2. Reed

"Some things scratch the surface while others strike at your soul." ― Gianna Perada

Unten im Haus war nun meine gesamte Familie versammelt, wo diese laut und ganz durcheinander miteinander sprachen, sich wohl alles erzählten, was man voneinander seit dem letzten Treffen verpasst hatte. Jeder von ihnen, abgesehen von Dari, war hier. Dieser hatte es sich wohl etwas zu gemütlich auf seinem Zimmer gemacht. Ich verstand ihn ja. Wir waren den ganzen Tag unterwegs gewesen, ich wollte auch lieber meine Ruhe haben, doch bevor mein Verhalten als unhöflich gesehen wurde von Lilien und ich ihr nächstes Opfer sein würde, zog ich das hier durch.

Mein Großvater war wach und unterhielt sich lachend mit meinem Vater. Meine Mutter, Tante und Großmutter saßen allesamt beisammen ebenfalls im Wohnzimmer, unterhielten sich zu Kaffee und den leckeren Keksen meiner Oma ausgiebig über den ganzen Umzug so wie es klang. Ich war nicht in der Stimmung, über den Umzug zu sprechen, war viel zu schlecht gelaunt, besonders wenn man mich weiter aus allem heraushalten wollte wie ein kleines Kind. Ich war 18, rechtlich gesehen erwachsen und auch wenn ich sicher noch viel zu lernen hatte, wäre ich doch wohl alt genug, um nicht mehr aus allem herausgehalten zu werden wie ein Baby.

Mein Blick fiel auf meinen Cousin Cameron, als ich das Zimmer betrat, der alle Koffer in der Eingangshalle abgestellt hatte und gerade dabei war, aus einer der alten und recht antik wirkenden Schränke eine Flasche Cognac herauszuholen.

„Alice, wo ist denn dein Bruder?", fragte meine Mutter, als sie mich am Türrahmen stehen sah und unsicher lief ich auf die Gruppe Frauen bei der Sitzecke zu, da die Männer es sich in einer zweiten Sitzecke am anderen Ende des Raums gemütlich gemacht hatten. Ich sagte ja, es sieht hier eher aus wie ein Salon als wie ein Wohnzimmer. Es gab nicht einmal einen Fernseher hier. Wie sollte man ohne Fernseher leben? Ich sah zwar meistens Filme auf meinem Laptop, doch gehörte ein Fernseher nicht doch irgendwie zum Leben dazu?

„Ich denke, er will seine Ruhe", antwortete ich und setzte mich neben meine Mum, griff nach einer der Kekse, hatte zu viel Hunger, um widerstehen zu können, und meine guten Erinnerungen an die Backkünste meiner Großmutter wurden nicht enttäuscht. Sie war immer noch die Beste.

„Ja, es war eine lange Reise", sagte meine Großmutter verständnisvoll, trank ihren Kaffee. „Wie ergeht es dir denn mit der ganzen neuen Situation? Es muss sehr verwirrend für dich sein umzuziehen und ein neues Leben fast schon anzufangen." Ja, es war schrecklich, doch ich hatte endlose Diskussionen mit meinen Eltern geführt darüber, wie unfair das alles doch war, dass ich 18 war, sie mich nicht zwingen konnten mitzugehen, nur leider hatten sie recht damit, dass ich nicht fertig mit der Schule war, kein eigenes Geld verdiente und kaum allein zurückbleiben konnte. Elin hatte zwar angeboten, dass ich zu ihr kann, nur leider war bei ihr kaum Platz und ich wollte mich nicht ihrer armen Familie so aufzwängen, so dass ich nun hier saß, das überstehen müsste. Es wäre nur ein Jahr. In einem Jahr wäre ich fertig mit der Schule und danach könnte ich zum Studieren weg, könnte wieder zurück, in einem Studentenheim leben. Ja, ein Jahr. Ich würde ein Jahr überleben.

„Es ist ok", antwortete ich schließlich. „Sehr stressig und ich habe keine Lust auf eine neue Schule, aber ich überlebe es."

„Ach, die Schule ist wundervoll", sagte Lilien und seufzte theatralisch. „Du und dein Bruder geht nicht auf irgendeine Schule, sondern auf eine private Schule für Londons Elite."

„Londons Elite?", fragte ich, verzog das Gesicht von der Info, doch das war mir neu. Ich wurde auf eine Schule für Reiche geschickt? Woher hatten meine Eltern bitte das Geld? Wir hatten einen Umzug, ein neues Haus zu bezahlen und dann blieb da noch Geld für eine private Schule? Kosteten diese nicht ein halbes Vermögen im Monat?

