum Reden nach oben gehen", merkte mein Vater an und ich hörte Cameron trocken auflachen. „Ihr toleriert das auch noch? Ja, klar, gute Idee, lassen wir die zwei noch mehr Zeit miteinander verbringen, damit er am Ende wie sein Psychobruder sie auch umbringen kann! Weil solche Dinge bis jetzt ja immer so gut geendet haben", schrie er so laut, dass sicher die halbe Nachbarschaft das mitbekam und angelockt davon, kam nun Lilien zu uns, die sich Cameron widmete. „Wir zwei reden jetzt ein ernstes Wort miteinander!", wies sie ihn harsch an und er schien zwar noch mehr sagen zu wollen, nicht fertig zu sein damit, Reed feindselig anzublicken und ihn anzuschreien, aber ein ernster Blick von unserer Tante genügte, dass er ihr nach oben folgte.

„Tut mir leid für die späte Störung und den Ärger, aber ich muss mit Alice reden", sagte Reed bedauernd an meine Eltern gerichtet. Mein Vater wirkte zerknirscht und schien auch nicht sehr froh zu sein, dass er hier war, doch anders als Cameron wusste er, dass Reed nicht Kellin war, dass man sie nicht zu sehr vergleichen sollte, auch wenn er ihn wohl dennoch nicht ausstehen konnte.

„Dann ab nach oben mit euch beiden, bevor Mrs Bloom auf der anderen Seite noch glaubt, die Polizei rufen zu müssen", sagte meine Mutter und meinte damit die nervige Nachbarin, die gegenüber wohnt und die meine Großmutter verabscheute, wegen ihrer überneugierigen Art und die wie gerufen schon am Fenster stand, die Vorhänge zur Seite geschoben uns neugierig beobachtete. Verrückte Rentner.

„Merke dir eines Reed: ich habe einen Jagdschein", warnte mein Vater ihn und ich unterdrückte das Verlangen, frustriert zu seufzen. Musste meine Familie sich aufführen wie ein Haufen an Verrückten?

„Na komm mit", sagte ich etwas unbeholfen von der Situation an Reed gerichtet, der das Haus betrat und seine Schuhe auszog, ehe er mir die Treppe hinauf folgte, schmunzeln musste von den warnenden Worten meines Vaters.

Es missfiel mir, dass er direkt hinter mir herlief, dass er überhaupt hier war. Ich war nervös, dachte an den Irrgarten, den Kuss, was er vorhin erst gesagt hatte. Was wollte er denn nun hier? Wollte er darüber reden? Wollte er jetzt sagen 'Tut mir leid, das war ein Fehler, lass und Freunde bleiben'? Ich wusste es nicht, wusste nicht, was mir am liebsten war nun zu hören, doch eigentlich waren wir selbst das nicht einmal. Freunde. Wir zwei waren einfach nur schräg, mehr nicht. Er hatte mir ja vorhin eigentlich bereits vermittelt, was er von mir hielt, was er in mir sah. Wollte er mir das nun verdeutlichen? Ich spürte, wie mein Herz schmerzte. Das alles nahm mich stark mit und ich wollte dieses Gespräch nicht führen, aber bevor es weiter einen gewaltigen Streit an der Haustüre gegeben hätte, würde ich es hinter mich bringen.

Still und ohne was zu sagen, folgte er mir Stockwerk für Stockwerk nach oben. Wir ignorierten beide den Streit, den Lilien und Cameron in der Bibliothek laut führten und hielten erst an, als wir mein Zimmer betraten, wo ich mich zu ihm drehte, als er gerade die Türe schloss.

Ich merkte sofort die Nähe zwischen uns, spürte, wie mein Körper sich nach ihm sehnte, sich von ihm angezogen fühlte praktisch, doch ich beherrschte mich.

„Da wären wir", sagte ich, merkte, wie nervös ich klang. Reed sah sich kurz um, betrachtete das Zimmer ganz genau, obwohl es nicht viel zu sehen gab, immerhin lagen nicht viele private Dinge von mir hier herum, dennoch schien er etwas hier zu sehen, das ich nicht sehen konnte, denn er wirkte irgendwie... melancholisch? Ging es ihm gut?

„Da wären wir", murmelte er leise, völlig in Gedanken und ich fragte mich, was das nun wieder sollte? War er hergekommen, um mein Zimmer zu sehen?

Langsam bewegte er sich in Richtung Fenster, blieb vor diesem stehen und strich über den Rahmen dieses und ich zog meine Stirn kraus von dieser seltsamen Geste. Was wollte er von meinem Fensterrahmen? Sollte ich die zwei allein lassen?

„Ist alles in Ordnung?", fragte ich deswegen besorgt und lächelnd drehte er sich zu mir. „Du kannst ja wirklich ziemlich gut in mein Zimmer gegenüber schauen", merkte er an und ich lief nun ebenfalls zum Fenster, sah zu dem Haus der Wentworths auf der anderen Seite, wo man hinter der gewaltigen Hecke ein Fenster erkannte. Ich wurde ganz rot von der bloßen Erinnerung daran, wie ich ihn beim Umziehen beobachtete und mich anschließend ganz peinlich auf den Boden geworfen hatte.

„Ja, aber ich stalke doch sicher nicht, falls du das anmerken willst", sagte ich bissig, wusste nicht, worauf er damit nun hinauswollte.

„Will ich nicht", versicherte er mir, wirkte recht zerknirscht und strich sich unwohl durch sein Haar, das gleich ganz wirr wirkte. „Ich... fuck, es tut mir leid, Alice. Ich war ein Arsch."
„Du musst dich nicht für deine Meinung entschuldigen", sagte ich. „Du kannst mich offenbar nicht ausstehen, dann ist das eben so, aber dann lass mich auch in Frieden ab jetzt!"
„Aber so ist das nicht!", sagte er eindringlich und ich schnaubte.

„Ahja? Du behandelst mich die meiste Zeit nicht wirklich nett und deine Ansage vorhin war klar und deutlich gewesen. Ich bin naiv und..." Weiter kam ich gar nicht mehr, als er mich einfach am Arm packte, zu sich zog, nur um mich neben dem Fenster an der Wand einzuengen. Ich erschauderte von der plötzlichen, intensiven Nähe, war wie gebannt von seinen Augen. Seine eine Hand berührte sachte mein Gesicht und ich hörte zu atmen auf, kam mir ganz gebannt vor.

„Du bist nicht naiv!", sagte er ernst. „Du bist viel eher lebensmüde die meiste Zeit, begibst dich blind in Angelegenheiten, die zu gefährlich für dich sind, und ich versuche lediglich, dich zu beschützen."
„Vor was?", fragte ich, verstand das alles nicht. Ich tat doch überhaupt nichts. Was war denn so gefährlich?

„Es ist zu gefährlich darüber zu reden und zu verwirrend vermutlich auch", sagte er, streichelte mein Gesicht ganz leicht, sah auf meine Lippen und ich merkte richtig, wie diese zu brennen anfingen. Mein Körper verlangte wohl nach einer Wiederholung des Kusses aber mein Verstand war wenigstens noch aktiv genug sich dagegen zu sträuben und Reed wagte keinen Versuch.

„Also wirst du mir nichts erzählen aber mich dann jedes Mal anzicken, wenn ich irgendwas tue, das anscheinend falsch ist, obwohl ich das kaum wissen kann?"

„Du weißt, dass du dich vom Park fernhalten sollst und vor allem vor Sasha", sagte er, wich etwas zurück und ich suchte sofort größeren Abstand zu ihm.

„Das kann ich nicht versprechen", sagte ich ehrlich. Ich wollte den Park nicht meiden. Sasha vielleicht schon, aber ich konnte kaum wegrennen, wenn er mit mir sprach.

„Das war mir klar", sagte er leicht genervt, verdrehte die Augen und lief einen Schritt auf mich zu, wo ich gleich einen Schritt zurückwich von der plötzlichen Nähe, was er amüsiert bemerkte. „Angst, ich küsse dich wieder?"

„Eher, dass du wieder abhaust!", erwiderte ich bissig und sein Lächeln verschwand gleich darauf wieder.

„Ich bin ein Arsch, ich weiß. Ich wollte das nicht tun, will mit dir nicht irgendein Spiel spielen, falls du das denken solltest, Alice. Wir sind Partner und haben es sowieso nicht leicht, da Paare unserer Linien nur Unglück bringen, also sollten wir ein gutes Verhältnis zueinander haben und es nicht zerstören."

„Wieso hast du es dann getan?", fragte ich, wollte wissen, wieso er sich so benahm und tat, was er eben tat. Ich dachte dabei an Daisys Worte, dass ich ihn vermutlich einfach zu sehr an das, was mit Grace war, erinnerte. Es war verletzend zu wissen, dass man in den Augen eines anderen nur ein Ersatz war, doch so war die Lage nun einmal und wir wussten es beide.