„Jeder in der Familie deines Vaters war auf ihr, sie soll sehr fördernd sein", erklärte meine Mutter mir, der es wohl offen missfiel, dass Lilien das überhaupt erwähnen musste, ihre Kaffeetasse gefährlich umgriff.

„Ist das nicht furchtbar teuer?", fragte ich und sah sie an, doch meine Eltern hatten meine Brüder und mich immer sehr bescheiden erzogen. Wir hatten nie das Teuerste bekommen, wurden nie verwöhnt, hatten ein normales Leben eben gehabt und nun wurde ich in irgendeine Reichenschule gesteckt? Das klang nicht normal. Das klang so untypisch für die beiden. Wieso sollen sie das tun, wenn eine normale Schule uns genau dasselbe bringen würde? Diese Elite-Schule würde meine Mathenote sicher auch nicht retten können.

„Wir haben ein paar Kontakte, die das alles ermöglichen, sei unbesorgt, Alice", sagte meine Mutter, wollte das Thema eindeutig vom Tisch wischen, doch für mich machte es das alles nur noch schwerer. Was für Leute gingen denn auf so eine Schule? Sicher nur reiche, verwöhnte Zicken; Jungs, die alle Daddys Mercedes fahren durften; Menschen, die den Wert von Geld nicht kannten. Ich würde daneben doch untergehen. Ich war nicht für so eine oberflächliche Welt geschaffen. Die Leute an dieser Schule würden mich zum Frühstück verspeisen. Ein Blick auf meine normale Schultasche, meine ungestylten Haare und meinem nicht vorhandenen Auto und ich wäre für die alle gestorben. Ich wusste, wie so etwas ablief, mochte vielleicht sehr von Vorurteilen hierbei eingenommen sein, doch die Reichen an meiner normalen, alten Schule waren schon schlimm genug gewesen. Eine ganze Schule von denen klang nach einem wahrgewordenen Albtraum.

„Ist es ok, wenn ich draußen etwas spazieren gehe vor dem Essen?", fragte ich, wollte meinen Kopf etwas frei kriegen dürfen, mir die Beine vertreten. Ich hatte Angst, dass wenn ich länger hierbleibe, ich vor Panik noch völlig abschweife, wollte nur kurz Ruhe haben dürfen und diese neue Information irgendwie verarbeiten. Ich wusste nicht, wie man jemals so etwas verarbeiten sollte.

„Aber brauch nicht zu lange, in einer Stunde ist es fertig", sagte meine Großmutter und ich nickte lächelnd, stand wieder auf und sah zu den Männern, wo mir auffiel, dass Cameron mich anstarrte, er nachdenklich dabei wirkte, mich in gewisser Weise musterte, als ob er versuchen würde irgendwas Bestimmtes in mir zu erkennen. Was nur sein Problem mit mir war? Eine weitere Sache zum Kopf zerbrechen.

Ich seufzte leise, lief aus dem Salon raus zu einer meiner Koffer in der Eingangshalle, wo ich eine Jeansjacke herauszog, sie mir überzog, meine Vans wieder anzog und das Haus schon verließ, mich gleich viel freier so fernab von all den Leuten in diesem Haus fühlte.

Ich war dankbar für den frischen Wind, der es schaffte mich etwas aufatmen zu lassen, doch die Sorge über die Schule und das ganze kommende Jahr konnte ich dennoch nicht einfach abschütten. Elite Schule. Wenn Elin das hört, wird sie denken, meine Familie hätte endgültig den Verstand verloren, doch wenn ich ehrlich war, glaubte ich nichts anderes. Was war nur plötzlich los mit meinen Eltern? Das klang alles so untypisch, war fast schon beängstigend.

Es wurde langsam dunkel, doch noch hätte ich Zeit, bis ich wieder zurückmusste, lief weiter meine Nachbarschaft erkunden, wo alle Häuser gewaltig und pompös wirkten. Im Grunde wohnte ich bereits in irgendeiner Elite Gegend, vermutlich wohnte meine halbe Schule hier in der Straße, dann dürfte ich sie alle von nun an ständig sehen. Einfach großartig.