Reed sah mich einen Augenblick einfach nur an von meiner Frage, schien ernsthaft darüber nachzudenken, ehe er leicht seufzte. „In dem Moment habe ich mich kurz in eine andere Zeit zurückversetzt gefühlt, es hat etwas in mir wieder aufwecken lassen und dann warst da du und... es tut mir leid", sagte er und ich musste eigentlich nicht mehr wissen. Vermutlich hatte Daisy recht mit ihrer Vermutung, aber ich würde ihn nicht zwingen, darüber zu reden, war dennoch verletzt darüber, dass ich nichts als ein Mädchen für ihn war, das eben gerade im Moment da gewesen ist.

„Ist egal, wirklich", versicherte ich ihm, Reed schüttelte jedoch hektisch den Kopf. „Nein, ist es nicht! Du... ich habe eine sehr lange Zeit niemanden an mich herangelassen und wegen dieser ganze Partnersache ist es unmöglich dich wie alle anderen auch auszugrenzen, ich bin irgendwie für dich verantwortlich und es nervt, um ehrlich zu sein." Wow, richtig charmant. „Aber ich ziehe es durch, auch wenn es verwirrend ist, wenn du verwirrend bist, du mein Leben ziemlich ins Chaos stürzt, aber ich sollte dennoch nicht meine Probleme und alles auf dich abwälzen. Hayden, der nie einen Partner vorher hatte und sich aus Beziehungen irgendeiner Art nie viel machte, hat sich geändert und Stärke bewiesen, als Daisy ins Spiel kam, also werde ich das auch schaffen."

„Ist schon gut", besänftigte ich ihn, da er recht aufgebracht wirkte. „Ich weiß, dass es nicht leicht ist und ich bin dankbar, dass du überhaupt bei allem mitmachst, obwohl du es nicht müsstest, und falls du vergessen hast, habe ich dein Inneres gesehen bei der Zeremonie, ich verstehe dich also sehr gut, es ist also ok."

„Danke", meinte er lächelnd, schien erleichtert zu sein, dass ich ihm verzeihe und die Sache geklärt war. „Ich sollte dann aber wohl wieder gehen und euch in Ruhe lassen."

„Ja, vermutlich", meinte ich, glaubte meine Familie würde das nicht länger gutheißen und am Ende würde mein Vater einer seiner alten Jagdgewehre herausholen und ihn damit aus dem Haus jagen. Das wollte ich wirklich vermeiden, auch wenn ich froh über seine Anwesenheit war. Ich erschauderte, als er an mir vorbeilief zur Türe, wo er jedoch innehielt und sich nochmal zu mir drehte. „Du bist übrigens überhaupt nicht wie sie", sagte er und irritiert sah ich ihn an. Wen meinte er bitte? „Malia. Ihr seht euch ähnlich, aber du bist ganz anders als sie, also ignoriere die Vergleiche." Mit den Worten verließ er das Zimmer und schloss die Türe hinter sich, so dass ich nur verblüfft diese ansehen konnte.

Der Vergleich war überraschend, nett, aber überraschend. Es war so unerwartet gekommen und es war seltsam zu wissen, dass er meine Cousine gekannt hatte, dass sie ihn gekannt hatte und ich fragte mich, wie viel er über das, was gewesen war, wusste, ob Kellin ihm etwas von dem, was ich in Malias Tagebuch gelesen hatte, berichtet hatte oder nicht, doch ich würde ihn nicht fragen, das alles war schon seltsam genug.

Wir zwei hatten das hier nun immerhin geklärt und es war ein gutes Gefühl die Sache aus der Welt geschaffen zu haben, gleichzeitig war es aber auch verletzend nun offiziell zu wissen, wie die Lage aussah, wie anstrengend das noch werden würde mit uns. Seufzend von dem Chaos, ließ ich mich aufs Bett hinab, sah die Decke über mir an und fragte mich, ob das alles ein kosmischer Scherz war, wieso ausgerechnet ich so in der Mitte dieses Dramas stand. Irgendwen traf es wohl immer und hierbei war ich die Unglückliche.


Wörter: 4108

Aloha :)  Ich hoffe es hat euch gefallen, würde mich sehr über eure Meinung freuen. Morgen geht es weiter und kleine Warnung vorweg, es wird kein normales Kapitel werden sondern ein längerer Tagebuchauszug von Malia, der wichtig für die Geschichte später sein wird xx

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