Da mir die ganze großen und luxuriösen Häuser auf Dauer nicht gefielen, verließ ich die Nachbarschaft. Offenbar lag das Haus meiner Großeltern weiter abseits der Großstadt, als es mir anfangs wirklich aufgefallen war, doch ich lief Minuten, ohne etwas von dem lauten und belebten London mitzubekommen, bis ich überhaupt eine Bushaltestelle oder gar eine U-Bahn-Station sichten konnte, doch na klar, reiche Leute fuhren nicht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, brauchten so etwas doch nicht.

Langsam näherte ich mich jedoch den etwas belebteren Teilen meiner neuen Heimat, wo die Häuser anfingen kleiner, unauffälliger zu werden, es lauter wurde und obwohl es hier echt schön aussah mit dem Licht der gerade am Horizont verschwindenden Sonne, den angehenden Straßenlaternen, den Neonschildern der Bars und Cafés, an denen ich vorbeilief, so konnte ich das alles nicht wirklich wahrnehmen. Ich konnte es nicht wirklich genießen, zu bekümmert war ich über meine derzeitige Lage, doch ich versuchte dennoch aufmerksam zu sein, schließlich war ich nicht in meiner alten Heimat, wo ich wusste, dass es ein friedlicher Ort war. Das hier war eine Großstadt, eine gigantische Großstadt, eine Stadt mit Millionen von Einwohnern und ich lief geradewegs durch irgendein Viertel, in dem Leute meines Alters sich wohl gerne aufhielten, zumindest sah ich immer öfters solche Gruppen an mir vorbeilaufen. Ich sah, wie sie zusammen vor einem Kino standen, lachend an einer Bushaltestelle warteten, in die verschiedenen Bars ein und ausgingen. War es nicht etwas zu früh zum Trinken? Na gut, es war der letzte Tag, an dem man wohl noch so unbeschwert ausgehen könnte, bevor die Schule übermorgen starten würde. Sie nutzten das wohl vermutlich aus.

Neidisch sah ich den glücklichen Leuten zu, wie sie zusammen waren, Spaß hatten, vermisste Elin schrecklich und fragte mich, wie einsam die kommenden Wochen und Monate wohl werden würden?

„Oh du verdammte scheiße." Erschrocken blieb ich stehen, als ein Typ sich mir einfach in den Weg stellte, mich aus großen Augen ansah, mir sofort seine Fahne entgegenschlug. Ich rümpfte angewidert die Nase, taumelte verschreckt von seinem Auftauchen zurück.

„Du... du... oh scheiße", stammelte der Mann und verwirrt sah ich ihn von seinen unklaren Worten an, verstand nicht, was er da von sich gab, doch er war eindeutig betrunken und von Betrunkenen konnte man nicht viel erwarten. Er wirkte auf mich eigentlich nicht wie eine ernsthafte Bedrohung, auch wenn ich immer sehr vorsichtig bei fremden Männern war, vor allem nachts, vor allem wenn sie getrunken hatten, doch er schien kaum älter als ich zu sein, wirkte eher erstaunt als aggressiv.

„Kann ich dir helfen?", fragte ich überfordert von der Situation, sah mich unsicher um, vielleicht waren seine Freunde ja in der Nähe, doch niemand schien uns wirklich zu beachten. Wunderbar.

„Du bist es, nicht wahr? Ich... wow", sagte er weiterhin nicht hilfreich, griff dabei nach meinem Arm und instinktiv riss ich mich von ihm los, würde nicht weiter hierbleiben und abwarten, was mit ihm los war. Alle Alarmsignale in mir waren angesprungen von dieser Berührung. Ich wollte nur noch weg, mich sicher nicht weiter von ihm irgendwo anfassen lassen, doch als ob er es ahnen würde, griff er erneut nach mir, schien mich stoppen zu wollen, auch wenn selbst dieser Versuch eher verzweifelt von seiner Seite aus wirkte, weniger bedrohlich. Ich handelte dennoch instinktiv, tat das, was meine Eltern mir Jahre über Jahre eingetrichtert hatten, wie ich mich zu verhalten hatte in so einer Situation, zog mein Knie mit aller Kraft hoch, direkt in seine Kronjuwelen hinauf. Augenblicklich ließ er mich los und ich wartete nicht weiter darauf, was für einen Schaden ich angerichtet hatte, rannte los.

„Warte!", rief er mir nach. Sicher würde ich nicht anhalten. Ich lief einfach nur, als ob der Teufel persönlich hinter mir her wäre, ignorierte, wie verwirrt die Leute um mich herum zu mir sahen. Sollten sie doch denken, was sie wollten, ich würde keinen von denen je wiedersehen, nicht in so einer Stadt.

Ich drehte mich im Rennen um, wollte sichergehen, dass ich einen guten Vorsprung hatte, er mir nicht bereits dicht auf den Fersen war, aber natürlich musste mir das noch zum Verhängnis werden, als ich kurzerhand gegen eine Wand knallte. Ich schrie erschrocken auf von dem Zusammenstoß, fiel beinahe rückwärts zu Boden, ehe die Wand nach meiner Hand griff, mich festhielt, ich so benommen erst realisierte, dass das keine Wand vor mir gewesen war, das viel zu lebendig für eine Wand war, denn diese hielten einen in der Regel nicht fest.

„Was ist dein fucking Problem?", fluchte der große Typ vor mir, der mich davor bewahrt hatte, Kontakt mit dem Boden zu machen, und mit großen Augen sah ich ihn erstarrt an, glaubte meine Hand in seiner würde wie nach einem Stromschlag kribbeln, mein Körper unter Feuer setzen, irgendwas tief in mir drinnen zu Leben erwecken. Ich sah ihn an und glaubte kurz meine Welt würde sich drehen. Das Atmen fiel mir leichter, ich blendete alles andere außer ihn aus, fühlte mich seltsam benommen. Er war größer als ich, war komplett schwarz gekleidet und seine Augen sahen mich nicht gerade freundlich an, doch das hinderte mich nicht daran, ihn weiter ganz sprachlos anzusehen, denn er hatte etwas eigenartig Vertrautes an sich. Kannte ich ihn? Ich bezweifelte es eigentlich sehr, dennoch wurde ich das Gefühl nicht los ihn zu kennen.

„Immer so freundlich, Reed", lachte ein weiterer Kerl und erst da nahm ich die beiden anderen Jungs an der Seite von diesem Reed wahr. Beide waren sie auch sehr groß, genauso muskulös gebaut, sahen anders als Reed jedoch nicht finster und genervt drein, eher amüsiert, auch wenn ihre Ausstrahlung dennoch eine gewisse Gefahr beinhielt.

„Du hast dem armen Mäuschen die Sprache geraubt", lachte der Junge neben Reed, der eine dunkle Haut hatte, dazu im Kontrast stehend strahlend helle blaue Augen und ein sympathisches, weißes Lächeln. Trotz seiner freundlichen Ausstrahlung konnte ich mich nicht lockern oder gar entspannen, war zu überfordert von der ganzen Lage. Da entkam ich einem Typen und landete in den Armen von drei weiteren. Klasse Leistung Alice. Du wirst in dieser Stadt noch sowas von den Tod finden mit diesem Talent.

„Dann soll sie nicht wie ein Verrückte gegen mich rennen", fluchte dieser Reed weiter genervt, wandte sich von mir ab, lehnte sich an die Wand neben sich und zündete sich eine Zigarette an. Was ein Klischee. Der fiese, gutaussehende Arsch war Raucher, war ja klar gewesen.

„Aber hübsch ist sie ja, hab' sie noch nie zuvor an unserer Schule gesehen", sagte nun der Dritte im Bunde, der blonde Haare hatte, mehrere Piercings im Gesicht gestochen hatte und dessen Körper wohl ziemlich tätowiert war, zumindest sah ich auf dem ersten Blick so einige bunte Bilder an seinem Hals und seinen freien Armen. Zusammen ergaben die drei ein eigenartiges Bild. Der Tätowierte, der Sonnyboy und Mr. Arschloch. Nette Kombination. Wie die furchtbarste Boygroup aller Zeiten.

„Schon mal daran gedacht, dass es viele Schulen hier gibt, du Idiot?", fragte der Sonnyboy amüsiert und ich sah überfordert zwischen den drei Jungs hin und her. Wie war ich nur hier hineingeraten? Ich musste gehen, musste nach Hause, doch es schien mir irgendwie nicht möglich zu sein meine Beine zu bewegen oder gar den Mund zu öffnen. Ich kam mir seltsam erstarrt vor, fast als ob die Erdanziehungskraft an diesem Punkt hier stärker wirken würde als irgendwo sonst und ungewöhnlich oft viel mein Blick auf Reed, der mich keines Blickes mehr würdigte, auch nicht seine beiden Kumpels jedoch wirklich zu beachten schien, viel lieber die Umgebung ansah, als ob ihn rein gar nichts wirklich bekümmern würde. Wieso hatte ich gedacht, ihn zu kennen? Ich sah ihn an und konnte mir nicht im Entferntesten vorstellen, jemanden wie ihn zu kennen. Er wirkte nicht wie jemand, mit dem ich je Kontakt haben würde. Er wirkte gefährlich, gemein und wie die Unfreundlichkeit in Person, nein, das war nicht meine Welt. Ich stand nicht auf die Badboys, wollte nicht mit ihnen befreundet sein, hatte wahrlich nicht die Nerven für ihre ätzenden Launen und ihre schreckliche Arroganz.

„Wenn du ein Foto machst, kannst du es länger anstarren", sagte Reed und überrumpelte mich mit ein wenig. Oh, ich war wirklich peinlich. Knallrot lief ich ihn, rang nach Worten.

„I-ich will kein Foto", sagte ich verlegen und leider nicht annähernd so standhaft wie ich es wollte. Wieso brachte dieser Typ mich so aus der Fassung? Er war nur ein Kerl, ein gemeiner Kerl, doch das war gerade nebensächlich.

„Dann starr mich nicht an, als ob ich dir gerade dein Taschengeld geklaut hätte", sagte er, sah nun zu mir und ich fühlte mich nur noch kleiner unter seinen Blicken. Ich bekam eine Gänsehaut von der Art, wie er mich musterte, wie sein Blick über meinen Körper glitt. An meinem Gesicht verharrte er länger, kniff die Augen leicht zusammen, fast als ob er sich wie ich auch überlegen müsste, ob wir uns nicht doch kannten, doch dann ertönte die Stimme einer seiner Freunde und er sah wieder weg, widmete sich lieber weiter seiner Zigarette.

„Lass dich von Reed nicht verunsichern. Er ist wie ein Schaf im Wolfspelz", lachte der Tätowierte von meinem verschreckten Gesichtsausdruck.

„Oder eher der Wolf im Schafspelz. Er ist nicht so ruhig und brav wie du denkst", sagte der Sonnyboy genauso erheitert. „Wie ist nun aber überhaupt dein Name?" Ich sah unsicher zu den beiden anderen Jungs, wollte ihnen antworten, war sonst doch auch nicht so schnell eingeschüchtert und hilflos, doch mir schien es plötzlich unmöglich mich an meinen eigenen Namen gerade zu erinnern. Was stimmte bitte nicht mit mir? Wie konnte mich dieser kleine Zwischenfall so aus dem Konzept gebracht haben?

„Da bist du ja." Das Ertönen der Stimme hinter mir war es schließlich, das mich aus meiner Starre erwachen ließ. Mit geweiteten Augen drehte ich mich zu dem Betrunkenen von vorhin um, der mich doch nun eingeholt hatte, taumelte verängstigt sofort zurück gegen den Sonnyboy, der mich schon schützend hinter sich drückte, sich zusammen mit dem Tätowierten wie eine Wand sicher vor mich stellte. Augenblicklich schien die Stimmung hier sich verändert zu haben. Das Gelächter und die gute Laune waren weg, die zwei strahlten nun nichts als Kälte aus, wirkten richtig gefährlich, bedrohlich.

„Was zur fucking Hölle wird das, Colin?", fragte der Tätowierte um einiges kälter und harscher an den Betrunkenen, Colin, gerichtet, der wiederum entsetzt wirkte die Jungs zu sehen, sich von dem bloßen Erblicken dieser halb in die Hose zu machen schien. Er schien sie alle gar nicht wirklich wahrgenommen zu haben bis jetzt und wirkte ziemlich erschüttert.

„I-ich... ich wollte nur..."

„Dich an kleinen Mädchen vergreifen, du Wichsfresse?", fragte der Sonnyboy – oder wohl eher der ehemalige Sonnyboy – nun angewidert und so bedrohlich, dass ich eine Gänsehaut bekam. Oh Colin, mein Gefühl sagte mir, dass das nicht gut für dich enden wird und obwohl ich erleichtert war, dass er mir nicht zu nahekommen konnte, so wollte ich nicht unbedingt, dass diese Muskelpakete ihm alle Knochen brechen, und dazu wären sie eindeutig in der Lage. Schluckten die Kerle hier alle Anabolika oder woher hatten die diese Muskeln? In meiner Heimat waren Jungs in der Regel dürr gewesen, wie Stöckchen fast schon, sicher nicht so breit und muskulös.

„Nein! Nein, nein, nein, ich wollte nur... oh Gott, es tut mir leid, ich dachte nur sie wäre..."

„Sie wäre was?", fragte nun Reed, der sich bis dahin kein Stück für Colin oder die ganze Lage interessiert hatte, jedoch nun etwas aufgehorcht hatte. Interessiert sah er Colin an, schien wirklich wissen zu wollen, was dieser Verrückte von mir wollte, was er in mir sah.

„Oh fuck Reed", sagte Colin, als ob Reed der Teufel persönlich wäre und ich glaubte Tränen in seinen Augen funkeln zu sehen.

„Komm, sprich es aus, was ist mit dem Mädchen?"; fragte Reed, schnippte seine Zigarette zur Seite und Colin schien jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. Oh, das sah gar nicht gut aus.

„S-Sie, sie ist... ich habe keine Ahnung. Sie ist nur... ich bin betrunken", stammelte er ganz zusammenhangslos und Reed schnaubte trocken, verlor das Interesse an dem Jungen.

„Verzieh dich lieber ganz schnell und sorge dafür, dass du uns in der Schule nicht über den Weg läufst, würde nicht gut für dich enden", warnte der Tätowierte ihn und Colin ließ sich das nicht zweimal sagen, stolperte richtig davon und mein Herz raste wie verrückt von der ganzen Aktion, doch das war alles wilder geworden, als ich es je geahnt hatte. Ich hatte doch nur spazieren wollen und nicht mitten in einen halben Streetfight gelangen.

„Hat der Idiot dir irgendwas getan?", fragte der Sonnyboy nun wieder viel sanfter an mich gerichtet und ich schüttelte hektisch den Kopf, hörte da Reed genervt seufzen. „Können wir endlich gehen? Ihr habt sie gerettet, wunderbar. Ich werde sicher nicht noch mit euch auf die Suche nach der Mutter von der Kleinen gehen", sagte er gelangweilt und empört sah ich ihn an. Was dachte er denn, wie alt ich bitte war? Ich hatte nicht darum gebeten, gerettet zu werden, war dankbar, doch er hatte nicht einmal irgendwas getan, um sich nun so aufzuspielen, als ob ich seinen Abend ruiniert hätte.

„Ich muss los", schaffte ich es endlich hervorzubringen, wenn auch nur sehr brüchig, sah dabei nur Reed an, dessen Augen mich musterten, mir mal wieder eine Gänsehaut bereiteten und obwohl ein Teil von mir sich irgendwie wohl hier bei den Jungs fühlte, gern geblieben wäre, so war die Vernunft in mir größer. Die drei waren nicht besser als Colin. Sie waren fremd, gefährlich und in der Mehrzahl, ich musste weg, bevor sie am Ende irgendeine Bezahlung für ihre Heldentat einfordern wollten.

„Sie kann reden", lachte der Tätowierte erfreut, doch mehr hörte ich nicht mit. Ich rannte wieder los, weg von ihnen, diesem Viertel, rannte so lange, bis ich wieder in ruhigere Gegenden ankam, bis meine Seiten stachen und meine Lungen brannten. Oh du verflucht schreckliche Ausdauer. Wenn ich nicht irgendwann mit Sport anfange, wird es mir noch gewaltig in den Hintern treten, so ein fauler Kartoffelsack zu sein.

Ich atmete tief durch auf den letzten Metern zurück zum Haus, versuchte dieses Ereignis aus meinem Kopf zu löschen. Ja, die Jungs hatten mich gerettet und ich hätte vermutlich Danke sagen sollen, doch es war nun auch egal. Ich würde sie eh nie wiedersehen, hielt mich von nun an fern von dieser Gegend und alles war gut. Nur wieso bekam ich dann Reeds Augen nur so schwer aus meinem Kopf? Irgendwas an ihm ließ mich nicht los, hatte so vertraut gewirkt, so wohltuend. Es war eigenartig, doch für meinen ersten Tag hier in London war mir das alles etwas zu viel auf einmal. Nach dem Essen würde ich nur ins Bett wollen und alles abschalten, einfach vergessen.

Wörter: 3581

Aloha :) Ich hoffe euch hat das Kapitel gefallen nun, wo man Reed kennen gelernt hat. Ja, ja, ein kleines Klischee ist er bis jetzt in manchen Dingen, aber mal sehen, was sich noch so ergeben wird xx

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